Nach mehreren tragischen Auftritten schien Hans Rudolf Gysin am Ende. Nun ist er wieder da – und wie.
Was war das im Februar für ein Theater in der Region Basel. Eigentlich ging es um eine Erhöhung der Baselbieter Beiträge ans Theater Basel, im Grunde prallten aber gegensätzliche Kulturvorstellungen aufeinander; alte und neue Ressentiments brachen auf. Dorftheater gegen anspruchsvolle Inszenierungen, Land gegen Stadt, Oberbaselbiet gegen Unterbaselbiet. Bei der Abstimmung vom 13. Februar setzte sich die rustikale Fraktion durch: Mit 51 Prozent der Stimmen lehnte es das Baselbiet ab, die Theaterbeiträge um vier Millionen Franken pro Jahr zu erhöhen.
Heftig waren die Reaktionen danach im Unterbaselbiet, das vom Oberbaselbiet überstimmt worden war, und noch heftiger in Basel-Stadt. Dort fühlte man sich ausgenutzt, weil rund die Hälfte der Theaterbesucher vom Land kommt, die Stadt aber weiterhin über zehn Mal mehr für den Theaterbetrieb zahlen muss.
Absurde Vorschläge
In der aufgereizten Atmosphäre überboten sich die verschiedenen Lager mit Provokationen und Drohungen, bis die Debatte ins Absurde abglitt. Das Basler Parlament plante ernsthaft, von auswärtigen Theaterbesuchern künftig höhere Ticketpreise zu verlangen. «Das ist ein Rückfall in längst überwundene Zeiten, in denen von Fremden auch noch Wegzoll verlangt wurde», ärgerte sich der Baselbieter Kulturdirektor Urs Wüthrich (SP).
Andere schienen an der Vorstellung sogar noch Spass zu haben. Einzelne SVP-Politiker schlugen vor, auf den Baselbieter Wanderwegen künftig eine Gebühr von den Basler Ausflüglern zu verlangen. Irgendwann setzte sich dann aber doch die Erkenntnis durch, dass es ziemlich aufwendig wäre, auf dem Land alle Wanderer und in der Stadt sämtliche Theaterbesucher einer Ausweiskontrolle zu unterziehen. So wurden die Revanchegelüste unterdrückt – bis auf Weiteres jedenfalls.
Kulturfreund Gysin
Ein ganz besonderer Auftritt ging in dem ganzen Theater fast ein bisschen unter: jener von Hans Rudolf Gysin. Bis zur Debatte um die Erhöhung der Beiträge kannte man den Gewerbedirektor und langjährigen Nationalrat vor allem als Strippenzieher, als heimlichen König des Baselbiets, der mit seiner Hausmacht, der Wirtschaftskammer, seinen vielen Beziehungen und immer wieder wechselnden Allianzen Gesetze prägen und Regierungsräte machen konnte. Wenn Gysin mit einem Referendum drohte oder seine Wahlkampfmaschinerie für einen bestimmten Politiker in Gang setzte, dann tat sich was im Baselbiet, das wusste man.
Nun setzte er sich auch noch als Kulturfreund in Szene. Als «Operetten- und Opernfan», wie er selber sagte, der in jungen Jahren regelmässig im Theater war, um vom Balkon, 3. Rang, aus den Arien und Rezitativen zu lauschen. Inzwischen könnte er sich zwar auch etwas bessere Plätze leisten, leider fehle ihm aber die Zeit für regelmässige Besuche, bedauerte Gysin im Abstimmungskampf. Dennoch setze er sich für die Subventionserhöhung ein, weil «die Kultur und das Theater für die gesamte Region und den Wirtschaftsstandort wichtig sind».
In seiner neuen Rolle als Kulturfreund überzeugte Gysin allerdings zu wenig, auch in seiner eigenen Partei, die zum Schrecken der letzten noch verbliebenen Bildungsbürger im Baselbieter Freisinn Stimmung gegen das Theater machte. Nach dem umstrittenen Positionsbezug der FDP und erst recht nach der Abstimmung stand Gysin plötzlich als Verlierer da. Es war, als hätte das Schicksal ihn, den Erfolgsverwöhnten, plötzlich im Stich gelassen, wie in einem Drama, mit Gysin als tragischer Figur. Prompt erlitt er im März eine weitere Niederlage, die ihn wohl noch sehr viel mehr schmerzte.
Die Baselbieter Wahlen
Dabei schien er im Vorfeld der Regierungsratswahlen vom 27. März alles im Griff zu haben. Gysin zog – wie bei allen Baselbieter Wahlen – die Fäden im Hintergrund. Er schaffte es, die zerstrittenen bürgerlichen Parteien noch einmal zusammenzubringen, er sammelte in der Wirtschaft Geld für sie und liess im ganzen Kanton Plakate mit «unserem starken Regierungsteam» aufhängen. Vier Jahre zuvor hatten die Bürgerlichen mit dem gleichen Spruch die Wahlen gewonnen. Nun verfing er aber nicht mehr, dafür waren die Probleme dieser Regierung, dieses klammen Kantons wohl schon zu offensichtlich. Das Volk wollte einen Wechsel und wählte den Grünen Isaac Reber überraschend anstelle des bisherigen SVP-Baudirektors Jörg Krähenbühl in die Regierung. Dem abgewählten SVP-Regierungsrat schossen Tränen in die Augen, als er die Niederlage zur Kenntnis nehmen musste.
