Billiges Geld kann teuer werden

Spätestens seit der Bankenkrise von 2008 sinken in der Schweiz die Zinsen. Derzeit bewegen sie sich nahe oder sogar unter der Nullgrenze. So günstig wie heute kam man noch nie zu Geld. Längerfristig ist das aber alles andere als gesund.

Ökonomen gehen davon aus, dass der Markt das einzig geeignete Mittel sei, um die besten Resultate für all zu erzielen. (Bild: Jared Muralt/Blackyard)

Spätestens seit der Bankenkrise von 2008 sinken in der Schweiz die Zinsen. Derzeit bewegen sie sich nahe oder sogar unter der Nullgrenze. So günstig wie heute kam man noch nie zu Geld. Längerfristig ist das aber alles andere als gesund.

Der Zins, sagt die ökonomische Theorie, ist nichts anderes als der Preis, den ein Schuldner dafür zahlen muss, dass ihm ein Gläubiger Geld zur Verfügung stellt. Das gilt für alle Arten von geliehenem Geld: Wer sein Geld auf das Sparkonto legt, erhält von der Bank einen Zins, wer für sein Haus eine Hypothek in Anspruch nimmt, bezahlt seiner Bank einen Zins. Das Unternehmen zahlt für Obligationen und Bankkredite einen Zins, der Staat für seine Anleihen ebenfalls.

Der Zins in Gestalt eines Marktpreises für geschuldetes, ausgeliehenes oder vorgeschossenes Geld bildet sich wie jeder Preis in einer Marktwirtschaft nach Massgabe von Angebot und Nachfrage. Wird mehr Geld angeboten als nachgefragt, sinkt der Zins, ist die Nachfrage höher als das Angebot, so steigt er. So gesehen gibt es keinen «richtigen» oder gar «gerechten» Zins – nur einen Marktzins.

Mörderisch hoch, teuflisch tief

Dass die Zinsen in den überschuldeten Mittelmeerstaaten mörderisch hoch sind, im nördlichen Europa und besonders in der Schweiz aber schon fast unanständig niedrig, hängt damit zusammen, dass den Griechen, Spaniern, Portugiesen und Italienern niemand mehr freiwillig Geld überlassen will (hohe Nachfrage und geringes Angebot), während in die Schweiz mehr Geld fliesst, als wir brauchen können (hohes Angebot und tiefe Nachfrage). Beides kann ungesund sein, denn beides kann in den jeweiligen Volkswirtschaften erheblichen Schaden anrichten. Auch in der an sich kerngesunden Schweizer Wirtschaft.

Wenn die Nationalbank einen Tiefzinskurs fährt, ist das für die Schweizer Wirtschaft einerseits ein Segen. Die Unternehmen kommen zu billigem Geld, können zu geringeren Kosten investieren und schaffen damit Arbeitsplätze. Die Hypothekarzinsen sinken (derzeit auf deutlich unter zwei Prozent), und mit ihnen die finanzielle Belastung der Wohneigentümer, aber auch der Mieter. So bleibt mehr Geld übrig für den Konsum, was der Wirtschaft Wachstum beschert und Arbeitsplätze sichert.

In Zeiten von Wachstumsschwäche oder gar drohender Rezession senkt deshalb die Nationalbank ihren Leitzins, den 3-Monats-Libor. Das hat sie seit der Bankenkrise im Jahre 2008 mehrfach getan. Damals lag er bei über drei Prozent, heute bewegt sich der Leitzins in einer Bandbreite von null bis 0,25 Prozent. Alle anderen Zinsen in der Volkswirtschaft folgen diesem Leitzins in mehr oder minder grossem Abstand.

Immer weniger Zins auf Sparguthaben

Wenn die Nationalbank über längere Zeit einen Tiefzinskurs fährt, ist das für die Schweizer Wirtschaft andererseits ein Fluch. Auf Sparguthaben wird immer weniger Zins bezahlt (derzeit fast null Prozent). Je nach Teuerung schrumpfen die Sparguthaben real sogar. Die Zinsen für Obligationen und Staatsanleihen werden immer mickriger, kippen zuweilen auch in den negativen Bereich. Das ist vor allem für die Sparer und Kleinanleger unangenehm.

Noch unangenehmer ist eine lang anhaltende Tiefzinsphase für die Pensionskassen. Ihnen kommt so der «dritte Beitragszahler» abhanden, die Rendite auf dem angesparten Kapital. Dies schlägt sich in den Bilanzen der Pensionskassen in zweierlei Hinsicht nieder.

