Bloss ein Hauch von Freiheit

In Ägypten geht ein bewegtes Jahr zu Ende. Ernüchterung paart sich mit der Erkenntnis, dass eine alles verändernde Revolution in 18 Tagen zu schön ist, um wahr zu sein – ein kritischer Blick auf den «ägyptischen Frühling».

Der Tahrir-Platz in Kario am 1. Februar 2011 (Bild: Keystone)

In Ägypten geht ein bewegtes Jahr zu Ende. Ernüchterung paart sich mit der Erkenntnis, dass eine alles verändernde Revolution in 18 Tagen zu schön ist, um wahr zu sein – ein kritischer Blick auf den «ägyptischen Frühling».

Basel im Januar 2011. Beschaulichkeit zum Jahresanfang, der ich mich zwischenzeitlich entziehe. In Gedanken bin ich in Kairo, meiner Heimat, der Stadt meiner Kindheit und ­Jugend. Dort ist gerade Revolution. Meine Nächte sind kurz. Skypen mit Freunden und Familie in Kairo, schaue Al Jazira und CNN gleichzeitig; twittere und kommentiere Facebook-Posts. In Ägypten sind Hunderttausende auf Strassen und Plätzen, «Das Volk will das Ende des Systems!» skandierend.

Nach Mubarak ein Scherbenhaufen

11. Februar: Hosni Mubarak tritt ab. Nach 30 Jahren ist Ägypten ein Scherbenhaufen. Armut, Analphabetismus, Korruption, Arbeitslosigkeit, Unfreiheit, ein zerrissenes Land. Von Tunesien aus hat der revolutionäre Wüstenwind die arabische Welt erfasst. Die Euphorie ist unbeschreiblich, die Hoffnung auf ein Leben in Würde und Freiheit in greifbarer Nähe. Das kennen die arabischen Menschen nur vom Hörensagen. Derweil im Westen Bürgerkriege heraufbeschworen werden und die Angst vor den Islamisten kursiert, räumt die mutige Aktivistenschar, die digitale Netzwerkgeneration, die auf dem Tahrir-Platz ausgeharrt hat und der wir den Fall des Pharaos verdanken, auf und zieht ab.

Fast ein Jahr danach ist der Sieges­taumel verstummt, anstatt Flower Power, gemeinsamen Gebeten zwischen Christen und Muslimen ist die Gegend rund um den Tahrir-Platz zur Kampfzone mutiert. Ein Jahr danach paart sich Ernüchterung mit der Erkenntnis, dass eine Revolution in 18 Tagen zu schön ist, um wahr zu sein.

Die Touristen blieben dieses Jahr aus, dafür gibt es anhaltende Proteste verschiedener Berufsverbände. Trotzdem: Durch Ägypten weht ein Hauch von Freiheit. Überall ist Politik Gesprächsstoff. Die Menschen rücken zusammen, irgendwie, und ich zu Ägypten. Auf jeder Reise beteilige ich mich an Diskussionen über die ­Zukunft Ägyptens. Ich wähne mich in den Pariser Salons des 18. Jahrhunderts, inmitten der Aufklärer Montesquieu, Diderot, Rousseau mit ihren Disputen über Gewaltentrennung, Toleranz, Religionsfreiheit.

Religion und Politik im Duett

Die Veranstaltungen finden in alter­nativen Kulturzentren, in Buchläden in der Stadtmitte statt – und im donnerstäglichen Salon von Alaa al-Aswani, dem streitbaren Autor, der den machthabenden Militärs ebenso kritisch auf die Finger schaut wie früher Mubarak. Man spricht über den säkularen Staat und wie das demokratieabstinente Volk Demokratie erlernen könnte. Ich staune über so viel staatsbürgerliches Bewusstsein, das im ägyptischen Schulsystem mit Propaganda fürs Regime gleichzusetzen war. Freiheit ist eben Recht und Bedürfnis zugleich.

Ein Freund stutzt meinen Enthusias­mus zurecht. «Du bist in Kairo, auf dem Land oder in den Slums geht es anders zu.» Natürlich. Ich brauche nicht in unser Dorf ins Nildelta oder in die ärmeren Quartiere in Kairo zu gehen, um zu erkennen, dass dort die Religiösen das Terrain längst für sich erobert haben.

