Eigentlich passt Frankreich nicht in die EU. Vor dem Verlust der französischen Identität, der «exception culturelle», hat sich die Grande Nation aber nie gefürchtet.
Franzosen fürchten vieles: dass sie mit der Globalisierung nicht mithalten können, dass sie unter die Räder der nächsten Schuldenkrise geraten – und eigentlich schon seit Asterix’ Zeiten, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt.
Dass die gallische Nation in der EU ihre Identität verlieren könnte, gehört aber nicht zu ihren Grundängsten. Weil die Grande Nation gross und stark ist und den Eurokraten in Brüssel notfalls Paroli bieten kann? Nein, wichtiger ist, dass die Franzosen im europäischen Einigungsprozess von Anfang an dabei waren und die einzelnen Integrationsschritte nach und nach vollziehen konnten. Dabei stellten sie etwas fest: mit «Europa» lässt sich ganz gut leben. Sogar besser als ohne.
Beispiel Euro: Ohne die Einheitswährung hätte Frankreich mit der deutschen Exportmaschine kaum Schritt halten können und den Franc – wie früher – öfters abwerten müssen. Ein Ende des Euro wäre für die französische Volkswirtschaft eine Katastrophe: Nach Berechnungen des angesehenen Pariser Instituts Montaigne würde ein solcher Schritt in Frankreich eine verheerende Rezession von 6 bis 19 Prozent auslösen – je nach der Art der Durchführung.
Gelassen gegenüber Bürokraten
Gewiss, so wenden die französischen «Souveränisten» der Linken und vor allem der Rechten ein: Die Direktiven der EU-Bürokratie greifen direkt in den Alltag ein und regeln ihn bis in die Details. Brüssel bestimmt den Radabstand der Einkaufswägelchen genauso wie die Mindestbreite der Treppenstufen in öffentlichen Gebäuden. Doch das ist keine Katastrophe – sonst würde die Mindestlänge der Scheibenwischer in einer Pariser Amtsstube festgelegt. Das wäre auch nur auf dem Papier etwas demokratischer.
Zudem verkauft sich der Camembert trotz allen europäischen Rohmilch-Direktiven bestens in den Nachbarländern. Dank dem Binnenmarkt lassen sich französische Leckerbissen und Edelweine sogar besser nach Portugal oder Finnland exportieren. Und dass die Foie gras wegen des brutalen Entenstopfens in einzelnen EU-Staaten wie England und neuerdings auch Italien auf Einfuhrhürden stösst, hat nichts mit der EU zu tun. Solche Vorkehrungen treffen die einzelnen Länder, nachdem als erstes Kalifornien ein Importverbot für Foie gras erlassen hat.
Rückendeckung aus Brüssel
Dort, an der US-Westküste, wollten die Winzer das Wort «Château» – die Bezeichnung der Bordeaux- und einiger anderer Weine – auf ihre Etiketten kleben. In internationalen Verhandlungen setzte sich aber Frankreich durch, und zwar mithilfe der EU. Das «Schloss» bleibt im Dorf und «Château» eine frankophone Bezeichnung. Ohne die Rückendeckung Brüssels wäre Frankreich vielleicht eingeknickt, wenn die Amerikaner im Gegenzug Airbus-Aufträge ins Spiel gebracht hätten.
Kurz, im Grossen und Ganzen profitieren die Franzosen klar von der EU. Zudem zieht das Wort «grandeur» in Frankreich weiterhin – und «L’Europe» gilt in Paris als Fortsetzung der ehemaligen Grossmacht mit anderen Mitteln.
Sie sagen auch mal Nein
Und was ist mit Frankreichs «exception culturelle», dem Pendant zum Schweizer Sonderfall? Das sehr zentralistische, ja etatistische Modell Frankreichs passt eigentlich zur europäischen Föderalisierung und Liberalisierung wie die Faust aufs Auge. Frankreich musste jedoch an seinem Präsidialsystem der Fünften Republik nie Abstriche vornehmen. Die beiden Systeme vertragen sich überraschend gut. Und wenn ihnen die Brüsseler Ansprüche zu weit gehen, scheuen sich die Franzosen nicht, in einer Volksabstimmung «non» zu sagen.
Nun liesse sich einwenden, ein allfälliges Schweizer Volksnein hätte innerhalb der EU kaum das gleiche Gewicht wie das französische. Die störrischen Iren müssen jeweils so lange abstimmen, bis ihr Urnenresultat EU-konform ist. Der Schweiz würde dieses Los kaum blühen: In Brüssel weiss man, dass die Schweizer mindestens so stark auf ihre Eigenheit bedacht sind wie die Franzosen oder die Iren – und den EU-Apparat notfalls ohne Wimpernzucken blockieren würden. Um dies zu verhindern, würden gerade Franzosen der Schweiz bereitwillig ein paar demokratische Sonderrechte einräumen, damit sie den EU-Fortschritt nicht hemmt.
Gar nicht einheitlich
Die weitgehende Verträglichkeit der europäischen und der französischen Identität hat laut dem Historiker Pierre Nora einen Grund: Aufgrund seiner Geschichte sei das aus Bretonen, Korsen oder Elsässern zusammengewürfelte Volk der Franzosen gar nicht so einheitlich. Selbst abgesehen von den regionalen Eigenheiten verfüge es über «mehrere nationale Identitäten», so etwa eine monarchische und eine revolutionäre, eine urfranzösische und eine kolonial-kosmopolitische, dazu eine katholische und eine laizistische. Aus diesem Grund könne diese Nation auch eine weitere, nämlich die europäische Identität gut integrieren.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12