Die Wirtschaftskrise treibt Zehntausende von Portugiesen ins Ausland. Viele versuchen ihr Glück in der Schweiz. Ein Besuch in der Bar da Liga im Kleinbasel.
Wir sind zum Abendessen eingeladen. Leicht zurückversetzt in einer Einfahrt im unteren Kleinbasel öffnet sich die Glastüre zu einem portugiesischen Lebensmittelgeschäft. Vorbei an Stockfisch, Schinken, Olivenöl, durch eine weitere Türe, dann stehen wir mitten in Portugal.
Von einer Stützsäule lächelt eine ausgestopfte Wildsau, weiter hinten im Raum flimmern über einen Flachbildschirm Aufnahmen der jüngsten Gewerkschaftsproteste aus Lissabon. An den Wänden hängen Bilder von portugiesischen Fussballstadien neben einer eingerahmten Landesflagge. An der Bar trinken zwei Männer schweigend portugiesisches Bier.
Luís*, der Koch, trägt die gefüllten Weinkaraffen an die gedeckten Tische. Manuel, der Besitzer von Bar und Geschäft, schöpft währenddessen Berge von Schweinefleisch, Kartoffeln und Kohl aus einem grossen Topf auf die silbernen Servierschalen. «Heute Abend», sagt Luís, «gibt es Cozido a portuguesa, eines unserer Nationalgerichte.»
Fast jeden Abend kocht Luís ein Essen für zwei, drei Stammgäste. Viele von ihnen leben alleine und sind froh, wenn sie sich zu moderaten Preisen an einen gedeckten Tisch setzen können. So viele Gäste wie heute Abend bewirtet er jedoch nur selten. Um den Tisch versammelt sitzen sieben Gäste: José ist seit 25 Jahren in der Schweiz, Marco kam vor 11 Jahren, Luís, der Koch, ist seit 23 Jahren hier, Manuel, der Wirt, seit 25 Jahren, Paul kam vor 18 Jahren erstmals in die Schweiz.
Kinder der Krise
Ihre Geschichten ähneln sich. Sie alle verliessen ihr Land mit der ersten portugiesischen Auswanderungswelle. Jeder von ihnen hat lang auf dem Bau gearbeitet. Mit am Tisch sitzen auch Nisa und Pedro. Die jungen Architekten sind Kinder der Krise und erst kürzlich aus Portugal ausgewandert; Nisa vor zwei Jahren, Pedro erst vor vier Monaten.
Der Nachrichtensprecher auf dem Flachbildschirm hat unterdessen von der Schliessung eines Flughafens berichtet. Jetzt feixt ein klein gewachsener, übergewichtiger Spassmacher mit Schirmmütze in die Kamera. Die Sendung trägt den Titel «O Preço Certo», auf Deutsch «Der richtige Preis». Die Gäste müssen den Geldwert verschiedener Produkte erraten – Autos, Reisen, Fernseher. Wer dem Preis am nächsten kommt, gewinnt. Der Fernseher in der Bar da Liga ist Verbindung zur Heimat und gemeinsamer Identifikationspunkt. «Was wir wissen über unser Land und die Krise, wissen wir aus dem portugiesischen Fernsehen», sagt Luís.
Nicht so Pedro, er kennt die Krise aus nächster Nähe. Während seinen letzten Monaten in Porto hat er den wirtschaftlichen Niedergang unmittelbar miterlebt. Er musste zuschauen, wie seine Freunde einer nach dem anderen das Land verliessen, und ist schliesslich selber gegangen. «In Portugal war ich glücklich. Aber es gab nichts zu tun für mich. So bin ich hierher gekommen.»
«Das ist doch nicht fair!»
Pedro kritisiert die Europäische Zentralbank, den Internationalen Währungsfonds und auch die Schweiz. «Weshalb haben hier alle so viel Geld? Das ist doch nicht fair. Es ist verrückt.» Als gelernter Architekt macht er ein Praktikum bei einer kleinen Agentur, monatlich verdient er 1500 Schweizer Franken. «Es fällt mir schwer, mich hier wohl zu fühlen. Ich habe nicht erwartet, dass die Unterschiede zu Portugal derart gross sind.»
Sein Praktikum endet Anfang Jahr, was dann kommt? Pedro zuckt mit den Schultern. Nisa, die seit zwei Jahren als Architektin in der Schweiz arbeitet, hört aufmerksam zu. «Ich bin sehr gerne hier, habe eine gute Arbeit und Freunde. Aber den Kulturunterschied spüre ich auch. In Portugal sind die Menschen kontaktfreudiger. Wir treffen uns so oft wie möglich zum Kaffeetrinken oder zum Essen. Und dabei geben wir manchmal auch mehr Geld aus, als wir haben.»
