Der Alleingang ist ein Mythos: Sogar Vollmilch produzieren wir jetzt so mager wie die EU. Doch beim Konsumentenschutz verpassst die Schweiz den Anschluss.
Milch von den Grossverteilern schmecke inzwischen etwa gleich schlecht wie Wein, der Zapfen habe. Dies schrieb ein Leser dem Briefkasten-Onkel des «Tages-Anzeigers» (Artikel online nicht verfügbar). Der Milchtrinker mag einen besonders ausgeprägten Geschmackssinn haben, doch die Produzenten haben die Milchproduktion tatsächlich umgestellt. Die Schweiz passte sich den Normen der Europäischen Union an: Vollmilch gibt es jetzt auch hier mit dem europaweit «standartisierten» Fettgehalt von 35 Gramm pro Kilo.
Der Verband der Schweizer Milchproduzenten hatte sich dagegen gewehrt, dass die Schweiz diese Bestimmung übernimmt: Ein solch tiefer Fettgehalt bei Vollmilch sei «nicht akzeptabel», weil damit Konsumentinnen und Konsumenten getäuscht würden, schrieb der Milchverband in der Vernehmlassung. Vergeblich.
Jetzt darf auch in der Schweiz «Vollmilch» mit tiefem Euro-Fettgehalt verkauft werden. Damit werde das schweizerische Lebensmittelrecht dem europäischen angeglichen, schrieb das Eidgenössische Departement des Innern, als die Bestimmung vor vier Jahren in Kraft trat.
Die EU gibt vor, die Schweiz übernimmt ungeniert
Das Beispiel Vollmilch zeigt typisch, wie sich das Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union verändert hat. Nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) setzte die Schweiz in den 1990er-Jahren noch darauf, dass die EU eidgenössische Bestimmungen und Bescheinigungen als gleichwertig anerkennt. Diesen Umweg geht die Schweiz nicht mehr. Inzwischen übernimmt sie EU-Bestimmungen einfach: ob Grenzwerte für Zusatzstoffe in Lebensmitteln oder eben den Fettgehalt von Vollmilch. Die EU gibt vor, die Schweiz übernimmt ungeniert. Das gilt spätestens, seit das Parlament dem sogenannten Cassis-de-Dijon-Prinzip zugestimmt hat. Was in der EU oder im EWR zugelassen ist, darf «grundsätzlich auch» in der Schweiz verkauft werden.
Anschluss verpasst
Doch während der Bund alles unternimmt, um Handelshindernisse abzubauen, verpassst die Schweiz beim Konsumentenschutz den Anschluss an Europa. Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stifung für Konsumentenschutz, kritisiert: «Die EU hat nicht nur ihre Märkte geöffnet, sondern gleichzeitig auch die Konsumentenrechte gestärkt. Die Schweiz hingegen öffnet nur die Märkte.»
So wird rund zehn Jahre nach der EU auch in der Schweiz eine zweijährige Garantie eingeführt. Eine Mindestgarantie ist dies aber nicht: Ein Verkäufer kann diese immer noch ausschliessen, wenn auch nicht mehr versteckt in den allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB).
EU ist konsumentenfreundlicher
Doch auch bei den AGB ist die EU konsumentenfreundlicher: Sie führt eine schwarze Liste von missbräuchlichen Bestimmungen und eine graue von «mutmasslich missbräuchlichen». Die Schweiz hat erst dieses Jahr ihre Gesetzgebung angepasst, auf eine solche Liste aber verzichtet. So bleibt der Spielraum für kundenfeindliche Bestimmungen grösser. Zudem kennt die EU ein Widerrufsrecht für Käufe im Internet oder am Telefon, die Schweiz hingegen erst bei solchen an der Haustür.
Vorstösse, die ein ausgedehntes Widerrufsrecht verlangten, schob das Parlament auf die lange Bank. Simonetta Sommarugas Vorschlag aus dem Jahr 2005 scheiterte 2009. Aus einem ähnlichen Vorstoss des damaligen Neuenburger Ständerats Pierre Bonhôte kreierte die Rechtskommission des Ständerats nach sechs Jahren erst diesen Sommer einen Vorentwurf zur Revision des Obligationenrechts. Dieser geht jetzt erst einmal in die Vernehmlassung, während die EU das siebentägige Widerrufsrecht bald auf vierzehn Tage ausdehnen wird.
Hinter europäischem Standard
Marlis Koller-Tumler, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Konsumentenfragen, bestätigt, dass die Schweiz beim Konsumrecht dem europäischen Standard hinterherhinkt. Vielleicht seien Schweizer Firmen freiwillig konsumentenfreundlicher, also kulanter, als in der Europäischen Union. Gemäss gesetzlichen Grundlagen sind sie dazu aber nicht verpflichtet.
Dabei haben es die Konsumenten fast schon einem Zufall zu verdanken, dass das Widerrufsrecht nicht schon längst Schiffbruch erlitten hat. Die Abstimmung im Nationalrat im Herbst 2009 endete mit 77 gegen 77 Stimmen unentschieden. Den Ausschlag für das Widerrufsrecht gab die damalige Nationalratspräsidentin Chirara Simoneschi-Cortesi mit ihrem Stichentscheid.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 23.11.12