Beton statt Planung an der Ergolz

Der Ergolztal im Baselbiet ist ein Musterbeispiel dafür, wie eine Landschaft ohne übergeordnete Planung zugepflastert wurde. Der Talboden ist überbaut, nun wuchern die Wohnquartiere die Hänge hoch.

Architekt Dominique Salathé an der Rheinstrasse in Frenkendorf: «Die Siedlung muss Teil der Landschaft werden.» (Bild: Stefan Bohrer)

Der Ergolztal im Baselbiet ist ein Musterbeispiel dafür, wie eine Landschaft ohne übergeordnete Planung zugepflastert wurde. Der Talboden ist überbaut, nun wuchern die Wohnquartiere die Hänge hoch.

Eigentlich hatten wir vereinbart, vom Aussichtsturm auf dem Schleifenberg bei Liestal ins Ergolztal hinunterzublicken und von dort zu schauen, wie der Siedlungsraum da unten in den letzten Jahrzehnten auswucherte. Einen besseren Ausblick über das Tal als von diesem Turm hat man sonst nirgends. Man sieht von der Stadt Basel über die Rheinebene, wo sich Muttenz, Schweizerhalle und Pratteln ausgebrei­tet haben, sieht über Frenkendorf/­Füllinsdorf, Liestal, Lausen bis Itingen. Wer die Strecke mit dem Zug durchfährt, hat gar keinen Überblick. Er sieht nur Gebäude, Wohnblöcke, Ein-, Mehrfamilienhäuser, Strassen, Schienen, Industriebauten, Lagerhallen, Tunnels … Viele unterschiedliche Grautöne, manchmal weisse Fassadenflächen, ein paar Farbtupfer.

Nun, aus dem Anschauungsunterricht auf dem Schleifenbergturm wurde nichts. Der Nebel dort oben hing tief und dicht. Dominique Salathé (48), Architekt und Dozent für Masterkurse an der Fachhochschule Muttenz mit Spezialgebiet «Haus – Siedlung – Landschaft», nahm es gelassen. Statt die Konsequenzen der heute mangelhaften Raumplanung von hoch oben zu überblicken, sagte er, könne man bei diesem Wetter gerade so gut und auf ebenso eindrückliche Weise Anschauungsmaterial mitten im besiedelten Raum betrachten. Wir fuhren nach Frenken- respektive Füllinsdorf – genauer gesagt: an die Rheinstrasse, welche die Gemeindegrenze zwischen den beiden Dörfern bildet.

Am meisten befahrene Strasse

Die Rheinstrasse ist die am meisten befahrene Kantonsstrasse im Baselbiet. Sie ist derart überlastet, dass der Kanton 1995 beschloss, eine Umfahrungsstrasse von Pratteln nach Liestal zu bauen. Die Bauarbeiten sind zurzeit erst im Gang, die Strasse ist also noch nicht entlastet. Vereinzelte verwahrloste Häuser – wer wohnt hier schon freiwillig! – aus unterschiedlichsten Entstehungsjahren säumen diese Strasse, vor allem aber gesichtslose und auch futuristisch anmutende Gewerbebauten, Garagen, Tankstellen, Abstellflächen für Bauunternehmen, mal ein McDonald’s, dann unverhofft die Rückseite eines nach Frenkendorf hin gerichteten Grossverteilers … Ein Unort, diese Gemeindegrenze, auf der die Rheinstrasse täglich über 38 000 Autos durchschleust.

«Hier», sagt Dominique Salathé, «kehren sich zwei Gemeinden den Rücken zu. Es scheint sie nicht zu ­interessieren, was da hinter ihnen wuchert.» Unter seiner Leitung haben Studierende der Fachhochschule die Entwicklung im Ergolztal analysiert. «Überall im Ergolztal ist festzustellen – nicht nur hier zwischen Frenkendorf und Füllinsdorf, aber hier besonders augenfällig –, dass die Überbauung im Talboden ausser Kontrolle geraten ist. Die Gemeinden haben es längst auf­gegeben, hier ordnend einzugreifen. Stattdessen konzentrieren sie sich darauf, die Talhänge links und rechts einzuzonen und zu erschliessen.»

Bis hinauf nach Lausen, Itingen, Sissach, Böckten und Gelterkinden ist das so, und wenn das Raumplanungsgesetz abgelehnt wird, dürfte sich der Siedlungsbrei weiterhin so die Hänge hinauf ausbreiten. Wird das Gesetz angenommen, bedeutet das noch lange nicht Baustopp, aber: Die bedenken­lose Erweiterung der Bauzonen wird erschwert. Die Gemeinden müssen sich überlegen, wie sie das vorhandene Siedlungs- und Gewerbegebiet besser nutzen. Mehr noch: Sie müssen zusammenarbeiten, denn am meisten Potenzial liegt oft in ihren Randgebieten. Dort, wo sie nicht so hinschauen, weil sie wie die Rheinstrasse-Gegend zwischen Frenken- und Füllinsdorf eben in ihrem Rücken liegen. Etwas lärmig, schmutzig, schmuddelig.

