«Da wussten wir: Jetzt ist etwas passiert, das uns noch lange beschäftigen wird»

Am Freitag jährt sich zum zehnten Mal, was als «Schande von Basel» in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Thomas Gander war damals als Fanarbeiter mitten im Geschehen. Er blickt zurück und erzählt von skurrilen Szenen, vom besonderen Basler Lokalpatriotismus und von Sitzungen, die wegen fehlenden Vertrauens auf Tonband aufgezeichnet werden mussten.

ZUR ENTSCHEIDUNG IN DER SCHWEIZER FUSSBALL-MEISTERSCHAFT DER SAISON 2005/06 AM 13. MAI 2006, ZWISCHEN DEM FCB UND DEM FCZ, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Die Zuercher Spieler Iulian Filipescu, Nr. 25, und Alhassane Keita, links daneben, werden taetlich angegriffen nach dem Fussball Meisterschaftsspiel der Super League zwischen dem FC Basel und dem FC Zuerich am Samstag, 13. Mai 2006, in Basel. (KEYSTONE/Patrick Straub)

(Bild: Keystone/PATRICK STRAUB)

Am Freitag jährt sich zum zehnten Mal, was als «Schande von Basel» in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Thomas Gander war damals als Fanarbeiter mitten im Geschehen. Er blickt zurück und erzählt von skurrilen Szenen, vom besonderen Basler Lokalpatriotismus und von Sitzungen, die wegen fehlenden Vertrauens auf Tonband aufgezeichnet werden mussten.

Thomas Gander entschuldigt sich. Es stehe noch eine wichtige Abstimmung an, sagt der Sozialdemokrat, und verschwindet hinter der Schwingtür im Grossratssaal. Auf den Bildschirmen zeichnet sich langsam das Ergebnis ab, in diesem Moment wird es ganz still in diesen ehrwürdigen Mauern.

Dieser stille Moment steht im krassen Gegensatz zu den Ereignissen vom 13. Mai 2006, die Grossrat Gander als damals 29-jähriger Fanarbeiter im St.-Jakob-Park miterlebte. Der FC Zürich erzielte im letzten Spiel der Saison gegen den FCB in der 93. Minute den Siegestreffer und entriss ganz Basel den Titel in der letzten Sekunde der Meisterschaft.

Zuschauer stürmten den Rasen, griffen Spieler des FCZ tätlich an, später kam es auch ausserhalb des Stadions zu massiven Ausschreitungen. 115 Personen wurden verletzt, es entstand Sachschaden in der Höhe von 400’000 Franken – 26 Personen wurden rund zweieinhalb Jahre später verurteilt.

«Der Basler lebt eine besondere Form von Lokalpatriotismus – und der ist mit diesem Feindbild Zürich zementiert.»

Inzwischen ist Gander bei der Swiss Football League verantwortlich für Prävention und Corporate Social Responsability, worunter man die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen versteht. Bis 2015 war er während zehn Jahren bei der Fanarbeit Basel und während sechs Jahren bei der Fanarbeit Schweiz engagiert.

Thomas Gander, Sie waren am 13. Mai 2006 als Fanarbeiter im St.-Jakob-Park. Gibt es einen Moment, der Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Thomas Gander ist SP-Grossrat, Sozial- und Fanarbeiter in Basel.

Thomas Gander (39). (Bild: Hans-Jörg Walter)

Es gibt zwei solche Momente. Der erste spielte sich auf dem Rasen nach dem Spiel ab. Da kam ein junger Mann auf mich zu, ohne dass ich mich ihm in den Weg gestellt habe, und sagte: «Thomas, jetzt musst du mich einfach in Ruhe lassen.» Er wollte mir damit wohl klarmachen: Hier und jetzt läuft etwas ab, das für die Fans derart krass ist, dass auch ich als Fanarbeiter keinen Platz mehr hatte. Da war eine ausserordentliche Eigendynamik in Gange.

