In der Region Basel geht es bei der nächsten Abstimmung um sehr viel, in der Schweiz in den kommenden Monaten um alles oder nichts im Verhältnis zur EU. Und was tun die Politiker? Singen, Empfänge abhalten, aber ernsthaft miteinander reden nicht.
Wer sind wir? Mit wem wollen wir? Und mit wem lieber nicht? Es sind grosse Fragen, welche die Region Basel und auch die Schweiz in diesem und den nächsten Jahren beantworten müssen.
Die beiden Basel stimmen am 28. September über die Fusion ihrer Kantone ab. Danach geht es auf nationaler Ebene um alles oder nichts im Verhältnis zu Europa.
Noch stehen der Region Basel und der Schweiz viele Möglichkeiten offen. Nur den Politikern und Parteien ist schon alles klar. Die eigene Position, die des Gegners, das heilige Ziel: alles unverrückbar. Möglichst viele Stimmen auf seine Seite zu bringen, darum geht es jetzt – und nur noch um das.
So scheitern dringend nötige Debatten, noch bevor sie wirklich begonnen haben. Statt die Vor- und Nachteile einer Kantonsfusion von Baselland und Basel-Stadt vorsichtig zu prüfen, singen die Gegner alte Heimatlieder. Statt die vielen Möglichkeiten in der Zusammenarbeit mit Europa gemeinsam auszuloten, verharren die einen bei ihrem prinzipiellen Nein zur EU, während sich die anderen in ausschweifenden Erläuterungen verlieren.
Wie konsequent die beiden Blöcke aneinander vorbei politisieren, zeigen zwei Szenen aus dem Baselbiet der letzten Tage.
Ein Parlament mit leichtem Hang zum Absurden
Erster Schauplatz: der Landratssaal in Liestal. Das Mobiliar aus den 1970er-Jahren, an den Wänden noch sehr viel ältere Gemälde. Heroenkult aus der Zwischenkriegszeit: kräftige Bauern, fleissige Arbeiter, treu sorgende Mütter. Geleitet werden die Sitzungen von Landratspräsidentin Marianne Hollinger (FDP), die bei ihrem Amtsantritt Heugabeln verteilt hatte – eine kleine Reminiszenz an die «Aescher Wyber», die im Krieg gegen die Stadt anno 1833 eine entscheidende Rolle gespielt haben sollen.
Thema dieser Sitzung ist aber nicht die Trennung, sondern die Wiedervereinigung. Den ersten grossen Auftritt hat Dominik Straumann von der SVP. Der Mann steht auf und beginnt zu singen. Das «Baselbieter Lied». Nun erheben sich auch seine Parteikollegen, ein Grossteil der FDP-Fraktion und alle fünf Regierungsräte und stimmen mit ein. «Das Ländli isch so fründlig, wenn alles grüent und blüeht, drumm hei m’r au keis Land so lieb wie euses Baselbiet.» Und so weiter, vier Strophen Idylle. Damit sei zu diesem Thema alles gesagt, meint Straumann.
Etwas Substanzielles zu sagen haben sie also offenbar nicht, Straumann und seine Mitstreiter, reden wollen sie aber doch. Das tönt dann so: Basel-Stadt und Baselland passen einfach nicht zusammen, weil Basel weder Geld noch eine wirkliche Kultur habe, dafür überall dieser Abfall, schlimmer als Neapel, man könne das ja in der Zeitung lesen. Wie anders sei da das Baselbiet! Wenn sich die Städter da anhängen wollen, könnten sie ja ein Anschlussbegehren stellen.
Wie lässt sich noch mit Vernunft reagieren auf diese patriotischen Wallungen?
Ganz besonders patriotisch geben sich FDP-Fraktionschef Rolf Richterich und SVP-Präsident Oskar Kämpfer, der eine im Laufental geboren, als dieses noch bernisch war, der andere ein Walterswiler (ebenfalls BE), der seinen aktuellen Wohnort nicht richtig aussprechen könne, wie ein bekannter Basler Politiker kürzlich an einem Apéro süffisant bemerkte (Kämpfer sagt «Therwil», korrekt wäre: «Därwell»).
Das ist selbstverständlich ein etwas kurioser Vorwurf. Aber wie lässt sich noch mit Vernunft reagieren, auf diese patriotischen Wallungen? Auf Landräte, die lieber singen als reden? Überhaupt auf diese Baselbieter Hymne, die zwar nett klingt, aber vom Inhalt her kaum etwas mit der Realität zu tun hat – und das auch noch nie hatte?
