Partei und Nation sind zur Einheit verschmolzen, die Hülle ist die Nation, der Inhalt die Partei. Erdogan setzt auf eine Politik der Machtsicherung. Das Verhältnis zu Europa und die wirtschaftliche Entwicklung sind dabei sekundär.
Erdogan und die Türkei haben sich gegenseitig zu ihrer Geschichte gemacht. Das Schicksal des Landes liegt in den Händen des Staatspräsidenten, wie dessen Schicksal von der Unterstützung der Menge abhängt. Beide geben sich gegenseitig, was sie brauchen: Der Heil versprechende Herrscher gibt der Masse die gewünschte Führergestalt, und sie gibt ihm die benötigte Akklamation. Cäsarismus nennt man das in der Fachliteratur.
Die Interpretationsfigur des Cäsarismus greift jedoch zu kurz, wenn sie auf heutige Verhältnisse angewendet wird: Es genügt nicht, dass ein Cäsar vor seine Legionäre tritt und sich mit einem flotten Appell bestärken lässt. Es braucht den Apparat, die Getreuen auf allen Stufen der Organisation. Die Zahnräder und Zahnrädchen. Man hat sich gewundert, wie die durch den Putsch bedrohte Seite schnell und effizient mit der bedrohenden Seite aufräumen konnte.
Eine wechselseitige Bestätigung von Führung und Gefolgschaft ist an sich noch nichts Aussergewöhnliches. Das Besondere liegt in diesem Fall in seiner Fassbarkeit. Eindrücklich ist die wohl im Lande selber wie auch uns und der türkischen Diaspora medial vorgeführte Wahrnehmbarkeit: Erdogan ohne Krawatte mit Sonnenbrille und offenem Hemd (natürlich nicht in einer Uniform) und die tosende Menge im bewegten Meer der türkischen Fahnen. Die Fahnen der AKP, der Partei des Führers, waren vom Apparat des Führers untersagt worden. Partei und Nation sind zur Einheit verschmolzen, die Hülle ist die Nation, der Inhalt die Partei.
Den meisten Zivilisten, die sich gegen die Panzer stellten, ging es nicht um die Verteidigung der Demokratie, sondern um die Rettung ihres Führers.
Das sich gegenseitig bestärkende Wechselspiel manifestierte sich auch in der Frage der Todesstrafe: Der Führer nahm die an der Basis (im «Volk») laut gewordene Forderung – «An den Galgen mit den Verrätern» – auf und versicherte der Millionenmasse auf dem Yenikapi-Platz in Istanbul in ermunternder Weise, dass er das Begehren mit seiner präsidialen Unterschrift versehen werde, sollte es zu ihm kommen – was mit Jubel entgegengenommen wurde.
Unsere Aufmerksamkeit ist primär auf den Autokraten mit seinem protzenden Palast gerichtet, was er sagt und was er macht, wie er den Putsch als «Geschenk Allahs» preist und das Geschenk reichlich nutzt, um seine Gegner zu beseitigen, und wie sehr er persönlich beleidigt ist, weil ihm der Westen nicht sein Mitgefühl darüber ausgedrückt hat, dass er von seiner demokratisch legitimierten Machtposition beinahe weggeputscht worden wäre.
Den meisten Zivilisten, die sich auf der Strasse gegen die Panzer stellten, ging es nicht um die Verteidigung der Demokratie, sondern um die Rettung ihres Führers und der von ihm betriebenen Islamisierung der bisher säkularen Türkei. Sie waren via Soziale Medien und Minarette auf die Strasse gerufen worden, wie zu einem heiligen Krieg. Auf den Putschversuch folgte der aufputschende Gegenputsch.
Erdogan ist nicht Hitler, aber die Masse ist die gleiche, wie wir sie aus der NS-Zeit kennen.
Das hindert den autoritären Präsidenten aber nicht, sich als grossen Verteidiger der Demokratie zu präsentieren. Die Phase, während der «Demokratie-Wächter» einschüchternd aktiv gewesen sind, wurde am vergangenen Sonntag mit der inszenierten «Demokratie- und Märtyrer-Versammlung» abgeschlossen – jetzt darf verordnete «Versöhnung» Einzug halten.
Wenn die Bewegung, die nach der anderen Führerfigur, dem jetzt in den USA lebenden Oberhaupt Fethullah Gülen, benannt ist, hinter dem gescheiterten Putsch steht, dann sind zwei Varianten des politischen Islams aufeinandergeprallt; Varianten wohlgemerkt, die über lange Zeit Hand in Hand operierten.
Der Putsch ist in westlichen Kommentaren mit dem Reichstagsbrand von 1933 verglichen worden, der Hitler die willkommene und möglicherweise auch inszenierte Gelegenheit verschaffte, per Ermächtigung (Verordnung zum Schutz von Volk und Staat) die oppositionellen Kräften wegzuräumen. Erdogan ist nicht Hitler, aber die Masse ist die gleiche, wie wir sie aus der NS-Zeit und aus anderen Momenten der Geschichte kennen.
Solange Masse unter sich bleibt, ist sie das geringere Problem. Gefährlich wird sie als Mob.
