Besserwisser haben beim Bürger keine Chance

Wer heute politische Reformen anstrebt und Chancen auf Erfolg haben will, darf auf keinen Fall den Eindruck erwecken, er wolle die Macht der Bürgerinnen und Bürger schmälern oder deren Bedeutung in der Politik schwächen. Ganz besonders da nicht, wo diese im Zentrum stehen: in der direkten Demokratie.

JUSO-Aktivistinnen und Aktivisten reichen im Namen der Schweizer Jungsozialisten die Volksinitiative "1 :12" ein, am Montag, 21. Maerz 2011 vor dem Bundeshaus in Bern. Diese Initiative ist mit knapp 130 000 Unterschriften zustande gekommen.(KEYSTONE/Lukas Lehmann).. (Bild: LUKAS LEHMANN)

Wer heute politische Reformen anstrebt und Chancen auf Erfolg haben will, muss einen Eindruck auf jeden Fall vermeiden: Den Eindruck, er wolle die Macht der Bürgerinnen und Bürger schmälern und ihre Bedeutung in der Politik schwächen. Das gilt vor allem in jenem Bereich, in dem die Bürgerinnen und Bürger im Zentrum stehen: der direkten Demokratie.

Am 12. September 1848 gaben sich die Mehrheit der Schweizer Männer eine bemerkenswerte, ja, revolutionäre Bundesverfassung. Sie sicherte ihnen ein Ausmass an Freiheit und Demokratie, wie es dies im mehrheitlich monarchischen Europa sonst nicht gab.

Zwar rebellierten 1848 im «europäischen Völkerfrühling» viele Völker auf dem Kontinent, die sich vom Joch der konservativen Bevormundung befreien wollten. Auch wenn sie fast alle von den Armeen zusammengeschlagen wurden: Ohne diese Volksbewegungen wäre die schweizerische Pioniertat nicht gelungen. Denn dann hätten die Fürsten Europas freie militärische Kapazitäten gehabt und unter der Oberaufsicht von Fürst Metternich die schweizerische Revolution aufgerieben, den demokratischen Bundesstaat verhindert und Luzern zur Hauptstadt eines losen, papsttreuen Sonderbunds gemacht.

Diesem «Volk» mehr als nur Wahlrechte zur Verfügung zu stellen, das ging den 1848er Liberalen dann doch zu weit.

Doch eines war selbst die Schweiz von 1848 noch nicht: eine direkte Demokratie. Davon wollten die siegreichen 1848er Liberalen nichts wissen. Dass die neue Bundesverfassung dem obligatorischen Referendum unterstellt werden musste, das konnten sie zwar nicht verhindern. Zu sehr hatte sich diese Grundidee demokratischer Staatlichkeit aus den Anfangszeiten der Französischen Revolution hierzulande durchgesetzt; zu sehr war die Volkssouveränität seit den kantonalen Revolutionen der regenerierten Kantone von Anfangs der 1830er-Jahre ein Anspruch, den man nicht mehr unterlaufen konnte. Und ohne die Mobilisierung grosser Teile der Bauern, Handwerker und Arbeiter für «den Fortschritt» und die «Neue Zeit» hätten sich die Liberalen gegen die Konservativen nie durchsetzen können. Doch diesem «Volk» mehr als nur Wahlrechte zur Verfügung zu stellen, ging dann doch zu weit. Vielmehr war das liberale Motto: «Die Sache des Volkes ist so wichtig, dass man sie nicht dem Volk überlassen darf.» Sprich, die Liberalen glaubten besser zu wissen, was gut ist «für das Volk» als das Volk selbst. 

Diese Überheblichkeit, diese paternalistische Arroganz derjenigen, die sich für etwas «Besseres» halten, prägte die Politik der ersten 20 Jahre des neuen Bundesstaates. In den Parlamenten dominierten die Liberalen. Sie kümmerten sich um optimale Bedingungen für ihre Geschäfte, trieben den profitablen Eisenbahnbau voran, sorgten für die Technische Hochschule, welche die dafür notwendigen Brücken-, Tunnel- und Strassenbauer hervorbrachte. Dass die Mehrheit der Schweizer vom wirtschaftlichen Aufschwung viel weniger – teilweise gar nicht – profitierte, kümmerte diese Herren wenig.

