Vor genau 20 Jahren hat das Schweizer Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt. Heute sehen Franz Blankart und Andi Gross für die Schweiz nur noch eine Lösung. Und die wird nicht allen gefallen.
Die beiden Männer haben eine Geschichte miteinander. Vor zwanzig Jahren, als die Schweiz nach dem Ende des Kalten Krieges auf der Suche nach sich selber war, handelte Franz Blankart, Staatssekretär, Oberst in der Armee, in Brüssel den EWR-Vertrag aus. Andi Gross, SP-Nationalrat, Armeeabschaffer, war damals gegen den EWR und ist es immer noch. Heftig seien die Diskussionen zwischen den beiden gewesen, sagen sie heute. Heftig, aber brüderlich. Als Andi Gross einen Lehrauftrag in Speyer hatte, durfte er sich regelmässig den Daimler von Blankart ausleihen.
Zwanzig Jahre später treffen sich die beiden Männer wieder zum Gespräch. Die Situation ist gar nicht so anders. Seit dem Nein zum EWR 1992 müht sich die Schweiz auf dem bilateralen Weg ab; ein Weg, der bald zu Ende sein dürfte. Diesen Dezember wird die Antwort der EU auf die Schweizer Vorschläge für eine vertiefte Zusammenarbeit erwartet. Erste Signale deuten darauf hin, dass die EU nicht mehr länger bereit ist, einen Schweizer Sonderweg zu akzeptieren. Was also tun? Der Realität ins Auge sehen, sagt der ehemalige Staatssekretär Blankart (76). «Die Utopie leben!», entgegnet Gross (60).
Die EU droht auseinanderzubrechen. Trotzdem sind Sie sich beide darin einig, dass man sich enger an die Union binden soll. Ist das nicht eine etwas verwegene Position?
Franz Blankart: Ich möchte infrage stellen, dass die EU tatsächlich auseinanderbricht. Ich spreche ja vor allem vom EWR, und gerade diese Institution wird sicher bleiben.
Andi Gross: Ist sich die TagesWoche bewusst, in welch unselige ignorante Kontinuität sie sich mit dieser Frage begibt? Es ist eine der Besonderheiten der schweizerischen Europadiskussion, dass ständig behauptet wird, die EU werde untergehen. Es ist die ständige Vorahnung eines Zusammenbruchs, der nie kam und der nie kommen wird. Es werden wohl einzelne Länder austreten, es werden aber noch mehr Länder eintreten in den nächsten zehn Jahren. Aber die EU wird in ihrem Wesen in irgendeiner Form ganz sicher zusammenbleiben. Gerade in Krisen verändert sich die EU, wächst und vertieft sich auch. Ich bin überzeugt: Auch die Schweiz muss sich in der EU integrieren. Es gibt kein wesentliches Problem, das wir ohne Europa besser lösen könnten als mit Europa.
Blankart: Ein Hinweis aus wirtschaftlicher Sicht: Jede Marktzugangsrichtlinie der EU hat zur Folge, dass die EWR- und EU-Staaten einander gleichgestellt werden. Die Schweiz wird dabei automatisch diskriminiert. Was macht eine Firma, wenn sie diskriminiert wird? Sie verlegt Arbeitsplätze ins Ausland. Ich bin überzeugt: Eine Änderung in unserem Verhältnis zur EU wird auch von der Wirtschaft verlangt werden – ob uns diese Änderung passt oder nicht.
Dennoch: Zwanzig Jahre nach dem Nein zum EWR ist die Zustimmung der Schweizer Bevölkerung zu Europa so klein wie noch nie. Was ist falsch gelaufen?
Blankart: Es ist nicht dasselbe, ob man für einen EU-Beitritt ist oder für den EWR-Beitritt. Ich spreche jetzt bewusst nicht vom EU-Beitritt, da er meines Erachtens nicht realistisch ist für meine und die folgende Generation. Heute ist die unmittelbare Zukunft von Interesse. Und in dieser Zukunft ist die Schweiz schachmatt gesetzt.