Können Sie sich an den Gesichtsausdruck des Mannes erinnern?

Da lief ein Film ab. Ein Film, den dieser junge Mann so wohl noch nie erlebt hatte. Und ich auch nicht. Der zweite Moment, und das ist fast die stärkere Erinnerung, war bei der Hattrick Bar, vielleicht eine Stunde nach Abpfiff. Da kam es auch vor dem Stadion zu Ausschreitungen, als viele Fans bereits beim üblichen Bier waren. Plötzlich flogen von der Strasse Tränengaskugeln hoch auf die Plattform, wo sich dieses Reizgas ausbreitete, auch in die Hattrick Bar hinein. Erwachsene Menschen haben daraufhin Bänke genommen und auf die Strasse hinuntergeworfen.

Diese Bankwerfer wurden neben anderen rund zweieinhalb Jahre später dafür verurteilt.

Richtig. Die Dramatik dieser Szene war beeindruckend, ohne das natürlich positiv werten zu wollen. Ich bin später mit Freunden weitergezogen – und da wussten wir: Jetzt ist etwas passiert, das uns noch lange beschäftigen wird. Man merkte, dass die Leute das verarbeiten mussten. Viele waren frustriert, alles wurde zum Thema, nicht nur die Ausschreitungen, sondern auch die Frage, wie man eigentlich so verlieren kann, wie dem Schiedsrichter dieser Fehlentscheid unterlaufen konnte, warum dieser Einwurf derart weit vorne ausgeführt wurde. Und da kommt mir noch eine Erinnerung in den Sinn.

Nämlich?

Unten auf der Strasse war dieser Wasserwerfer in Aktion. Man wusste, dass der aus Zürich nach Basel gefahren wurde, denn in Basel gab es einen solchen gar nicht. Man hat die Meisterschaft gegen den FCZ verloren, da stand dieser Wasserwerfer aus Zürich, eine skurrile Szene. All diese Ingredienzen haben zusammengespielt und die Ereignisse schliesslich eine hochgehende politische und öffentliche Debatte ausgelöst. Wann immer das Thema Fangewalt aufkam, wurde dieser 13. Mai zitiert. Diesen Stellenwert hat der Tag auch deswegen, weil es eine gewaltvolle Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Fans war – und das auf dem Rasen vor Zehntausenden von Menschen. Das ist auch im europäischen Kontext eine sehr seltene Situation.

Klingt so, als wäre eine Schaulust wie zu Zeiten der römischen Gladiatorenkämpfe befriedigt worden.

In der Tat. Die Leute blieben im Stadion und wollten wohl aus einer Mischung aus Beängstigung und einer Art Faszination miterleben, was hier passiert. In den zehn Jahren seither habe ich allerdings immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Fans erlebt, die mich bezüglich der Gewaltbereitschaft genauso berührt haben.



ZUR ENTSCHEIDUNG IN DER SCHWEIZER FUSSBALL-MEISTERSCHAFT DER SAISON 2005/06 AM 13. MAI 2006, ZWISCHEN DEM FCB UND DEM FCZ, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Auch die Basler Spieler verlassen nach dem Schlusspfiff fluchtartig das Spielfeld nach dem Fussball Meisterschaftsspiel der Super League zwischen dem FC Basel und dem FC Zuerich am Samstag, 13. Mai 2006, in Basel. (KEYSTONE/Patrick Straub)

Den Überblick hatte keiner mehr – die Basler Spieler flüchten in die Katakomben. (Bild: Keystone/PATRICK STRAUB)

Hatten Sie von der Fanarbeit eigentlich Anzeichen für diese Ereignisse gehabt?