Viele Gesichter am festlich gedeckten Tisch sind nachdenklich. Während die Fleischberge kleiner werden und Wein nachgeschenkt wird, erzählt Paul stockend von seiner Arbeit auf dem Bau. Die Männer sind viele Jahre in der Schweiz. Die Sätze gehen den meisten Männern am Tisch dennoch nur bruchstückhaft über die Lippen. «Wir können jene Sprachen, die auf der Baustelle gesprochen werden. Deutsch brauchen wir im Alltag kaum. Das ist das Problem», erklärt Marco, der seit elf Jahren in der Schweiz lebt. Italienisch, Spanisch und auch Französisch sind kein Problem, bestätigt Manuel. «Aber Deutsch sehr schwer.» Zu Hause, mit seiner Frau und seinem Sohn, spricht er Portugiesisch.
Am liebsten wieder zurück
Luís trägt die Teller in die Küche und räumt ab, was übrig geblieben ist von Speck, Schweinsohren, Würsten, Schinken, Kartoffeln und Kohl. Eine Minute später kommt er mit der Grappaflasche und Espressi zurück an den Tisch. Die Runde wird redseliger, das Gespräch kommt erneut auf die Krise. Luís setzt sich mit seinem massigen Körper auf einen Stuhl und beginnt zu erzählen: Von seiner Mutter in Portugal, die mit 64 Jahren Kartoffeln und Mais anbaut, um zu überleben. Von der Regierung, die vier hohe Feiertage gestrichen hat. Von seiner 14-jährigen Tochter, die in Portugal lebt und nach ihrem Schulabschluss in die Schweiz kommen will.
Auch Paul ist ohne seine Familie hier. «Wäre die Situation in Portugal besser, ginge ich noch heute zurück zu meiner Frau und meinen Kindern.» Seiner Frau gefalle es nicht in der Schweiz, und in Portugal habe sie eine Stelle als Kindergärtnerin. Paul steckt genauso hier fest wie Manuel, der eigentlich längst daheim sein möchte: «Ich wollte in die Schweiz kommen, ein Auto kaufen, Geld verdienen und dann nach einigen Jahren zurück. Jetzt bin ich immer noch hier.»
Die Runde bewegt sich vom Tisch in Richtung Bar, Grappa wird nachgefüllt. Luís verschwindet im Keller und kommt zurück mit einer gerahmten Sammlung alter portugiesischer Banknoten. Escudo hiess die Währung, bis mit der Jahrtausendwende der Euro kam.
Erstmals an diesem Abend kommt ein Lächeln in Manuels Gesicht. Gestikulierend erklärt er den damaligen Wert der verschiedenen Noten und erinnert sich, was er dafür alles bekam. «Den ganzen Kofferraum konnte ich damit mit Essen füllen. Ja», sagt er, «damals war es noch ein besseres Leben in Portugal.»
*Die vollständigen Namen sind der Redaktion bekannt.
Portugal galt schon vor der aktuellen Krise als das ärmste Land Westeuropas. Zu den Hauptexportgütern des Landes gehören Rinderhäute, Kork, Anthrazit und Marmor. Dem wirtschaftlichen Tief über Europa hat das Land mit seinen knapp 11 Millionen Einwohnern wenig entgegenzusetzen. Die Arbeitslosigkeit erreichte zu Beginn dieses Monats mit 16 Prozent einen neuen Höchststand. Bei den unter 24-Jährigen ist jeder und jede Dritte ohne Arbeit. Eine rasche Trendwende ist nicht zu erwarten.
Portugal erlebt gegenwärtig die grösste Auswanderungswelle aller Zeiten. Allein im letzten Jahr haben 150 000 Menschen Portugal verlassen. Zu den Hauptdestinationen der Emigranten gehören Brasilien, Grossbritannien und die Schweiz. Zwischen August 2011 und August 2012 haben sich 13’600 Portugiesen hier niedergelassen, mehr als aus jedem anderen Land. Die jüngsten Einwanderer führen eine Tradition fort, die in den Sechzigerjahren ihren Anfang nahm, als die ersten portugiesischen Gastarbeiter in die Schweiz kamen.
Heute bilden die Portugiesen in der Schweiz die drittgrösste Gemeinschaft nach Italienern und Deutschen. Ende August zählte das Bundesamt für Migration (BFM) 234’000 in der Schweiz registrierte Portugiesen und Portugiesinnen. Zwischen 1960 und 2000 kamen grösstenteils schlecht ausgebildete Arbeiter aus dem benachteiligten Norden des Landes in die Schweiz. In jüngster Zeit suchen auch zunehmend Architekten, Ärzte und Ingenieure ihr Glück in der Schweiz. Das BFM geht davon aus, dass rund ein Viertel der jüngsten Einwanderer über einen Hochschulabschluss verfügt.
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Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 07.12.12