Europa bangt um Grossbritannien. Aber warum eigentlich? Worum geht es beim drohenden Ausstieg und was hat er für Konsequenzen für die Schweiz? Unser London-Korrespondent mit knackigen Antworten.
Worum geht es bei den Verhandlungen in Brüssel?
Premier David Cameron will das Verhältnis zwischen Grossbritannien und dem Rest der EU auf eine neue Grundlage stellen. Wenn Cameron das EU-Referendum noch diesen Sommer abhalten will, ist der Gipfel in Brüssel praktisch die letzte Chance, um rechtzeitig zu einer Einigung zu kommen.
Konkret strebt er Reformen in vier Bereichen an: Er will Grossbritannien aus der «immer engeren Union» heraushalten; Regulierungen abbauen; Sozialleistungen für Migranten beschränken; und er will sicherstellen, dass sich das Gewicht innerhalb der EU nicht zugunsten der Eurozone verschiebt. Das heisst konkret, dass Entscheidungen, die die Eurozone betreffen, nicht automatisch für Grossbritannien gelten.
Was sagen die anderen EU-Staaten zu diesen Forderungen?
Einige der Reformvorschläge sind kaum kontrovers. Doch besonders bei der Beschränkung der Sozialleistungen regt sich bei den Staaten Osteuropas Widerstand: Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei wollen verhindern, dass sich die Bedingungen für die Diaspora verschlechtern, also für die Bürger, die im Westen leben und arbeiten. Andere Länder hingegen, allen voran Frankreich, befürchten, dass der Finanzplatz London Regulierungsbestimmungen umgehen und sich so einen Vorteil gegenüber dem Rest der EU verschaffen kann.
Warum will Cameron überhaupt die Beziehung zur EU neu verhandeln?
Grossbritannien hat seit Jahrzehnten eine kritische Haltung zum europäischen Einigungsprojekt. Bereits 1975 fand ein Referendum statt, zwei Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Damals stimmten 67 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib in der EWG, doch in den 1980er-Jahren wuchs die EU-Skepsis – besonders bei den Konservativen. Grossbritannien sträubt sich gegen die fortschreitende Integration und hat immer wieder auf Sonderregelungen bestanden.
Im letzten Jahrzehnt, mit der EU-Osterweiterung und der Eurokrise, hat sich die EU-Skepsis bei vielen Briten vertieft – und der rechte Rand der Konservativen Partei sowie die Rechtspopulisten von Ukip wissen die Bedenken über offene Grenzen auszunutzen. Um die Frage ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen, kündigte Cameron 2013 an, die Briten über einen Verbleib in der EU zu befragen. Aber zuerst wolle er versuchen, in Brüssel Reformen zugunsten Grossbritanniens zu erreichen.
Wollen die anderen EU-Staaten den Briten entgegenkommen?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Die EU hat ein handfestes Interesse daran, dass Grossbritannien ein Mitglied bleibt – das Land ist nach Deutschland die zweitgrösste Volkswirtschaft Europas und hat auf der internationalen Bühne diplomatisches Gewicht. Andererseits sind es viele EU-Länder leid, Grossbritannien die ganze Zeit Zugeständnisse zu machen. Sie würden sich lieber mit wichtigeren Themen beschäftigen – etwa mit der Frage, wie man mit den Hunderttausenden Flüchtlingen aus dem Nahen Osten umgehen sollte.
Droht im Fall gescheiterter Verhandlungen ein Brexit?
Nicht unbedingt. Cameron wird das Referendum wohl verschieben, um sich Zeit zu geben für weitere Verhandlungen (das Referendum muss bis Ende 2017 stattfinden). Er muss zu einem zufriedenstellenden Deal kommen, damit er für einen Verbleib in der EU plädieren kann – was Cameron eigentlich will. Ein Scheitern der Gespräche würde allerdings die Hand der EU-Gegner stärken: Sie könnten es als einen weiteren Beweis für den Reformunwillen der EU anführen.
Wie steht die Bevölkerung zu einem Austritt aus der EU?
Sie ist gespalten: Laut Meinungsumfragen halten sich Brexit-Befürworter und -Gegner mehr oder weniger die Waage. Allerdings gibt es viele Unentschlossene, und für sie wird viel vom Ausgang der Gespräche abhängen.
Was würde ein Brexit für die EU bedeuten?
Es wäre ein schwerer Rückschlag. Die EU steckt derzeit in einer tiefen Krise – vielleicht in der tiefsten seit Beginn des europäischen Einigungsprojekts in den 1950er-Jahren: Die Probleme in der Eurozone sowie die Frage der Flüchtlinge drohen den Staatenbund auseinanderzureissen. Ein Votum für einen Brexit wäre in dieser Situation fatal und könnte andere Länder ebenfalls zu einem Austritt animieren.
Und die Schweiz?
Falls Cameron in der Migrationsfrage zu einer Einigung mit Brüssel kommt, erhöhen sich die Chancen, dass die EU auch hinsichtlich der Schweiz Flexibilität zeigt: Nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vor zwei Jahren sucht der Bundesrat nach einer Lösung, wie die Initiative umgesetzt werden kann, ohne die Verträge mit der EU zu verletzen.