Wir erlebten, dass es schon länger Spannungen zwischen der Fankurve und dem Verein gab. Das gegenseitige Vertrauen war nicht sehr hoch und es gab verschiedene Dispute. Ich kann mich an Sitzungen erinnern, die wir auf Tonband aufzeichnen mussten, weil man sich nicht vertraute. Aber wir müssen auch selbstkritisch sein, denn wir alle dachten wohl daran, dass der FCB dieses Spiel gewinnen würde, die Polizei sich dann um den Gästesektor kümmert und die Sache geritzt ist. Und dann gab es die Geschichte um die nicht vorhandenen Gitter hinter dem Tor. Offenbar hatten Exponenten der Muttenzerkurve den Verein darauf aufmerksam gemacht, dass es solche Absperrungen brauche. Heute würde der Verein darauf reagieren. Damals wollte man das einfach nicht hören.

Tage und Wochen danach musste der 13. Mai aufgearbeitet werden.

Der Fantreffpunkt war in den kommenden Tagen voll. Die Leute hatten ein Austauschbedürfnis und wollten die Szenen aufarbeiten. Es gab auch Konflikte unter den Fans. Soweit ich mich erinnern kann, distanzierten sich offizielle Fanclubs von der Muttenzerkurve.

Der 13. Mai hat eine Menge ausgelöst.

Es stimmt allerdings nicht, dass er der Auslöser war für den «Basler Weg», für diesen Weg des Dialogs. Das hat sicher noch ein, zwei Jahre gedauert. Die Fronten blieben verhärtet, bis Bernhard Heusler versucht hat, sie aufzuweichen. Die Schockstarre hat lange angehalten.

«Nach diesem 13. Mai sind wir mit der Fanarbeit heftig unter die Räder geraten. Ich habe Sitzungen erlebt, in denen man die Verantwortung auf uns schieben wollte.»

Wenn der 13. Mai nicht Auslöser für den Basler Weg war, so muss er doch wenigstens einen Einfluss darauf gehabt haben, oder?

Man hat sich auf eine gemeinsame Basis besonnen und gesagt: Wir wollen uns den Fussball hier in Basel nicht zerstören lassen. Der Druck, der auf dem Verein und allen Fans lastete, hat zu einem Zusammenstehen geführt. Man hat von allen Seiten erkannt, dass es einfach gesagt darum geht, auch in Zukunft den FCB leben zu können, es ging etwas überspitzt gesagt um die Existenz des Clubs. In diesem Moment hat Bernhard Heusler sich dafür ausgesprochen, dass es weiterhin eine lebendige Fankurve, eine Muttenzerkurve braucht. Das war ein wichtiges Signal – mit einer beruhigenden Wirkung.

Warum wird der Basler Weg immer wieder als vorbildlich zitiert, obwohl auch er keine Garantie für ausbleibende Gewalt ist?

Vielleicht gerade deswegen: Weil dieser Weg den Erfolg nicht garantiert. Weil er sich nicht nur daran misst, ob hunderprozentig alles Denkbare verhindert wurde. Und weil er kein Idealbild propagiert, an dem man sich immer wieder gegenseitig aufreibt und sich gegenseitig die Schuld eines Versagens zuschiebt. Ich glaube, dass es Erfolg bringend ist, wenn man nicht etwas verspricht, das man nicht halten kann.



ZUR ENTSCHEIDUNG IN DER SCHWEIZER FUSSBALL-MEISTERSCHAFT DER SAISON 2005/06 AM 13. MAI 2006, ZWISCHEN DEM FCB UND DEM FCZ, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Des supporters sont decendu sur le terrain pour provoque la police, a la fin de la rencontre de football de superleage entre la FC Bale et le FC Zurich, ce samedi 13 mai 2006 au Stade Saint-Jacques de Bale - Basel Fans randalieren auf dem Spielfeld nach dem Fussball Meisterschaftsspiel der Super League zwischen dem FC Basel und dem FC Zuerich am Samstag, 13. Mai 2006, in Basel. Der FC Zuerich schlug Basel mit 1:2 Toren und holte sich den Meistertitel. (KEYSTONE/Sandro Campardo)

Die Fronten zu St.-Jakob: der Fan im Fokus, die Polizei in Bereitschaft. (Bild: Keystone/SANDRO CAMPARDO)

Bis zum 10. April 2016, als auf der Eventplattform Polizei und Fans aneinandergeraten sind, haben sich in Basel während zehn Jahren keine gravierenden Vorfälle mehr zugetragen – zumindest nicht mit Beteiligung von Basler Fans.