Das Baselbieter Lied ist ein Sehnsuchtslied, gedichtet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Wilhelm Senn, einem Heimwehbaselbieter, der in der Stadt arbeitete und lebte. Abends traf er sich mit anderen Heimwehbaselbietern im «Baselbieter Chränzli», um die verlorene Heimat zu besingen, dieses Ländli, so schön, so lustig und so frei, wie es nur in der Phantasie möglich ist.
Den SVPlern und FDPlern ist das egal. Weil sie wissen, dass Politik, reduziert aufs Maximum, immer funktioniert, sobald die Botschaften gut genug klingen. Oder, fast noch besser: wenn sie abschreckend wirken. Für unsere Heimat, euses schöne Baselbiet. Und gegen die Städter, die sich selbst von ein paar Wybern auf die Heugabeln spiessen lassen. Also drischt man auf sie ein, im Landrat, heute im Jahr 2014, fast so wie damals bei der Trennung 1832/33 auf dem Schlachtfeld.
Die Regierenden treffen sich auf dem Schloss
Zum zweiten Schauplatz. Dorthin, wo Geschichte möglichst Geschichte bleiben soll, wo die Hauptdarsteller die Zukunft gestalten wollen. Zum «Ebenrain» in Sissach, einem Schloss, das alles hat, was ein Schloss haben muss. Repräsentative Säle, spezielle Trakte fürs Personal, einen französischen Park und angeblich sogar ein Gespenst.
Die nicht zur Ruhe kommende Seele ist die des zweiten Schlossbesitzers, der im damaligen Holländisch-Guyana zuerst einer Sklavin ein Kind machte, dann eine Mulattin heiratete, zurück in die Schweiz flüchtete, hier seine zweite Frau heiratete und sich schliesslich, als alles aufflog, das Leben nahm. Heute wird sein Gut, das als schönster Barock-Landsitz weit und breit gilt, gerne für Empfänge genutzt.
An diesem 3. Juli 2014 ist Winfried Kretschmann zu Gast, der Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Der Grüne hatte schon bald nach seiner Wahl 2011 einen Höflichkeitsbesuch in der Schweiz angekündigt. Jetzt ist er endlich da – aber nicht nur, um mit den Nachbarn ein paar Nettigkeiten auszutauschen.
Seit dem 9. Februar und dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative in der Schweiz gibt es einen drängenden Grund für ein Treffen: die rund 50’000 Grenzgänger aus Baden, die in der Schweiz arbeiten. Von den beschlossenen Einschränkungen werden auch sie betroffen sein, so viel steht nach der Abstimmung fest. Unklar ist nur noch, in welchem Masse. Das muss nun ausgehandelt werden.
Kretschmann wird beim Thema «Schweiz» deutlicher, als man sich das von Staatsgästen gewohnt ist.
Das Ja zur Einwanderungsinitiative werde der Schweiz nicht gut tun, sagt Kretschmann beim Kaffee im Schloss vor der regierungsrätlichen Delegation der beiden Basel, vor Journalisten und dem eigenen Gefolge, bestehend aus dem deutschen Botschafter, der Freiburger Regierungspräsidentin, Sicherheitsleuten, Beratern und Chauffeuren.
Kretschmann wird beim Thema «Schweiz» deutlicher, als man sich das von Staatsgästen gewohnt ist. Trotzdem wirkt er immer recht freundlich, allein schon wegen seinem Schwäbisch. Und dann hat Kretschmann auch noch die Fähigkeit, Kritik mit Lob zu verbinden und sie so in ein zukunftstaugliches Modell zu verwandeln.
Eigentlich, sagt Kretschmann, müsste die Schweiz mit ihrer langen demokratischen Tradition und ihrem gut funktionierenden Föderalismus, ihrer kulturellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt doch ein Vorbild für Europa sein, eine «Blaupause». Dafür brauche es Offenheit. «Wir dürfen keine Mauern hochziehen, sondern müssen eine Willkommenskultur pflegen. Etwas anderes können wir uns in all diesen globalen Verflechtungen gar nicht mehr leisten», sagt er.
«Die Regionen und Nationen brauchen die EU, um ihre Identität zu wahren.»