Zum einen wächst das Alterskapital der aktiven Bevölkerung langsamer, als es für die spätere Rente wünschbar wäre. Zum anderen wird das vorhandene Alterskapital der Rentner schneller aufgezehrt, als das mit den ursprünglich veranschlagten Zinsen der Fall gewesen wäre. Die UBS diagnostizierte für 2011 eine Pensionskassen-Performance von minus 1,5 Prozent. Schlimmer noch: Seit 2005, also seit fast sieben Jahren, haben die Pensionskassen durchschnittlich eine Jahresrendite von nicht einmal einem Prozent erzielt.

Um die Leistungsversprechen einigermassen einhalten zu können, müsste dieser Durchschnitt zwischen drei und vier Prozent liegen. Das heisst: Die Pensionskassen zehren seit einiger Zeit von den Reserven oder von der Substanz – bereits heute befinden sich knapp 20 Prozent der privatrechtlichen und rund zwei Drittel der öffentlich-rechtlichen Pensionskassen in Unterdeckung.

Pensionskassen im Dilemma

Der Zwang, eine Mindestrendite zu erzielen, gekoppelt mit der mehrere Jahre anhaltenden Unmöglichkeit, diese Rendite mit sicheren Anlagen tatsächlich zu erreichen, kann PK-Vermögensverwalter dazu verleiten, die notwendigen Erträge mit riskanteren Anlagen anzustreben. Das kann einmal gut gehen. Über längere Sicht überwiegt aber das Verlustrisiko – dann kann sogar ein Totalschaden entstehen.

Und selbst vermeintlich sichere Anlagen können riskant werden, wenn zu viele Anleger die sicheren Häfen suchen. Immobilien zum Beispiel: Tiefe Hypothekarzinsen machen zwar kurzfristig das Wohnen günstiger. Gerade wegen der tiefen Hypozinsen steigt aber die Nachfrage nach Bauland und Liegenschaften; die Preise steigen an – und weil die Zinsen so tief sind, wird auch ein höherer Fremdkapital-Anteil in Kauf genommen.

«Immobilienblase» nennt sich so etwas. Und wenn die platzt, kann der Schaden sehr gross werden: Für jene Privatanleger, die sich wegen der tiefen Zinsen zu hoch verschuldet haben, kann es bis zum Konkurs führen wie Anfang der Neunzigerjahre, als die Banken überschuldete Liegenschaften reihenweise selbst übernehmen und dann mit Verlust verkaufen mussten. Und für Pensionskassen kann es zu erheblichen Abschreibern und damit grösseren Deckungslücken führen.

Anleger und Zocker

Auf den Märkten, welche die Zinsen «machen», tummeln sich neben den etablierten Banken, den privaten, staatlichen und institutionellen Anlegern, den Regulatoren wie der Nationalbank viele verschiedene Player – seriöse und weniger seriöse, Anleger und Zocker. Nicht zu vergessen die Rating-Agenturen, welche die Bonität der Beteiligten begutachten und allein damit schon Märkte bewegen können. Dieses bunte Treiben ist nicht neu. Dass es zu Auswüchsen, Missbräuchen, masslosen Übertreibungen kommt, hat auch in der Vergangenheit immer wieder zu Krisen geführt.

Die meisten Ökonomen gehen dennoch immer noch unentwegt davon aus, dass der Markt das einzig geeignete Mittel sei, die besten Resultate für ganze Volkswirtschaften zu erzielen. Darüber hat sich der grosse britische Ökonom John Maynard Keynes schon in seiner 1936 erschienenen «General Theory» lustig gemacht: «Der Kapitalismus basiert auf der merkwürdigen Überzeugung, dass widerwärtige Menschen aus widerwärtigen Motiven irgendwie für das allgemeine Wohl sorgen werden.»

Die Nationalbank navigiert in unsicheren Gewässern – und unter «widerwärtigen» Umständen. Sicher ist nur, dass sie etwas unternehmen muss, damit die Ausschläge der Geldmärkte nicht die ganze Schweizer Wirtschaft und ihre Arbeitsplätze gefährden. Mit ihrer Tiefzinspolitik (wie übrigens auch mit ihrer Wechselkurspolitik – mit der Bindung des Schweizer Frankens an den Euro) verfolgt sie derzeit einen gewagten Kurs. Ihre Erfolgsbilanz über die letzten Jahrzehnte spricht dafür, dass sie auch diesmal weiss, was sie tut. Was man von sehr vielen Teilnehmern am ach so rationalen Markt allerdings wirklich nicht behaupten kann.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.08.12

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