Der bilaterale Weg ist zu Ende?
Blankart: Ja. Die einzigen Optionen für die Schweiz sind ein Beitritt zur EU oder ein Beitritt zum EWR. Der Bundesrat ist aber, wie mir scheinen will, für das Zuwarten. Aber wenn man schachmatt ist, nützt zuwarten nichts mehr.
Gross: Es gibt kein Warten nach dem Schachmatt. Nach dem Schachmatt ist man tot. Mausetot. Das Problem ist folgendes: Man kann eine vermeintliche Erfahrung, die sich 120 Jahre lang in den Köpfen der Menschen verfestigt hat, nicht innerhalb von zwei, drei Jahren wieder ändern. Seit 1871, seit sich die beiden Referenzkulturen Deutschland und Frankreich erstmals zur Zeit des neuen schweizerischen Bundesstaates bekriegten und sich die Schweiz bis 1945 aus allen folgenden Schlachten in einer «grausam klugen Art» herausgehalten hat, wie das Friedrich Dürrenmatt formulierte; seit jenen Tagen denken zu viele in der Schweiz, alleine alles besser machen zu können. Die Schweiz hat sich aber durch das 20. Jahrhundert gewurstelt, indem sie mit allen «grausam klug» zusammengearbeitet hat. Moralisch war das nicht sehr gediegen. Und vor allem widersprach es dem Grundgedanken der EU: Wir retten miteinander, was wir alleine verloren haben. Dazu braucht es aber die Einsicht in die eigene Schwäche. Und das hat die Schweiz nie geschafft. Darum kann man bis heute nicht mehr gelassen und vernünftig über Europa diskutieren. Diese vermeintliche Erfahrung des erfolgreichen Alleingangs und die darin gründende Mentalität lassen sich nicht per Knopfdruck ändern.
«Die vermeintliche Erfahrung des Alleingangs lässt sich nicht per Knopfdruck ändern.» Andi Gross
Das mag ja alles stimmen. Aber Fakt ist doch, dass die Zustimmung zu Europa beim knappen Nein zum EWR noch viel grösser war als heute. Darum noch einmal: Was ist seither geschehen?
Blankart: Es stimmt, 1989 gab es einen gewissen Europa-Fatalismus. Selbst ältere Leute in meiner Familie sagten damals – ohne grosse Begeisterung –, am Schluss müssen wir einfach beitreten. Diese Art von Fatalismus besteht heute nicht mehr.
Warum?
Blankart: Das ist eine gute Frage.
Gross: Die EU stand 1990/91 vor einer doppelten historischen Aufgabe, die sie überforderte. Sie musste damals die mittel- und osteuropäischen Länder integrieren; Länder, die durch die Rote Armee von der europäischen Integration ausgeschlossen und durch eine totalitäre Herrschaft geprägt waren. Diese Integration hätte politisch stattfinden müssen: Stattdessen konzentrierte sich die EU wie immer seit 1957 auf die Wirtschaft, orientierte sich Richtung Exekutive und wurde zum bürgerfernen Eliteprodukt, das sie heute ist. Diese Ausrichtung war ein Preis für den Kalten Krieg. Als Sozialdemokrat schäme ich mich heute, dass es die damals mehrheitlich in den EG-Regierungen sitzenden Sozialdemokraten waren, die die Notwendigkeit einer Transnationalisierung der Demokratie nicht erkannten. Auch ihnen war die Wirtschaft näher als die Demokratisierung der EU und die Europäisierung der Demokratie. Die heutige Krise hat einen zusätzlichen Schub Richtung Dominanz der Exekutive gebracht. All das sehen die Schweizer. Sie sehen alles, was nicht perfekt ist an der EU, und sie sehen es durch ein Vergrösserungsglas.
Daran ist ja nichts Verwerfliches.