Das Globale und das Regionale ist auch so ein Gegensatz, den Kretschmann gerne zu einem schönen, grossen Ganzen verbindet: «Natürlich gibt es diese Angst um den Verlust der eigenen Identität. Ich bin aber überzeugt, dass sich die Regionen und Nationalstaaten ihre Identität nur wahren können, wenn sie sich unter dem subsidiären Dach eines starken Europas vereinen können.» Sonst würden sie sich dem globalen Wettbewerb ausliefern, der die Identität noch «sehr viel schneller abschleife».
Schliesslich weist Kretschmann wie vor ihm schon der Baselbieter Regierungspräsident Isaac Reber darauf hin, welch positive Ansätze es doch gerade im «Trimetropolitanraum» rund um Basel, Strassburg und Freiburg gebe. Die neue Strassenbahn von Basel nach Weil am Rhein, die gemeinsamen Gremien mit Vertretern aus der Schweiz, aus Frankreich und Deutschland, die Kooperation der Hochschulen mit dem Ziel, eine «Exzellenzregion der Wissenschaft» zu schaffen. «Diese Zusammenarbeit müssen wir noch weiter vertiefen. Das ist das Gebot der Stunde im zusammenwachsenden Europa.»
Winfried Kretschmann – mal ehrlich, mal politisch
«Herr Kretschmann, kommen Ihre Botschaften in der Schweiz an?», fragen wir ihn beim Interview, zwischen Kaffee, Arbeitssitzung mit der Delegation der beiden Basel, Apéro und Mittagessen, alles im Schloss.
Der Ministerpräsident gibt eine ehrliche Antwort. Er rede ja vor allem mit Vertretern der Exekutive, die selbst gegen die Einwanderungsinitiative gewesen seien. Entsprechend gross sei jetzt ihr Verständnis für die Sorge Baden-Württembergs um die Grenzgänger.
Herr Kretschmann, kann es nicht vielleicht sein, dass Sie mit den falschen Leuten reden? Wäre es nicht wichtiger, die Gegner zu überzeugen?
«Wir können nur noch versuchen, das Beste aus der Situation herauszuholen.»
Nun gibt der Ministerpräsident eine ehrliche und eine politische Antwort. Die ehrliche lautet: Doch, schon klar. Dann folgt die politische: Die Entscheidung sei ja bereits gefallen, nun müsse er sich an die Regierungsvertreter halten und versuchen, gemeinsam noch das Beste aus der Situation herauszuholen.
Das ist korrekt. Solange die einen ihre schönen Visionen aber nur im geschützten Rahmen eines vornehmen Ambientes austauschen, während die anderen ihre einfachen Botschaften verkünden, ist die Gefahr für Kretschmann gross, dass er in den nächsten Jahren häufiger in die Schweiz kommen muss. Wegen Problemen, die Mal für Mal grösser werden.
Was tun, wenn mit der Personenfreizügigkeit Schluss ist? Was, wenn die Bilateralen Verträge gekündet werden, das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU scheitert?
Kretschmann sähe die Schweiz selbstverständlich am liebsten in der EU. Noch gäbe es aber auch ganz viele Zwischenlösungen.
Unten gegen oben, links gegen rechts, Land gegen Stadt
Doch für die Behörden ist es in der Schweiz ganz generell schwierig geworden, Kompromisse zu finden und diese auch durchzusetzen. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls der VOX-Trendbericht zu den Jahren 2002–2013. Darin stellt das Meinungsforschungsinstitut gfs fest, dass die Polarisierung in der Politik tendenziell zugenommen hat – und damit auch das Misstrauen gegenüber den Behörden. Das zeige sich vor allem bei Vorlagen, denen eine hohe nationale Bedeutung zugeschrieben wird. Das heisst: bei allen Vorlagen mit einem Zusammenhang zu Europa.
Eine Überraschung sei das nicht, schreibt das gfs. Politikwissenschaftler wie der Deutsch-Amerikaner Herbert Kitschelt hätten bereits vor 20 Jahren vorausgesagt, wie gegensätzlich die Bürgerinnen und Bürger auf die Globalisierung reagieren würden. Die einen verunsichert und ablehnend, die anderen betont weltoffen. Die einen, das sind die finanziell eher schlecht gestellten und die Stimmbürger in den ländlichen Gebieten, die anderen die eher gut Gebildeten und gut Verdienenden in den Städten.