Man vergisst da allerdings auch etwas schnell. Ich kann mich an Auseinandersetzungen erinnern – vor allem auch an internationalen Spielen. Es blieb also nicht einfach ruhig.

Warum kommt es zu solchen Vorfällen? Ist es die Dynamik einer Masse, die einer kleinen vorangehenden Gruppe folgt?

Diese These stimmt. Es gibt immer die Auslösenden und die, die aus Solidarität mitlaufen. Aus der Gruppenzugehörigkeit heraus denken viele: Da geh ich jetzt mit. Ein kritischer Punkt ist, wenn sich Menschen komplett der Gruppe unterordnen und so nicht mehr überlegen, welche Konsequenzen ihr Handeln für sie selbst und für das Umfeld haben. Diese Denkprozesse laufen dann nicht ab. Dieser Effekt hat mich immer sehr beschäftigt. Hier spielt auch die Frage hinein, wie Leaderfiguren mit dieser Verantwortung umgehen.

Die Gedanken an die Konsequenzen sind in diesem Rahmen doch ohnehin schwierig. Viele dürften das Gefühl haben, dass gewisse Handlungen in einem Fussballstadion toleriert sind, die ausserhalb als Straftat gelten.

Das gibt es auch in anderen Jugendszenen. Vor allem im öffentlichen Raum. Diese Konfrontations- und Provokationsflächen entstehen oft zwischen erwachsenem Denken, den geltenden Gesetzen und gewissen Formen von Jugendkultur. Das hat mich nie überrascht und bis zu einem bestimmten Mass ist das – bitte nicht falsch verstehen – auch in Ordnung und lässt auch eine positive Dynamik entstehen, die wir dann wieder begrüssen.

Wie meinen Sie das?

Ich habe mal einen Vortrag des damaligen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter gehört. Er sagte, dass ein Fussballspiel wie eine Theatervorstellung ablaufen sollte. Im Sinne von: Da wird Kunst präsentiert – also benimmt man sich auch so. Das entspricht nicht der Realität des heterogenen Fussballpublikums. Es braucht die jungen Wilden, wie ich sie mal vereinfacht nennen will. Sie stehen für Kreativität und für Identifikation, die dazu führt, dass diese oft gelobte Stimmung des Zwölften Mannes überhaupt ins Stadion kommt. Das braucht eine gewisse Verrücktheit. In einer Fankurve entsteht auch ganz viel Positives für die Menschen, die darin verkehren. Der allgegenwärtige Blickwinkel ist aber nach wie vor, dass eine Fankurve etwas Diffuses, ja gar Gefährliches ist – etwas, das man in den Griff kriegen muss. Um dem entgegenzuwirken, organisierten wir vier Monate nach den Ereignissen mit Soziologieprofessor Ueli Mäder an der Uni Basel eine Podiumsdiskussion mit dem Titel «Mysterium Muttenzerkurve». Erstmals äusserten sich Exponenten der Kurve in der Öffentlichkeit. Die Aula war proppenvoll, mit der Uni Basel bot ein wichtiger Akteur eine Dialogplattform.

Hat das Mitwirken der Universität die Glaubwürdigkeit des Diskurses gestärkt?

Das war vermutlich ein Effekt. Da hat eine gewisse Ernsthaftigkeit eingesetzt.

«Ich kenne Leute, die nach dem 13. Mai nie mehr ins Stadion gegangen sind.»