Gross: Nein. Verwerflich ist aber der Mangel an Aufklärung, Durchblick und Reformperspektiven. Niemand sagt den Schweizerinnen und Schweizern, dass die unzureichende Gestalt der EU zum Besseren verändert werden könnte. Und niemand erklärt den Schweizerinnen und Schweizern, dass wir heute schon von der EU abhängig sind. Und dass wir darum besser mitbestimmen sollten.
Dem steht die Auffassung gegenüber, dass wir dank den bilateralen Verträgen immer noch ein grosses Mass an Souveränität bewahren konnten.
Blankart: Sind wir tatsächlich gut gefahren? Wir haben im Prinzip nichts anderes gemacht, als einzelne Kapitel aus dem EWR rauszunehmen und daraus Verträge zu machen. Das ist kein Gesellenstück, das ist relativ einfach. Dank den Verträgen haben wir Zugang zum Binnenmarkt und darum sagt sich die EU heute, wenn die Schweiz Zugang zu unserem Binnenmarkt möchte, muss sie auch unsere institutionellen Bedingungen übernehmen. Der Bundesrat fordert dagegen einen bilateralen EWR ohne Supranationalität – und das wird die EU kaum akzeptieren, um es diplomatisch auszudrücken.
Die Vorschläge der Schweiz sind noch in der Vernehmlassung. Sie denken, die EU werde sie ablehnen?
Blankart: Ja, allen voran EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der übrigens mein Schüler war.
Gross: Ein ehemaliger Maoist.
Blankart: Der unter meiner Führung ein Liberaler wurde.
Gross: Aber kein Demokrat. Dieses Denken hat er bei Ihnen nicht gelernt, Herr Blankart.
Blankart: Ja, jedenfalls wird er die Schweizer Vorschläge nicht akzeptieren. Und folglich wird auch die EU-Kommission die Vorschläge nicht akzeptieren. Das Bundeshaus rechnet mit seinem Einfluss auf die Mitgliedstaaten, hofft auf die Sympathie der Deutschen, der Franzosen und der Mitteleuropäer. Aber ich sehe nicht ein, warum sich Deutschland von einem supranationalen EU-Gericht überwachen lässt, warum sich Norwegen von einem supranationalen EFTA-Gericht überwachen lässt, und die Schweizer das Gefühl haben, sie könnten sich von einem Schweizer Gericht überwachen lassen. Dazu kommt, dass wir uns mit der Anwendung der Ventilklausel und gewissen Steuerabkommen nicht unbedingt Freunde in Europa geschaffen haben.
Gross: Ein bilateraler Vertrag ist ein Vertrag zwischen einem 8-Millionen-Staat und einer 500-Millionen-Staatengemeinschaft. Es gibt keinen Lebensbereich in der Schweiz, der nicht von Europa tangiert ist. Folglich könnten wir alle Lebensbereiche zum Gegenstand bilateraler Verträge machen und würden damit die Souveränität, jenen für den alt Ständerat René Rhinow «mythischsten Kampfbegriff unserer Zeit», völlig verlieren. Jeder bilaterale Vertrag drückt die Bereitschaft aus, ein Stück Souveränität abzugeben. Die Halbwertszeit von bilateralen Verträgen war von Beginn weg vorgezeichnet – eine 30-Staaten-Gemeinschaft gibt einem Kleinstaat nicht die gleichen Rechte wie sich selber. Aber das hat niemand dem Schweizer Volk erklärt. Stattdessen wurde der bilaterale Weg zum Königsweg erklärt. Ein Königsweg, dessen Ende in der Sackgasse von Anfang an absehbar war.
Ihr Ausweg aus der Sackgasse, Herr Blankart, ist der Beitritt zum EWR. Wie souverän wäre die Schweiz noch bei einem Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum?