Viele Bauern und Handwerker mussten angesichts des Kapitalbedarfs des Wachstumsmotors Eisenbahn für ihre Kredite mehr Zins bezahlen. Mit der Eisenbahn war auch die Konkurrenz präsenter als vorher. Die Preise für ihre Erzeugnisse sanken, die Lebenshaltungskosten stiegen. Viele lebten in prekären Verhältnissen.

Keiner kann mehr befehlen. Jeder kann versuchen, andere zu überzeugen. Gewiss, dem Land sieht man das heute nicht an.

Das führte in einigen Kantonen zum Auf- und Widerstand. Vor allem in den Kantonen Baselland, Zürich, Thurgau, St. Gallen. Aber auch in Genf kam es besonders in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre zu mächtigen Volks- und Demokratiebewegungen. Kantonale Verfassungsrevisionen wurden durchgesetzt, das Wahlrecht demokratisiert (Proporz in Genf) oder die Wahlrechte erweitert – um die Volksrechte Verfassungs- und Gesetzesinitiative sowie das Gesetzesreferendum. Bei den Neuwahlen verloren Dutzende von Liberalen ihre Regierungsämter. Diese kantonalen Revolutionen führten 1870 bei den nationalen Wahlen trotz des eidgenössischen Majorzwahlrechts auch zu den der direkten Demokratie verpflichteten National- und Ständeräten, die schliesslich 1874 für das Bundesgesetzreferendum und 1891 für die Einführung der Verfassungsinitiative sorgten.

Seither sind über 400 eidgenössische Volksinitiativen lanciert worden. Über 198 haben wir abgestimmt, 109 scheiterten an der Unterschriftensammlung, 28 sind noch hängig, 22 waren ganz erfolgreich und die übrigen wurden dank direkten und indirekten Teilerfolgen zurückgezogen. Wesentlich sind freilich weniger diese Zahlen als die Tatsache, dass in der Schweiz niemand mehr ohne Rücksicht auf die Bürgerinnen und Bürger Politik gestalten kann. Keiner kann mehr befehlen. Jeder kann versuchen, andere zu überzeugen. Wer Anliegen, Probleme, Gemütslagen oder Einwände von Bürgerinnen und Bürgern übersieht, dem werden diese relativ schnell von diesen in Erinnerung gerufen.

Gewiss, dem Land sieht man das heute nicht an. Auch die schweizerische Gesellschaft wird von einem kontinentalen Trend erfasst: Die Politik wird entmachtet, der Staat ist nicht mehr Subjekt der Entwicklung, sondern ein Objekt des Marktes und dessen wichtigster Kräfte. Die Menschen fühlen sich allein gelassen. Sie wissen sich nicht mehr zu helfen. Sie haben den Eindruck, sie hätten nichts mehr zu sagen. Sie fühlen sich vom Wesentlichen ausgeschlossen. Sie leiden unter jenen, die wieder glauben, alles besser zu wissen – auch das, was für die anderen gut oder schlecht sei.

Wir müssen die direkte Demokratie und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger stärken.

Das stimmt zwar in der Schweiz weniger als anderswo; doch im Wesentlichen konnte auch die direkte Demokratie diesen Einbruch in die bürgerliche Selbstbestimmungs-Kapazitäten nicht verhindern. Deshalb sind heute alle Reformvorhaben, die Bürgerinnen und Bürger weiter marginalisieren, aussichtslos und falsch. Wir müssen ganz im Gegenteil die direkte Demokratie und die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger stärken: durch deren Verfeinerung, durch mehr Ressourcen und einer eigentlichen Infrastruktur. Vor allem braucht es hierzu aber auch die Transnationalisierung der Demokratie, deren Verfassung auf europäischer Ebene, deren Verankerung auf globaler Ebene durch eine entsprechende Konvention. Nur so kann gegenüber dem Markt und der Macht der Finanzen das Primat der Politik wiederhergestellt werden – die Basis jeder Demokratie und jeder Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeit der Bürgerinnen und Bürger.

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