Religion und Politik im Duett

Sogar in Maadi, dem europäisch geprägten Stadtteil im Süden Kairos, wo ich aufgewachsen bin und immer noch lebe, haben die Moslembrüder eine Niederlassung eröffnet. Morgens empfangen die «Schwestern», abends die «Brüder». Obwohl mein Kleidungsstil weder auf Zugehörigkeit noch Sympathie mit der Bruderschaft schliessen lässt, werde ich herzlich empfangen. Eine aufmerksame Damenschar, dem oberen Mittelstand angehörig, lauscht einem bärtigen Herrn. Er erklärt, seine Ausführungen durch Koranverse begleitend, wie man einen Wahlzettel korrekt ausfüllt und natürlich das Häkchen ins «rechte» Feld setzt. Religion und Politik im Duett.

Kairos Strassen werden immer un­sicherer, von Polizei keine Spur. Organisierte Banden haben es auf Autos, Bargeld, Handys abgesehen. Irgendwo in Kairo müssen sich Berge von Handys türmen. Auch ich bin vorsichtiger geworden, wage mich nach Mitternacht nicht mehr ausser Haus. Obwohl ich mich der Revolutionsskepsis partout verweigere, ist es an der Zeit, meinen verklärten Blick zu revidieren und einzusehen, dass der Weg zu einem demokratischen Ägypten steinig sein wird.

Aufgeladener Sommer, Sturm auf die israelische Botschaft, Angriffe auf koptische Kirchen. Bei Letzteren sas­sen Soldaten, «Beschützer» der Revolution und des ägyptischen Volkes, auf ihren Panzern und liessen den Mob bei der Zerstörung der Kirchen gewähren.

Gegen Fremdes und Unreines

Kairo im Oktober. Freitags wird wieder demonstriert, weil alles beim Alten geblieben ist: Notstandsgesetze, keine Verurteilung von Mubarak. Ägypter sind in der arabischen Welt berühmt für ihren Humor. Eine Frau hat auf einem Plakat Karikaturen gezeichnet. Den Salafisten («salaf» bezeichnet die Gefährtenschaft des Propheten Muhammed) legt sie den Spruch «Alles aus­ser dem Maillot» (bedeutet im ägyptischen Dialekt «Badeanzug») in den Mund. Der Badeanzug steht für westlichen Einfluss, und diesen gilt es auszumerzen.

Was auf den ersten Blick lustig wirkt, ist bedrohlich. Im Gegensatz zu den Muslimbrüdern, die eine Demokratie nach dem Vorbild der Türkei anstreben, wollen die Salafisten Ägypten in einen islamischen Staat mit Scharia-Recht verwandeln. Ihre Botschaft ist so simpel wie diejenige europäischer Rechtsparteien: Sie sind gegen Fremdes, ­Unreines, Unislamisches.

November 2011: Die ersten freien Wahlen in der Geschichte Ägyptens sind für Ende November 2011 angesagt, in Kairo herrschen Chaos und Gewalt. Verschwörungstheorien machen die Runde. Auf Youtube sehen wir Militärpolizei und Staatssicherheit, die auf Demonstranten schiessen. Im ägyptischen Fernsehen, dessen Art der Berichterstat­tung immer noch den Herrschenden dient, weisen die Generäle, arrogant und beleidigt, Gewaltsvorwürfe zurück. «Ausländische» Kräfte hätten sich «infiltriert», um den Ruf des Militärs zu besudeln und Ägypten zu ruinieren.

Im Büro der Social Democratic Party, einer liberal-säkular ausgerichteten Partei, deren Mitglied ich geworden bin, haben wir für diese Aussagen nur ein müdes Lächeln übrig. Immer sind es die anderen, nie wir selber. Die Abgabe von Verantwortung ist eine ägyptische Krankheit – im staatlichen und im privaten Bereich.

In ganz Kairo gewinnt keine Frau ein Parlamentsmandat. In einer traditionellen Gesellschaft wie der ägyptischen ist das Patriarchat in Mark und Bein übergegangen, der Vater, der General, der Mufti haben das Sagen. Auch nach der Revolution.

Das letzte Wort den ägyptischen Frauen. In Gedanken marschiere ich mit ihnen und schreie mir die Wut aus dem Leib, gegen den Tritt des Soldaten auf den entblössten Oberkörper einer Demonstrantin. Ein bewegtes Jahr geht bewegt zu Ende. Revolution in 18 Tagen – das ist zu schön, um wahr zu sein.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30/12/11

Nächster Artikel