Unten gegen oben, simpel gegen abgehoben, nationalkonservativ gegen linksliberal, gegen gegen gegen, unnachgiebig, unvereinbar, auch weil die Widersprüche in den Medien systematisch akzentuiert werden. Gerade in der Region Basel, wo die «Basler Zeitung» von Christoph Blocher es sich zum Ziel gemacht hat, «die Politik aus den Angeln zu heben», was einige Städter derart empört, dass sie Symposien über die teilweise doch eher etwas kuriose Berichterstattung der BaZ abhalten und ein noch junges Medium wie die TagesWoche fast wie logisch zur anderen Seite des politischen Spektrums tendiert. Ob Basel nur so zu retten ist, wie die BaZ-Kritiker glauben?
Man kann ja noch hoffen, dass die Zukunft der Region auch noch von anderen Fragen abhängt. Das Problem ist allerdings, dass die Debatten nicht nur dann ideologisch werden, wenn es um die Kantonszugehörigkeit geht, um die Schweiz oder Europa.
Aus Prinzip dagegen
Im Baselbiet lehnt der bürgerlich dominierte Landrat nur schon aus Prinzip alles ab, was aus der Bildungsdirektion kommt, weil sie in dem Bereich inzwischen gegen jeglichen Reformversuch ist (Vorwurf: «Kuschelpädagogik»). Und gegen den zuständigen Regierungsrat Urs Wüthrich (SP!) erst recht.
In der Stadt wiederum streitet das Parlament seit Monaten über ein neues Verkehrskonzept, als ginge es dabei um den Grundsatz: Auto ja oder nein – und nicht um die eigentlich ganz banale Frage, welche Strasse eher für den Privatverkehr und welche eher für die Menschen da sein sollte.
Spannungen im Baselbieter Freisinn
Selbstverständlich gibt es auch Politiker, die sich dieser Logik entziehen. Der freisinnige Balz Stückelberger ist so einer. In der ersten Landratsdebatte stimmte er als Einziger in seiner Fraktion für die Fusionsinitiative. Weil es ihm wichtig sei, dass zumindest geprüft werde, welche Chancen eine Wiedervereinigung bieten würde. «Ich denke wirtschaftlich und will eine dynamische Region, keinen Stillstand», sagte er in der Debatte. In der zweiten schwieg er und schämte sich. Das war die Stunde der baselbiettreuen Ideologen.
Das Liberale Manifest der Arlesheimer FDP liest sich wie ein Gegenprogramm zur Politik der Landratsfraktion.
Ganz allein steht Stückelberger in seiner Partei trotzdem nicht da. Im Frühjahr hat seine Arlesheimer Ortspartei ein «Liberales Manifest» verabschiedet, das sich wie ein Gegenprogramm zur Politik der eigenen Landratsfraktion liest. Wider die gesellschaftliche Erstarrung, für Freiheit und Offenheit. Darum begrüsst die Arlesheimer FDP auch die «Diskussion über die Prüfung einer Kooperation oder Fusion zwischen den beiden Basel sowie der Stärkung der Region Nordwestschweiz», wie es in dem Manifest heisst (auf der Rückseite dieses Artikels ist der gesamte Wortlaut zu finden).
Neu sind solche Auseinandersetzungen im Baselbieter Freisinn nicht. Emil Frey, der seine politische Karriere im amerikanischen Sezessionskrieg gleich als Freiheitsheld startete, später Regierungsrat, Journalist und Bundesrat wurde, dieser Tausendsassa überwarf sich 1905 mit der Spitze der alten und seiner Ansicht nach verkrusteten Baselbieter FDP. Er und seine Mitstreiter gründeten eine neue Partei, und die alte war bald einmal vergessen – ganz im Gegensatz zu Freys sozialreformerischen Ideen.
Das Volk – hin und her gerissen
Offenheit kann sich also offenbar durchaus lohnen – und Verbohrtheit rächen. Das scheint auch das Volk so zu sehen. Eine weitere Erkenntnis der VOX-Analyse besteht jedenfalls darin, dass die Schweizerinnen und Schweizer ihr Abstimmungsverhalten immer wieder leicht ändern. Mal entscheiden sie eher konvervativ, mal eher fortschrittlich, mal eher protektionistisch, mal eher liberal. Die Grundhaltung versuchte die Autorin der Studie wie folgt zu beschreiben: «Eine Öffnung der Schweiz wird also gewünscht, allerdings soll sich der Status der Schweizerinnen und Schweizer dadurch nicht verschlechtern.»
Das ist eigentlich eine recht differenzierte Haltung. Eine, die eine entsprechende Debatte verdient hätte.