Für junge Menschen sind die Perspektiven in Bosnien düster. Trotz guter Ausbildung findet auch Amir A. keinen Job. Mit seiner Arbeitskraft etwas anzufangen weiss dagegen das US-amerikanische Militär.
Familienvater Jasmin A. steht an diesem Frühjahrsmorgen vor seiner kleinen Pension in der Altstadt von Tuzla, sein Blick schweift über die Fassade. Mehrere Schilder prangen an der Hauswand: «Rooms» steht da geschrieben, in übergrossen Lettern. Das Haus ist augenscheinlich frisch gestrichen. Fast etwas fehl am Platz wirkt es inmitten der durchaus charmanten, aber heruntergekommenen Häuser. Auch im Innern der Pension herrscht Ordnung. Die fünf Zimmer sind sorgsam eingerichtet und blitzblank geputzt, der Duft von Waschmittel hängt in der Luft. Im Treppenhaus riecht es nach Frühling.
Die Pension hat tatsächlich so etwas wie einen zweiten Frühling erlebt. «Und das alles wegen Afghanistan», sagt Jasmin, der mittlerweile vor dem Fernseher in der kleinen Hotellobby sitzt. Aber der Reihe nach.
Die Zeiten waren längst nicht immer rosig. Hier im Nordosten Bosniens florierte zwar einst die Industrie, während Titos Jugoslawien. Tuzla war ein Zentrum, von wo aus sich Moderne und Fortschritt rasant übers ganze Land verbreiten sollten. Mit dem Zerfall Jugoslawiens Anfang der 1990er-Jahre aber kam der Krieg und nach dem Krieg die Privatisierung der zahlreichen Staatsbetriebe. Die einstigen Arbeitsgaranten wurden verkauft, die meisten heruntergewirtschaftet und schliesslich geschlossen. Die Bevölkerung erlitt einen massiven Einbruch an Lebensqualität.
Heute stagnieren Politik und Wirtschaft. Arbeit gibt es fast keine mehr. Die Perspektiven sind düster. Bei einigen vermochten die Protestbewegung vom Vorjahr und die daraus entstandenen Bürgerversammlungen zwar einen leisen Hoffnungsschimmer zu wecken. Doch ein Grossteil der Bevölkerung glaubt längst nicht mehr daran, dass endlich mal alles besser wird. Die Arbeitslosigkeit beträgt derzeit über 50 Prozent, unter den Jungen sind es noch weit mehr.
Flucht vor der Perspektivlosigkeit
Auch Jasmins Familie weiss, wie es sich anfühlt, unbedingt arbeiten zu wollen und nicht arbeiten zu können. Die beiden Töchter sind hervorragend ausgebildet, Ärztin die eine, Juristin die andere, der Sohn Maschinen-Mechaniker. Einen Job suchten sie nach der Ausbildung alle vergeblich. «Meine Tochter musste mich um Geld fragen, wenn sie mit Freundinnen einen Kaffee trinken wollte. Und das mit fast dreissig Jahren. Sie hat sich so geschämt.» Der Vater verwirft hilflos die Hände.
Das Hotelgeschäft serbelte, Angestellte mussten entlassen werden. Irgendwann konnten die Eltern ihre monatliche Kreditrate nicht mehr bezahlen. Da fasste Sohn Amir einen Entschluss. «Ich sandte meine Unterlagen an eine Agentur, von der ich wusste, dass sie Personal für Afghanistan rekrutiert. Dann wartete ich auf ihren Anruf», erzählt er.
Ein Jahr nach den Bürgerprotesten, welche in Tuzla begannen, ist von der neuen Hoffnung auf Veränderung nicht mehr viel geblieben. (Bild: Simone Krüsi)
Der Anruf kam, Amir erhielt grünes Licht und kurze Zeit später folgte der Aufbruch in die Fremde. Er wurde in die US-amerikanische Militärbasis in Bagram eingeteilt. Dort arbeitete er drei lange Jahre als Fahrer in der Wäscherei. «Immerhin hatte ich einige Freunde aus Tuzla, die bereits dort waren. Das machte es etwas leichter», sagt er. Nur wenige Male konnte er zum Urlaub nach Hause.
Von diesen seltenen Urlauben zehrte auch Naida H. Auch ihr Freund war in Bagram stationiert. Auch er war gegangen, weil er zu Hause keine Perspektive mehr gesehen hatte.
«Letzten Herbst kam er nach vier Jahren endlich zurück», erzählt Naida, die am Gymnasium in Tuzla Englisch unterrichtet. Er habe im grössten afghanischen US-Camp in der Administration gearbeitet. «Jeden Morgen Tagwache um sechs, Arbeit von sieben bis sieben, Tag- oder Nachtschicht, sieben Tage die Woche.» Geschuftet in der Hitze, sozial isoliert. Freizeit habe es keine gegeben, dafür umso mehr Regeln und Kontrolle.
Eine Telefonnummer hätten nur einige wenige besessen. Ihr Freund gehörte nicht dazu. Die Internetnutzung war streng limitiert. Gegen Ende hätte er bei den seltenen Telefongesprächen über Skype fast nur noch vom Zahltag geredet. Alle vierzehn Tage eine Geldspritze für die Motivation. Festklammern am Baren, um es über die kommenden Wochen zu schaffen. Naida sagt, ihr Freund sei nun schon über ein halbes Jahr wieder in Bosnien – angekommen sei er noch lange nicht.