Blankart: Souveräner als heute. Heute benutzen wir die Xerox-Methode, wir kopieren automatisch EU-Recht. Ich halte das für eines sogenannt souveränen Staates unwürdig. Wären wir im EWR, hätten wir zumindest Einfluss auf die Ausgestaltung des künftigen Rechts. Mein Lehrer Paul Jolles, damaliger Direktor des Bundesamts für Aussenwirtschaft, hat schon 1972 bei der Verhandlung des Freihandelsabkommens erkannt, dass eine echte Mitbestimmung nicht möglich ist. Das Maximum im EWR ist Mitwirkung bei den Verträgen.
Gross: Man muss bei Herrn Blankart genau aufpassen, wie er argumentiert. Er macht einen feinen Unterschied zwischen Mitbestimmung und Mitwirkung. Diese Mitwirkung sei gegeben im EWR und sie sei grösser als null. Ehrlich gesagt: Auch wenig ist grösser als null. Uns verbinden einige Geheimnisse, und wir wollen hier nicht alle verraten. Eines aber schon: Herr Blankart hat mir schon vor zwanzig Jahren gesagt, dass wir im EWR keine gleichberechtigte Mitbestimmung erreichen würden. Ein Elefant kann einer Maus nicht die gleiche Mitbestimmung gewähren, selbst wenn er das wollte. Er hätte anstelle des Bundesrates diese Vorlage denn auch nicht zur Volksabstimmung bebracht.
Und dennoch befürworten Sie, Herr Blankart, heute den EWR- und nicht den EU-Beitritt. Warum?
Blankart: Weil ich leider kein Utopist bin. Ich bewundere Personen wie Andi Gross, die ein Weltbild besitzen, in dem die Utopie Platz hat. Aber in der wenigen Zeit, die mir noch bleibt, macht es keinen Sinn, sich für etwas einzusetzen, was keinerlei Chancen hat. Ich versuche, zu erreichen, was möglich ist. Und möglich ist ganz wenig. Mit jeder Richtlinie der EU werden wir weiter diskriminiert. Was bleibt ausser dem EU-Beitritt? Nur der EWR.
Gross: Ich habe Mühe mit dem Wort unrealistisch. Jede grosse Sache in der Schweiz wurde hundert Jahre als unrealistisch bezeichnet, bevor sie erkämpft war. Die EU ist in Veränderung begriffen und sie hat zwei Hauptoptionen: entweder eine weitere Hierarchisierung, Zentralisierung, Entdemokratisierung, indem man der EU-Kommission noch mehr Macht gibt. Die zweite Option ist die Renationalisierung der EU. Bei der Diskussion dieser beiden Möglichkeiten geht der dritte Weg vergessen, jener Weg, der heute so intensiv wie noch nie in der EU diskutiert wird. Wolfgang Schäuble, der deutsche Finanzminister, der französische Bildungsminister Vincent Peillon oder auch Guy Verhofstadt, der ehemalige belgische Premierminister und Chef der Liberalen im Europaparlament, sprechen sich heute für einen europäischen Bundesstaat aus. Es braucht eine verfassungsgebende Versammlung, die ohne Einfluss der Exekutive eine echte Verfassung entwirft. In einem solchen Szenario könnte man den Schweizern ihre demokratischen Möglichkeiten aufzeigen: Wir könnten der Kanton Zug in Europa werden. Dieser dritte Weg ist nicht so fern: Viele Menschen in Europa teilen unsere Kritik an der EU. Es gibt Momente in der Geschichte, in denen es plötzlich sehr schnell geht.
Schnell könnte es auch für die Schweiz gehen. Etwa, wenn der bilaterale Weg von der EU beendet wird. In der Bundesverwaltung und auch im Bundesrat ist das bekannt. Warum sagt man uns das nicht offen?
Gross: Der ehemalige Tessiner Ständerat Dick Marty sagte jeweils: Ein guter Politiker versucht, die Mehrheit von seinen Einsichten zu überzeugen. Ein schlechter Politiker adaptiert seine Position an jene der vermeintlichen Mehrheit. Wir haben zu wenig Bundesräte, die bereit sind, geistig Neuland zu betreten und zu beackern.
