Von Gaddhafi diskriminiert und aller Rechte beraubt, verlangen die libyschen Amazigh (Berber) seit dem Sturz der Diktatur die volle Gleichberechtigung mit der arabischen Bevölkerung. Im aufgeheizten politischen Klima ist der Widerstand gegen ihre Renaissance gross.
Lieder des berühmten algerischen Amazigh-Sängers Idir wechseln sich im Morgenprogramm ab mit lokalen Nachrichten. Radio Zuwara sendet seit bald zwei Jahren aus dem ehemaligen Hauptquartier der Geheimpolizei. In dem kleinen Studio arbeiten viele engagierte Freiwillige. Inzwischen gibt es für die ursprünglich private Initiative auch Geld von der Stadt.
Die zeigt wieder deutliche Lebenszeichen der Kultur der Amazigh, der eingeborenen Bevölkerung dieses Teils von Libyen, der sich von Melitta bis an die tunesische Grenze und hinauf in die Nafusa-Berge zieht. Die Bezeichnung «Berber» mögen sie nicht, denn die erinnert an «Barbaren».
Strassenschilder, Firmennamen und öffentliche Gebäude sind jetzt zweisprachig angeschrieben, neben Arabisch in Tifinagh, dem Alphabet mit 33 Zeichen, das für Tamazight, der Sprache der Amazigh verwendet wird. Autos und Häuser sind mit der blau, grün, gelben Flagge mit dem roten Schriftzeichen dekoriert, das für den «freien Menschen» steht, der Bedeutung von «Amazigh». Eltern geben ihren Neugeborenen jetzt Amazigh-Namen und viele Libyer liessen sogar einen DNA-Tests machen, um herauszufinden, ob sie dieser Urbevölkerung angehören, weiss Fathi Khalifa, der Präsident des Weltkongresses der Amazigh.
Die Kultur der Amazigh konnte unter Gaddhafi nur im Untergrund überleben.
Frei ihre Sprache sprechen und ihre Lieder singen, können die Amazigh erst wieder seit dem Sturz des Gaddhafi-Regimes. Gaddhafi hatte versucht, die Kultur der Amazigh auszulöschen. Wer die arabische Natur der Libyer in Frage stellte, konnte ohne Gerichtsverfahren zum Tod verurteilt werden.
Jede Form der Repression und Diskriminierung war ausdrücklich gestattet. «Alle Zeugnisse anderer Kulturen in Zuwara hat er zerstören lassen; christliche Kirchen, jüdische Synagogen, römische Altertümer oder italienische Kolonialbauten», erzählt Wael, ein junger Aktivist. Überlebt haben Sprache und Brauchtum der Amazigh in dieser Zeit in den privaten Häusern und indem nur untereinander geheiratet wurde.
Mit der Revolution des 17. Februar begann im Jahr 2011 auch die Renaissance der Amazigh. Zuwara gehörte zu den ersten Städten, die gegen das Regime revoltierten. Den 50 Märtyrern des Aufstandes wird mit einem Denkmal gedacht.
Mit viel privatem Engagement wurde die Verbreitung der eigenen Schrift und Sprache vorangetrieben. Im Moment wird in den Räumen der ehemaligen Geheimdienstzentrale auch ein Sprachforschungsinstitut eingerichtet. «Wir sind hier Putzfrauen, Elektriker und Dozenten in einem», sagt Professor Abdelrahman Billoch über sein Engagement. Billoch ist Poet, Pädagoge, Lehrer für Tamazight und Mitglied des 2001 gegründeten Institut Royal de la Culture Amazighe (ICRAM) in Marokko.
Marokko als Vorbild und tatkräftige Unterstützung
In Marokko gebe es seit den 60er-Jahren eine Renaissance der Amazigh-Kultur, erklärt Billoch, selbst eine der treibenden Kräfte. In den vergangen Jahren wurden die Sprache standardisiert und Schulbücher erarbeitet. Von diesen Anstrengungen konnten die Libyer jetzt profitieren.
Marokkanische Experten haben in drei Kurszyklen libysche Lehrer ausgebildet. Auch Schulmaterial konnte übernommen werden. In Zuwara und den umliegenden Städten lernen jetzt alle Primarschüler ihre eigene Sprache lesen und schreiben. Diese Initiative wurde von Nichtregierungsorganisationen in dem Amazigh-Gebieten vorangetrieben.
Das Erziehungsministerium war dann angehalten, die Prüfungsordnung anzupassen. Junge Aktivisten wie Wael mussten sich die Schriftzeichen selbst beibringen. Da hilft inzwischen auch das Internet. Windows 8 etwa unterstützt auch Tifinagh. In Marokko ist Tamazight seit 2011 in der Verfassung als offizielle Sprache verankert. Für dieses Recht kämpfen auch die libyschen Amazigh.
Amazigh-Aktivisten werden bedroht
Wenn Fathi Khalifa von seiner Heimatstadt Zuwara nach Tripolis fährt, tut er das nicht ohne bewaffnete Leibwächter. Vor etwa einem Jahr hat eine der Milizen eine Todesdrohung gegen den Präsidenten des Amazigh-Weltkongresses ausgesprochen, der schon vor den Schergen Gaddhafis ins Ausland hatte fliehen müssen.