Ist dieser Diskurs eine der wenigen positiven Konsequenzen des 13. Mai?

Man darf es nicht beschönigen. Es gab zum Beispiel Eltern mit Kindern im Stadion, die danach genug hatten vom Fussball, weil ihre Kinder noch lange Angst hatten. Ich kenne Leute, die nach dem 13. Mai nie mehr ins Stadion gegangen sind. Und der Fussball bleibt letztendlich ein Kosmos für sich. Er widerspiegelt einen Teil der Gesellschaft. Ob er aber die Gesellschaft prägen kann, bleibt die spannende Frage. In meiner jetzigen Funktion bei der SFL kann ich diese Frage konkret angehen: Welche Verantwortung hat der Fussball mit seiner Kraft auch vor und nach den 90 Minuten? Für welche Werte steht er ein und wie möchte er diese transportieren? Ich glaube aber nicht, dass der 13. Mai einen gesellschaftlichen Diskurs im positiven Sinn ausgelöst hat.

Hat dieser Tag den einen oder anderen radikalen Fan geläutert?

Auf eine Einzelperson kann ich das nicht herunterbrechen. Aber die Sensibilität ist gewachsen. Man weiss jetzt, was in einem solchen Moment passieren kann. Und ich bin sicher, dass auch innerhalb der Fans Grenzdebatten geführt wurden. Debatten zum Beispiel darüber, wann eine solche Massendynamik gefährliche Folgen haben kann. Man darf aber nicht vergessen, dass sich eine Fanzsene immer wieder erneuert und «alte» Fragen immer wieder neu gestellt werden müssen.

Die Frage bleibt, ob eine verlorene Meisterschaft ausreichender Grund für Gewaltbereitschaft ist. Da muss doch mehr sein.

Der Basler lebt eine besondere Form von Lokalpatriotismus. Und der ist mit diesem Feindbild Zürich zementiert. Das verstrickt sich bis in die Politik und die Wirtschaft, ohne dass es auf Gegenseitigkeit beruht. Denn der Zürcher interessiert sich eher wenig für Basel. Durch die Fussballgeschichte, die die beiden Vereine verbindet, ist eine Brisanz vorhanden. Ich stelle mal eine These auf: Wenn der FCB in der Meisterschaft gegen einen anderen Club so verloren hätte, wäre nicht das Gleiche passiert. Aber das darf natürlich nicht als Legitimation für die Ereignisse vom 13. Mai 2006 herhalten.



ZUR ENTSCHEIDUNG IN DER SCHWEIZER FUSSBALL-MEISTERSCHAFT DER SAISON 2005/06 AM 13. MAI 2006, ZWISCHEN DEM FCB UND DEM FCZ, STELLEN WIR IHNEN FOLGENDES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG - Der Zuercher lulian Filipescu, Nr. 25, zieht jubelnd davon, nachdem er in der Nachspielzeit den 1:2-Siegestreffer erzielt hat im Fussball Meisterschaftsspiel der Super League zwischen dem FC Basel und dem FC Zuerich am Samstag, 13. Mai 2006, in Basel. (KEYSTONE/Patrick Straub)

Der Moment, der am Ursprung der Ausschreitungen stand: Iulian Filipescu (Nr. 25) schiesst das 2:1 für den FC Zürich, versetzt die Limmatstädter in Ekstase – und die Basler in Schockstarre. (Bild: Keystone/PATRICK STRAUB)

Sie standen früher selbst als Fan in der Fankurve. Wie nahe haben Sie Ausschreitungen selbst miterlebt?

Ich war zu Nationalliga-B-Zeiten immer bei den Auswärtsfahrten dabei. Und da gab es auch immer wieder Gewalt und Sachbeschädigungen. Aber ich verspürte nie den Drang, mich daran zu beteiligen, obwohl auch ich meinen Frust bewältigen musste. Meine Eltern sagen immer, dass ich mindestens eine Woche lang nicht zu gebrauchen war, wenn der FCB schon wieder nicht aufgestiegen ist. Gewalt auszuleben hat mich nie fasziniert, ich lehne sie ab und bezeichne mich eher als Pazifist. Wenn versucht wird, Gewalthandlungen zu legitimieren, beschäftigt mich das – nicht nur im Fussball.