Das wäre der Moment, Elias Canettis «Masse und Macht» (1960) wieder einmal hervorzuholen und sich erklären zu lassen, dass die Menschen in der Masse ihre ewige Furcht vor dem Anderen abstreifen können, dass sie «ihre Verschiedenheiten loswerden und sich als gleiche fühlen». Den auf diese Weise Erlösten erscheinen im Gegenzug umso gefährlicher die imaginierten oder tatsächlich Andersartigen ausserhalb der Masse – der Feind, die Feinde.
Solange Masse unter sich bleibt, ist sie das geringere Problem. Gefährlich wird sie als Mob, wenn sie in kleineren Teilen einzelnen Personen begegnet, die sie als nicht zu ihnen gehörend empfindet und dann mit Lynchreflexen traktiert. Solche Reflexe hat es laut Medienberichten gegeben. Sie haben zunächst am Tag nach dem Putsch gefangen genommene Soldaten gegolten, die als Befehlsausführende wahrscheinlich nicht einmal wussten, wofür sie eingesetzt waren.
Inzwischen haben die Säuberungsaktionen auch das Gerichts- und Unterrichtswesen erreicht und im bereits zuvor erfassten Bereich der Medien weiter um sich gegriffen. Intellektuelle und Kunstschaffende sehen sich in existenzbedrohender Weise dem Verdacht staatsgefährdender Agitation ausgesetzt und werden, damit man ihrer habhaft wird, auch an der Ausreise (Flucht) gehindert. Die Heimat ein Gefängnis.
Das Regime betreibt Bekämpfung einer «Terrororganisation» und ergeht sich dabei selber in terrorisierender Einschüchterung. Die Bevölkerung wird öffentlich zur Denunziation von «Verrätern» aufgefordert. Über 60’000 Staatsfeinde solle aus dem Verkehr genommen worden sein. Von den meisten weiss man nicht, wo sie sind und wie es ihnen geht.
Es passt zur Widersprüchlichkeit von nationalen Despoten, dass sie sich jede Einmischung im eigenen Land verbitten, in anderen Ländern aber ungeniert ihre Agitation betreiben.
Ausser Canetti kann man auch den alten Goethe zur Hand nehmen und nachschauen, was er gemeint hat, als er in seinem »Faust« (1808) einen anonymen Biedermann sagen liess: «Nichts Bessers weiss ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei / Wenn hinten, weit, in der Türkei / Die Völker aufeinander schlagen / Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus …»
Damals mochte die Türkei «hinten» und «weit» gewesen sein. Heute ist sie nahe und auch in uns. Die dramatischen Vorgänge in der Türkei können uns, die wir «am Fenster stehen», und mehr noch die Millionen der türkischen Diaspora nicht gleichgültig lassen. Erdogan und sein Apparat wollen erreichen, dass auch ausserhalb ihres direkten Machtbereichs ihre Anhänger mobilmachen und die Feinde disziplinieren.
Es passt zur Widersprüchlichkeit von nationalen Despoten, dass sie sich jede Einmischung im eigenen Land verbitten, in anderen Ländern aber ungeniert ihre Agitation betreiben. So hat Erdogan sich darüber empört, dass ihm nicht gestattet wurde, in Köln «seine» Türken mit einer direkten Videoschaltung anzusprechen. Seine Auslandvertretung hat auch in der Schweiz die Stilllegung der Gülen-Bewegung gefordert.
Es ist erstaunlich, wie sehr sich im vergangenen Jahrzehnt die Grundstimmung im Lande verändert hat. Die Türkei schien auf dem besten Weg, alle rechtsstaatlichen Standards zu erfüllen und EU-Mitglied zu werden. Erdogan hat sich der EU aber nur angenähert, um das Militär und die Justiz zurückzudrängen und religiöse Freiheiten zu etablieren. Heute muss dem Land gesagt werden, dass die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe den Abbruch der Beitrittsverhandlungen bedeuten würde.
Die türkisch-russische Freundschaft kann so schnell vergehen, wie sie aufgekommen ist.
Seit ein paar Tagen sind nun Putin und Erdogan Freunde geworden, nachdem sie sich zuvor aufs Heftigste attackiert hatten. Solche aussenpolitischen Schwenker sind nur in autokratischen Regimen möglich. Die Fast-Alleinherrscher müssen jedenfalls fast keine Rücksicht auf ihre Institutionen und schon gar nicht auf ihre Völker nehmen. Der im November 2015 im syrischen Grenzgebiet erfolgte Abschuss eines russischen Bombers durch türkische Jagdflugzeuge, zuvor von Erdogan lautstark als legitime Verteidigung der «Volksrechte» gerechtfertigt, wird nun schnell umgedeutet als eine perfide Aktion der Putsch-Militärs, die damit Erdogan hätten schaden wollen.
Es wird sich weisen, wie lange die türkisch-russische Freundschaft halten und was sie bringen wird. Sie kann so schnell vergehen, wie sie aufgekommen ist. Die inneren Verhältnisse in der Türkei sind indessen durch Putsch und Gegenputsch tief gestört und werden die Gesellschaft und die Wirtschaft noch lange belasten. Ein Gewährsmann aus der Türkei hatte noch vor zwei Monaten die Überzeugung – oder auch nur Hoffnung – geäussert, dass sich das Regime Erdogan aus wirtschaftlichen Zwängen weiter Europa annähern wird. Im Moment sieht es so aus, dass er sich gewaltig getäuscht hat und bis auf Weiteres nicht wirtschaftliche Interessen den Kurs des Landes bestimmen werden.