«Wir kämpfen vor allem gegen eine Mentalität unter der alle Minderheiten – auch die Frauen – leiden», sagt Khalifa im Gespräch. «Wir verlangen Gleichheit und Gerechtigkeit für alle in diesem Land und keine speziellen Vorrechte für die Amazigh», betont er. Die Amazigh würden nicht nur unter dem arabischen Imperialismus leiden, auch islamische Geistliche hätten sich eingeschaltet und erklärt, einzig Arabisch sei die Sprache des Paradies.
Die Amazigh planen den politischen Boykott und bauen ein eigenes Parlament auf.
Für Khalifa ist der demokratische Neuaufbau Libyens nach dem Sturz des Ghaddhafi-Regimes völlig falsch verlaufen. Erst hätten die Vergangenheit aufgebarbeitet und ein demokratisches Verständnis entwickelt werden sollen, davon ist er überzeugt. Jetzt fehle diese Basis und der Respekt für die Rechte der anderen.
Mit oberflächlichen Gesten wollen sich die Amazigh nicht zufrieden geben, etwa wenn das Schild der zentralen Wahlkommission auch zufällig einmal in ihre Sprache oder jene der Tebu übersetzt ist. Auch der Präsident des Übergangsparlamentes Nouri Abu Sahmin ist wie ein halbes Dutzend andere hohe Staatsfunktionäre Amazigh. «Aber mit ihrer Wahl haben sie das vergessen und tun nichts mehr für die Rechte ihres Volkes», ärgert sich Khalifa.
Die Amazigh hatten vom Parlament verlangt, dass die Anerkennung des Tamazight als offizielle Landessprache in die seit der Revolution geltende Verfassungserklärung aufgenommen wird. Im letzten Herbst hatten sie diese Forderung sogar mit einer bewaffneten Blockade des Melitta-Gas-Terminals unterstrichen. Als auch die ohne Wirkung blieb, haben sie beschlossen, die Wahl einer 60-köpfigen Verfassungskommission zu boykottieren und auch keine Kandidaten für die zwei reservierten Amazigh-Sitze aufzustellen.
Am Wahltag, dem 20. Februar 2014 haben sie stattdessen in Zuwara ein grosses Fest gefeiert und sich auf die weiteren Schritte verständigt. Sie werden keine Entscheide des Übergangsparlamentes mehr akzeptieren, die nicht im Einverständnis mit den Minderheiten getroffen wurden. In den kommenden Monaten soll zudem ein eigenes Parlament gewählt und die Vertreter aus dem Übergangsparlament zurückgezogen werden. Auch eine eigene Partei ist in Vorbereitung. «Wir sind in unserem eigenen Haus, das vergessen die, die uns Extremisten schimpfen, nur weil wir unser Rechte verlangen», rechtfertigt Khalifa den eingeschlagenen Weg.
Am 13. Januar begingen die Amazigh ihr neues Jahr, das Jahr 2964. Das «Yennayer» markiert die Inthronisierung eines Pharao mit Amazigh-Wurzeln, Shoshenq I, in Ägypten. Das ist eine Theorie. Das Datum könnte aber auch mit dem Bauernkalender der Ureinwohner Nordafrikas zu tun haben, die in Algerien, Marokko, Tunesien und Libyen vor der arabischen Invasion im 7. Jahrhundert ansässig waren. Genaue Zahlen, wie viele Amazigh in Libyen leben, gibt es nicht. Fathi Khalifa, der Präsident des Amazigh-Weltkongresses, schätzt bis zu einer Million.
Eine weitere ethnische Minderheit in Libyen sind die afrikanischen Tebu, die im Süden in der historischen Provinz Fezzan leben. Auch sie haben nach Gaddhafis Sturz begonnen, ihre Kultur und Identität zu schützen. Es gibt inzwischen mehrere Publikationen in ihrer eigenen Sprache, dem Teda, die von einem amerikanischen Institut in den 40-er Jahren ins lateinische Alphabet transkribiert wurde. Tebu und Amazigh arbeiten im Kampf um ihre Rechte zusammen. Die Tebu hätten allerdings den Nachteil, dass sie sehr weit weg leben und mit dem Vorwurf zu kämpfen haben, sie hätten alle Gaddhafi unterstützt, sagt Khalifa.
Die in der Sahara-Wüste lebenden Tuareg sind die dritte ethnische Minderheit Libyens. Eine kleine Gruppe dieses traditionell nomadisierenden Berber-Volkes lebt im Südosten des Landes. Eines ihrer Zentren ist die Oase Ghadames. Bei den Wahlen zur 60-köpfigen Verfassungskommission wurden je zwei Sitze für die drei Volksgruppen reserviert. Nur die Tuareg haben ihre Mandatsträger gewählt. Tebu und Amazigh haben die Wahlen boykottiert, weil sie nicht glaubten auf diesem Weg, ihre Forderungen nach Gleichberichtigung verwirklichen zu können.