Die Frage kommt deswegen, weil Sie in der Fanarbeit Verständnis für das Verhalten der Fans mitbringen müssen. Ohne dieses Verständnis hätten Sie keinen Zugang zu den Menschen.

Das ist genau das Schwierige in der Kommunikation gegen aussen. Es ist ein Doppelmandat: Auf der einen Seite hast du Auftraggeber, meistens ein Kantone und ein Verein, die die Fanarbeit bezahlen. Auf der anderen Seite hat man Verständnis für diese heterogen zusammengesetzte Fanszene und ihre Bedürfnisse. Es gibt Fanreaktionen, die ich zwar nachvollziehen kann, was aber nicht heisst, dass ich sie auch akzeptiere. Diese Differenzierung gegen aussen zu kommunizieren, ist unheimlich schwierig, und es glaubt dir auch niemand. Man ist dann immer schnell in der Ecke der Kuschelpädagogik und man wirft dir vor, dass du gewalttätige Fans auch noch in Schutz nimmst.

«Der Fanarbeit fand erst nach 2010 wirklich Gehör – unglaublich lange nach dem 13. Mai also.»

Hat der 13. Mai daran etwas geändert, am Ruf der Fanarbeit?

Nach diesem Tag sind wir erst mal wahnsinnig unter die Räder geraten. Ich habe heftige Sitzungen erlebt, in denen man die Verantwortung auf uns schieben wollte. Da ging es nicht um die Aufarbeitung, sondern erst einmal um eine Schuldzuweisung. Diesen Reflex, den Schwarzen Peter von sich wegzuschieben, gäbe es heute nicht mehr. In der Aufarbeitung des 13. Mai hat die Fanarbeit sicher ihren Platz gefunden.

Die Fanarbeit ging also gestärkt daraus hervor.

Ich würde das nicht am 13. Mai festmachen. In meiner Tätigkeit bei der Fanarbeit Schweiz habe ich miterlebt, dass der Fanarbeit erst nach 2010 wirklich mehr Gehör geschenkt wurde. Unglaublich lange nach dem 13. Mai also. Es gibt übrigens auch immer wieder Fans, die die Fanarbeit ablehnen. Oftmals auch von einer neuen Fangeneration, die sich distanziert und sagt: «Ach, diese Prävention, wir brauchen doch keine Sozialarbeiter.» Auch das erstaunt mich nicht und gehört wohl dazu.

Hat der 13. Mai Sie persönlich verändert?

Die intensive Diskussion und auch Konflikte haben mir damals sicher etwas an Erfahrung mitgegeben, um mit solchen Situationen umzugehen und auch unter Druck stehend Positionen zu ergreifen. Ich habe in der Sandwich-Position zwischen Fans, Verein und Öffentlichkeit gelernt, wie man mit Widersprüchlichkeiten umgeht. Interessant war, dass es immer wieder die Energie der Fans war, die mir Kraft und Motivation gab, diese Aufgabe wahrzunehmen.

Und zu welcher Erkenntnis kamen Sie in den letzten zehn Jahren?

Auch wenn das nicht nur mit dem 13. Mai zu tun hat, begleitet mich eine wichtige Erkenntnis: Nach Ausschreitungen geht es in erster Linie darum, trotz des zeitgleichen öffentlichen und politischen Drucks Ruhe zu bewahren und keine Dynamik von Schuldzuweisung aufkommen zu lassen. Das ist die nachhaltigste Form der Bewältigung und die erfolgreichste Massnahme überhaupt, um es das nächste Mal «besser» zu machen.

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