Bleiben wir einen Moment bei der Utopie von Herrn Gross, den Vereinigten Bundesstaaten von Europa. Würden wir in diesem Bundestaat nicht unsere Souveränität und damit unser Selbstverständnis verlieren?
Blankart: Ja, das wäre ein riesiger Brocken. Was in Brüssel von den Ministern beschlossen wird, darüber könnten wir nicht mehr abstimmen. Das wäre der hohe Preis, den die Schweiz für einen Beitritt zahlen müsste.
Gross: Die Schweiz würde aber auch viel gewinnen. Der Kanton Basel-Stadt etwa hat bei der Entstehung des Bundestaates 1848 Souveränität verloren, der einzelne Basler hat Souveränität gewonnen, weil er auf eidgenössischer Ebene weitgehende Mitbestimmungsrechte erhielt. Wenn wir auf europäischer Ebene ähnliche demokratische Rechte einrichten, gewinnen wir Souveränität – wie 1848.
Dann wäre die richtige Haltung, auf die Einrichtung dieses Bundesstaates zu warten.
Gross: Nein! Wenn wir abwarten, können wir nicht daran mitarbeiten. Wenn wir so lange warten, bis Europa nach unserem Gutdünken gestaltet ist, müssen wir auch nicht mehr beitreten. Europa ist eine gemeinsame Aufgabe.
Noch einmal konkret: Wie viele Abstimmungen hätten wir in den letzten Jahren als EU-Mitglied nicht mehr abhalten können?
Gross: Ein Viertel der Abstimmungen hätte wohl nicht mehr so stattfinden können, etwa im Bereich der Landwirtschaft. Aber das heisst nicht, dass wir ein Viertel an Einfluss verloren hätten. Wir könnten auf einer anderen Ebene mehr Mitbestimmung dazugewinnen.
«Die einzigen Optionen für die Schweiz sind ein Beitritt zur EU oder ein Beitritt zum EWR.» Franz Blankart
Sie reden immer wieder von der Entstehung des Schweizer Bundesstaates 1848. Deren Voraussetzung war eine Revolution. Würde eine verstärkte politische Integration der EU nicht auch gewalttätig verlaufen?
Blankart: Nein, dieser Prozess wäre durchaus unblutig. Als 1989 der Kalte Krieg zu Ende war, ging der ganze Umschwung, allem voran in Deutschland, unblutig vonstatten. Das ist eine der grossen Errungenschaften der EU und nicht mehr vergleichbar mit der Situation im 18. oder 19. Jahrhundert.
Gross: 1848 ging es auch um Fragen religiöser Weltanschauung, die wollten die Beteiligten blutig lösen. Von dieser Vorstellung hat sich die EU schon längst emanzipiert. Es gibt zwar viele Konflikte, aber gleichzeitig herrscht die Einsicht, dass mit einer blutigen Austragung der Konflikte niemand etwas gewinnt.
Blankart: Genau darum ist es eine monumentale Dummheit, wenn man auf das Auseinanderbrechen der EU setzt. Das würde einen Rückschritt von hundert Jahren bedeuten.
Also bleibt die grundsätzliche Frage: Wie wollen Sie die Schweizer von Europa überzeugen, ohne als Verräter dazustehen?
