Er ging nach Griechenland, um Flüchtlingen zu helfen. Doch jetzt türmen sich die Probleme beim Basler Bastian Seelhofer. Die Camps auf der Insel Chios sind überfüllt, grosse NGOs ziehen sich zurück – Seelhofers Bildungsprojekt droht das Ende.
Der Fokus hat sich verlagert: weg von Griechenland, in Richtung Mittelmeer und auf die Tausenden Flüchtlinge, die übers Meer nach Italien kommen und manchmal sterben. Die Flüchtlingskrise in Griechenland ist schon bald keine mehr, auf diese Deutung der Ereignisse jedenfalls scheint sich die grosse Politik geeinigt zu haben.
Vor zwei Wochen besuchte die fürs Asylwesen in der Schweiz zuständige Justizministerin Simonetta Sommaruga das Auffanglager Moria auf der Ägäisinsel Lesbos und hielt zufrieden fest, man habe jetzt einen Moment des Übergangs und der möglichen Normalisierung erreicht. Die Schweiz, versprach Sommaruga, werde bis Ende Jahr 600 Flüchtlinge im Rahmen des EU-Umverteilungsprogramms von Griechenland übernommen haben. Im Gegenzug erwartet sie, dass die Griechen in naher Zukunft den vereinbarten Pflichten nachkommen und Flüchtlinge zurücknehmen, die via Griechenland in andere EU-Staaten und die Schweiz gelangt sind.
«Die humanitäre Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag.»
Wir sind auf einem guten Weg, lautet das Narrativ von Sommaruga, einem Praxistest hält es nur bedingt stand. Der Basler Bastian Seelhofer stapft seit anderthalb Jahren durch die griechische Flüchtlingskrise und zeichnet ein anderes Bild der Lage. Im Herbst 2015, als täglich 2000 Flüchtlinge in Schlauchbooten die der Türkei vorgelagerten griechischen Ferieninseln erreichten, schritt er zur Tat, brach seine Zelte hier ab und baute sie auf Chios wieder auf.
Rund 50’000 Menschen leben auf Chios, dazu kommen derzeit rund 3800 Flüchtlinge, die zumeist aus den kriegsgeplagten Ländern Syrien, Irak und Afghanistan stammen und in zwei überfüllten Camps hausen. «Die humanitäre Situation verschlechtert sich von Tag zu Tag», sagt Seelhofer, der mit 30 Freiwilligen eine Primarschule, eine Sekundarschule und ein Jugendzentrum auf der Insel betreibt.
Camps überfüllt: Aus Platznot hausen zahlreiche Flüchtlinge auf Brachen oder am Strand auf der Ägäisinsel Chios. (Bild: Niels Franke)
Die Zahlen der Ankommenden sind wieder stark angestiegen in den letzten Monaten, auf bis zu 800 im Monat März. Die Camps sind überfüllt, die Bürokratie ist überfordert. Zahlreiche Familien mit kleinen Kindern würden derzeit am Strand oder in Parks übernachten, berichtet Seelhofer. Chios ist ein sogenannter Hotspot, ein Aufnahmelager, in dem alle Flüchtlinge erst für maximal 25 Tage inhaftiert werden und dann bis zum Abschluss ihres Verfahrens bleiben müssen. Danach werden sie aufs Festland transportiert oder zurück in die Türkei.
Auf die Frage, woran es im Moment am meisten fehlt, antwortet Seelhofer: «An Informationen für die Menschen, an klaren Ansagen und Perspektiven. Ebenfalls sind die Zustände in den Camps so miserabel, dass täglich Knappheit, Frustration und somit auch Gewalt mitspielen.»
Jeder Dritte beobachtet einen Suizidversuch
Eine vom britischen Qualitätsblatt «Independent» ausgewertete aktuelle Studie kam zum Schluss, dass jeder dritte auf Chios festgehaltene Flüchtling Zeuge eine Selbstmordversuchs geworden ist. 94 Prozent aller Frauen auf der Insel klagen seit ihrer Ankunft über psychische Probleme. 85 Prozent aller Bewohner sagen, sie fühlten sich nie oder nicht sicher auf Chios. Immer wieder kommt es zu Gewaltausbrüchen, in die oft die Polizei und griechische Neonazis involviert sind. Seelhofer wurde mehrfach Zeuge von Ausschreitungen.
Weil sich nun aber in der offiziellen Lesart alles stetig bessert, wird die Unterstützung gekappt. Bislang flossen Millionen Euros von der EU an NGOs, die auf Chios tätig sind, und die alle Aufgaben übernahmen, die der griechische Staat nicht leistete oder leisten konnte. Ab August fliessen sämtliche EU-Mittel direkt an den griechischen Staat, die grossen NGOs werden sich zurückziehen.
Jeder verfügbare Raum wird genutzt: Die eigentliche Ferieninsel Chios wird durch die Flüchtlingskrise stark belastet und erfährt zu wenig Unterstützung. (Bild: Niels Franke)
Für Seelhofer bedeutet das, dass er viel Geld auftreiben muss. Mit einem Crowdfunding will er die Mittel beschaffen, die bislang von der EU in seine Bildungsprogramme flossen. Seelhofers kleine Organisation Baas bietet über 300 Kindern und Jugendlichen grundlegende Bildung – und eine Auszeit von der hoffnungslosen, aggressiven Situation in den Camps. Doch die griechischen Behörden haben Seelhofer informiert, dass sie keine Bildungsangebote auf den Inseln unterstützen werden.
Seelhofer klingt entsprechend angespannt: «Es besteht die Gefahr, dass ein Bildungssystem für über 300 Kinder und Jugendliche aufgrund politischer Entscheide abgebrochen werden muss – und eine ganze Generation an wissbegierigen Kindern menschenverachtenden Lebensumständen ausgesetzt ist.»
Während die Flüchtlingszahlen zurückgehen und ein Modus gefunden wurde, die Krise abzuarbeiten – was SP-Justizministerin Sommuraga optimistisch stimmt –, könnte auf Chios in den kommenden Monaten alles noch schlimmer werden. «Wir können nur erahnen, auf welches Leid und Elend wir zusteuern», sagt Seelhofer besorgt.