Illusion vom Landleben

Gerade hier an diesem zurzeit eher ungemütlichen Ort sähe Dominique Salathé grosse Chancen, etwas Beispielhaftes in Planung zu nehmen. ­Voraussichtlich bereits im nächsten Jahr wird die Umfahrung Pratteln–Liestal eröffnet. Auf einen Schlag fällt der weitaus grösste Teil der täglichen 38 000-Fahrzeug-Lawine weg. «Nun bräuchte es dringend einen Entwicklungsplan, wie sich das Siedlungs­potenzial hier entfalten kann. Einen Plan, bei dem beide Gemeinden mitarbeiten müssten, aber auch profitieren könnten. Zugebaut ist das meiste ja schon, nun müssten die freien Räume optimal genutzt werden. Man muss sich von der Illusion verabschieden, man lebe hier auf dem Land. Die städtische Struktur ist angelegt, entsprechend drängt sich eine städtische Architektur auf – keine Ein- und Zweifamilienhäuser, sondern grosszügige Siedlungen.»

Auf die Frage, wo es in der Schweiz schon ähnliche, erfolgreiche Projekte gebe, antwortet Salathé: «Lausanne West». Dort haben sich neun Agglome­rationsgemeinden zusammengetan, um ihre knappen Landreserven optimal zu nutzen und mit einer gemeinsamen Planung überbaute Gebiete aufzuwerten. Für diese Bemühungen erhielt Lausanne West 2011 den Wakker-Preis des Schweizer Heimatschutzes.

Die Schweiz – eine grosse Stadt mit Grünflächen dazwischen?

«Lausanne West ist für die Schweiz ein Pionierprojekt», sagt Salathé. Entstanden ist es, weil die Notwendigkeit, haushälterisch mit dem Land umzugehen, dort durch die faktische Bodenknappheit am Genfersee gegeben war. Und vielleicht auch durch den Umstand, dass man sich in den neun Gemeinden längst von der Illusion verabschiedet hatte, auf dem Land zu leben. Sondern im «Stadtland Schweiz», wie es die liberale Denkfabrik Avenir Suisse in einer Studie des letzten Jahres ausdrückte.

Die Schweiz als grosse Stadt mit Grünflächen dazwischen. Das ist übrigens keine wahnsinnig neue Vorstellung. Nicht nur der Schriftsteller und Architekt Max Frisch hat diese Idee 1955 formuliert (Seite 6). Dominique Salathé zitiert Jean-Jacques Rousseau, der vor 250 Jahren schrieb: «Die ganze Schweiz ist wie eine grosse Stadt in (…) einzelne Viertel auf­geteilt. (…) Es gibt Viertel, die mehr oder weniger bewohnt sind, aber alle sind so weit bewohnt, dass man immer das Gefühl hat, in einer Stadt zu sein.»

Die Schweiz ein «Stadtland»? Eine Vorstellung, an die wir uns vielleicht erst noch gewöhnen müssen. Schaut man sich das auf dem Schleifenberg-Aussichtsturm ein paar Tage nach dem Gespräch mit Dominique Salathé aufgenommene Panorama an, kann man zwar zur Auf­fassung kommen, es habe auf den Hügeln links und rechts des Ergolztals noch genügend unbebaute Flächen. Begibt man sich aber hinunter in die Talebene und sieht, wie in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Landschaft mit unkoordiniert hingestellten Bauten und Strassen umgestaltet wurde, dann vergeht einem die Lust, da leben zu wollen. Und man wünscht sich, dass – wie es das neue Raumplanungsgesetz verlangt – die Gemeinden die Planung in die Hände nehmen. «Siedlungen müssen Teil der Landschaft werden», sagt Dominique Salathé.

Zeitreisen mit swisstopo
Das Bundesamt für Landestopografie (swisstopo) lädt ein zu ­so­genannten «swisstopo-Zeitreisen». Anklicken – und man ist dabei. Und sieht, wie sich die Gebiete Frenkendorf/Füllinsdorf, Zunzgen–Sissach oder Altmarkt–Lausen–Itingen zwischen 1938 und 2011 ver­ändert haben. Es ist auch möglich, die Überbauung ­irgendeines anderen Gebiets der Schweiz ­nachzuvollziehen. Auf der Zeitlandkarte Sissach lässt sich ­sogar bis ins Jahr 1680 zurückblicken.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.02.13

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