Gross: Die frühere Aussenministerin Calmy-Rey schrieb sich die öffentliche Diplomatie auf die Fahne. Und vergass dabei, dass mindestens die Hälfte der öffentlichen Diplomatie darin besteht, dem eigenen Land die Welt zu erklären. In der Schweiz denkt man, diese Einsichten würden in der Schule vermittelt oder fielen vom Himmel. Aber so ist es eben nicht. Man muss sich anstrengen, muss ringen um sein Weltbild. Der Bundesrat muss Ressourcen sprechen, damit wir endlich richtig über unsere Perspektiven in der Welt und in Europa reden können. In Norwegen gibt es regelmässige Diskussionen mit Bürgern, bei denen die Rolle Norwegens in der globalen Aussenpolitik besprochen wird. Es ist himmeltraurig, wird das in der Schweiz nicht gemacht. Dabei hätten wir doch Referenzen, an die wir anknüpfen könnten! Zwischen 1830 und 1870 war die Schweiz das progressivste, das europäischste Land in ganz Europa. Davon hat der Bundesrat noch 1920 gezehrt, als er engagiert in den Völkerbund wollte. 1848 haben wir Revolutionären aus ganz Europa nicht nur Asyl gewährt, sondern auch noch das Bürgerrecht geschenkt. Der belgische Widerstand hat 1942 festgehalten, dass man nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam festigen müsse, was man alleine verloren habe. Und dabei nannten sie den Bundesstaat von 1848 als Vorbild. Nur weiss das in der Schweiz niemand mehr!
Blankart: Ich teile diese Auffassung zu hundert Prozent. Wir haben nicht den Mut, weiterzuführen, was wir mit grossem Erfolg einmal bei uns eingeführt haben. Das hat vermutlich damit zu tun, und das ist gefährlich zu sagen, dass wir nie angegriffen wurden. Wären wir im Ersten und im Zweiten Weltkrieg angegriffen worden, wir wären Gründungsmitglied der UNO …
Gross: … der Nato …
Blankart: … das wollte ich eben sagen. Wir wären Gründungsmitglied der UNO, der Nato und der EU.
Gross: So wie Dänemark, die Niederlande oder Belgien, die in den Weltkriegen Hunderttausende von Toten zu beklagen hatten.
Wenn wir in der EU wären, würden wir zum Nettozahler. Das verhindert ein Ja bei jeder Abstimmung.
Gross: Bisher haben wir zu wenig bezahlt für das, was wir von der EU erhalten. Wir haben eine hohe Bringschuld. Unsere intakte Wirtschaft konnte nach 1945 überall ihre Waren verkaufen, weil die EU die Länder befriedet hat. Bisher ging das gratis bis ganz billig, in Zukunft lässt sich das nicht mehr rechtfertigen. Der Preis wird nicht zu hoch sein. Was wir dafür bekommen, ist mehr wert.
Franz Blankart (76) war Schweizer Staatssekretär und in dieser Funktion Chefunterhändler bei der Ausarbeitung des EWR. Er studierte Philosophie (bei Karl Jaspers), Deutsch Kunstgeschichte, Nationalökonomie und Recht in Basel, Bern, Paris und Exeter. Blankart war ab 1965 im diplomatischen Dienst sder Schweiz und zwischen 1974 Dozent am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien.
Andi Gross (60) sitzt seit 1991 für die SP im Nationalrat. Er ist Mitbegründer der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und ist einer der parlamentarischen Vertreter der Schweiz im Europarat. Er ist ein unermüdlicher Weibler für Europa und wäre sogar bereit die unsozialste aller Steuern, die Mehrwertsteuer, auf europäisches Niveau anzuheben. Mit den zusätzlichen Einnahmen könne das Gesundheitswesen sozialer finanziert werden.
Quellen
Die EWR-Serie der NZZ.
Die Abstimmungsresultate vom 6. Dezember 1992.
So berichtete Schweizer Fernsehen 1992 über die EWR-Abstimmung.
Der Röstiggraben von 1992.
Ein Aufsatz im «Schweizer Arbeitgeber», zehn Jahre nach der Abstimmung.
Argumente der AUNS
Claude Longchamp über das Abstimmungsverhalten bei EU-Abstimmungen
Interview mit Johann Schneider-Ammann zum bilateralen Weg
Das Manifest von Guy Verhofstadt und Daniel Cohn-Bendit
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12