In einer ähnlichen Gefühlslage befand sich wohl auch Gysin. Die bürgerlichen Parteien müssten dringend wieder besser zusammenarbeiten und geschlossener auftreten, sonst könnte es in der Regierung schon bei der nächsten Vakanz eine linke Mehrheit geben, sagte er nach den Wahlen. Für ihn eine Horrorvorstellung.
Opfer einer Intrige
Fast noch schlimmer war allerdings, was Gysin vor den nationalen Wahlen widerfuhr. Die Parteileitung wollte ihn als Nationalrat eigentlich schon lange loswerden und eine etwas frischere Kraft nach Bern schicken. Das dem mächtigen Mann offen zu sagen, getraute sich allerdings niemand. Lieber bekämpfte man den alten Strippenzieher mit seiner eigenen Waffe – einer Intrige.
Wenige Stunden vor dem Nominationsparteitag präsentierte Parteipräsident Michael Herrmann zwei Überraschungs-Kandidaten, die dem bislang unbestrittenen Topkandidaten gefährlich werden konnten: den neuen Handelskammer-Direktor Franz Saladin und den Wirtschaftsanwalt und Kurzzeit-Verleger Martin Wagner. Vor allem Wagners Aufritt konnte Gysin nicht geheuer sein. Denn der Tausendsassa hatte beim Meister persönlich gelernt, wie man sich im Leben durchsetzt. Umso gefährlicher musste Gysin der Kompagnon von einst nun als neuer Gegner erscheinen. Gysin zog die Konsequenzen und gab am Parteitag vom 10. Mai seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur bekannt.
Seine Zeit schien vorbei
Danach zog er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück, seine Zeit schien vorbei, nicht einmal mehr sein eigenes Haus der Wirtschaft schien er noch unter Kontrolle zu haben. Denn nun wurde auch in der Wirtschaftskammer plötzlich Kritik laut. Einzelne Gewerbler wehrten sich gegen das Übergehen von Elisabeth Schneider (CVP) im Ständeratswahlkampf und die einseitige Parteinahme der Wirtschaftskammer für den SVP-Kandidaten Caspar Baader. Und sie wehrten sich auch gegen die sorgsam eingefädelte Wahl von Gysins Zögling Christoph Buser zu seinem Nachfolger.
Wegen des Widerstands musste die Ernennung des neuen Wirtschaftskammern-Direktors verschoben werden. Gysin und Buser nutzten die Zeit bis zum neuen Wahltermin, um mit den Kritikern zu reden und ihnen mehr Transparenz in der künftigen Geschäftsführung zu geloben. Das wirkte. Gysin bekam wieder Oberhand und Buser wurde gewählt.
Kurz vor Jahresende kam es für Gysin sogar noch besser. FDP-Nationalrat Filippo Leutenegger, neuer starker Mann bei der «Basler Zeitung», und – natürlich auch er – ein alter Bekannter Gysins, bot ihm einen Sitz im Verwaltungsrat an und Gysin sagte – selbstverständlich – zu.
Das Ganze ist eine typische Win-Win-Situation: Das neue alte BaZ-Konstrukt um Christoph Blocher und Tito Tettamanti erhält einen gut vernetzten und präsentablen Verwaltungsrat aus der Region Basel und Gysin einen neuen Job in der Medienbranche, die ihn, den Machtmenschen, schon immer angezogen hat. Der Prattler gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Radios Raurach (heute: Radio Basel) und war langjähriger Verwaltungsrat der BaZ-Tochter Birkhäuser + GBC.
Dann kam der zweite Frühling
Nun verspürt der 71-Jährige seinen mindestens zweiten Frühling. Es ist wieder eine wahre Freude, wie er zum Beispiel Journalisten zusammenfaltet, die seiner Ansicht nach allzu kritisch über das bürgerliche Baselbiet berichten («mit dieser Geschichte haben Sie sich massiv geschadet!»), um ihnen wenig später fast schon väterlich seine Hand auf den Arm zu legen («nichts ist falscher als eine Retourkutschenpolitik. Darum werde zumindest ich Ihnen ganz sicher nichts nachtragen»). Endlich ist er wieder da, der alte Gysin, den man schon fast vermisst hatte!
In Bern gibt es sogar schon erste Stimmen, die sagen, Gysin zeige sich inzwischen häufiger im Bundeshaus als zu seiner Zeit als Nationalrat, in der er auf den Rankings höchstens unter der Rubrik Abwesenheit einen Spitzenplatz erreicht hatte. Nun hat er auch wieder grosse Pläne: Die schon seit Längerem angekündigte Volksinitiative für die Aufwertung der beiden Basel zu Vollkantonen will er in den kommenden Monaten richtig lancieren. Damit präsentiert er ein Gegenmodell zu den kantonalen Initiaitiven der Grünen, die eine Wiedervereinigung von Baselland und Basel-Stadt verlangen.
So werden in der Region Basel nach der Theaterdebatte bald wieder einmal ziemliche grundlegende Fragen über die beiden Kantone und ihr gegenseitiges Verhältnis verhandelt. Und diesmal wird Gysin in der ganzen Debatte wieder eine zentrale Rolle spielen. So, wie er es am liebsten hat.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 30/12/11