Professionalisierte Rekrutierung
Dass in Tuzla Verbindungen zum US-amerikanischen Militär bestehen, geht auf die Zeit unmittelbar nach dem Jugoslawien-Krieg zurück. Die Amerikaner unterhielten zwecks Friedensbildung auf dem nahegelegenen Flugplatz den Armeestützpunkt Eagle Base. Viele Bewohner aus Tuzla und den umliegenden Dörfern pflegten dort zu arbeiten. 2007 zogen die Amerikaner ab, und als kurz danach Finanz- und Wirtschaftskrise Einzug hielten, machten viele Einheimische von ihren Kontakten Gebrauch. In Afghanistan, Irak oder in Kuwait wurden sie mit offenen Armen empfangen. Sie fanden Arbeit in der Logistik der US-Militärbasen – als Fahrer, als Küchenhilfen, auf dem Bau oder in der Administration.
Triste Aussichten im Vorort von Tuzla: Das Geld des US-Militärs lockt hier viele – auch in ein Risikogebiet. (Bild: Simone Krüsi)
Die Nachfrage ist gross – das Angebot auch. Das US-amerikanische Militär hat in den vergangenen Jahrzehnten eine regelrechte Abhängigkeit von ausländischen Hilfskräften entwickelt, um seine Kriege und Antiterror-Operationen im Nahen und Mittleren Osten sowie in Ost-Afrika überhaupt durchführen zu können. Adam Moore, Assistenzprofessor für Geografie an der University of California in Los Angeles, hat sich intensiv mit dem amerikanischen Militär-Outsourcing auseinandergesetzt. Er schätzt das Verhältnis zwischen US-amerikanischen Soldaten und zivilen Hilfsarbeitern mancherorts auf praktisch 1:1.
Wegen dieses hohen Bedarfs wird das Sicherstellen von Personal-Nachschub längst nicht mehr dem Zufall überlassen: Verschiedene Firmen werben in Südosteuropa gezielt junge Männer an für einen logistischen Einsatz im Irak oder in Afghanistan. Darunter zum Beispiel der US-Riese Fluor Corporation, dessen Kerngeschäft in der Mineralölwirtschaft liegt. Solche Firmen werben insbesondere in Bosnien-Herzegowina, vermutlich aufgrund des muslimischen Hintergrunds der Bosniaken.
Vertreter quartieren sich sodann in städtischen Hotels ein und verbreiten via Lokalmedien die Nachricht, wann und wo die Bewerbungsgespräche stattfinden. Auf bestimmten News-Portalen lässt sich gar online ein Anmeldeformular ausfüllen. Zu Beginn wurde praktisch jeder, der wollte, aufgenommen. Als bald auch fast jeder wollte, wurde rasch ein strengeres Aufnahmeverfahren eingeführt.
Schwierige Rückkehr
Wie viele Bosnier sich genau im Dienste der USA befinden, lässt sich schwer sagen. Offizielle Angaben des bosnischen Staates gibt es keine. Und die Fluor Corporation behauptet, ihre Zahlen nicht nach einzelnen Ländern aufzuschlüsseln. Doch dürften es viele sein. Hört man sich in Tuzla und Umgebung um, kennt jeder jemanden, der im Irak ist oder in Afghanistan war. «In der benachbarten Kleinstadt Lukavac waren zu gewissen Zeiten über 70 Prozent der Männer fort», erzählt Pavlina Vujović. Sie hat in einem Forschungsprojekt der Universität Tuzla die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Arbeitsmigration untersucht.
Die Folgen dieses neuen «Gastarbeitertums» seien weitreichend, vor allem für die Heimkehrer selbst. Drei, vier, manchmal auch fünf oder sechs Jahre lang hätten sie sich in der sozialen Isolation befunden, sei für sie das Leben in der Heimat stillgestanden. «Natürlich ist das aber nicht», sagt Vujović, «und kaum einer kann aufholen, was er in seiner Abwesenheit verpasst hat. Freunde haben geheiratet, Kinder bekommen, alltägliche Dinge haben sich verändert und weiterentwickelt.»
Und da gibt es noch einen Punkt, auf den sie hinweist: Die Arbeitsmigranten befinden sich in einem Kriegsgebiet. «Durch ihr Engagement tragen sie ihren Teil zu den Konflikten bei. Wenn auch nicht direkt an der Front, so doch im Hintergrund.» Ein heikles Thema, und Vujović meint, keiner ihrer Gesprächspartner habe sich dazu äussern wollen. Die meisten schienen das verdrängt zu haben, sagten bloss: Hätten wir darüber nachgedacht, hätten wir kaum durchgehalten.
Einer der wenigen Farbtupfer in Tuzla: Der Hauptplatz in der Altstadt. (Bild: Simone Krüsi)
Aber nicht nur für die Heimkehrer, auch für die Zurückgebliebenen ist das Phänomen mit Folgen verbunden. «In und um Tuzla sind zum Beispiel die Immobilienpreise in den vergangenen Jahren rapide gestiegen», sagt Vujović. «Viele Rückkehrer kaufen Häuser oder Wohnungen, zum Teil gleich mehrere aufs Mal. Die Daheimgebliebenen können sich bald nichts mehr leisten.»
Ungewisse Zukunft
Sohn Amir hat den Eltern zwar kein Haus gekauft. Aber mit seinem Lohn – ein Vielfaches des bosnischen Durchschnitts –, den Amir regelmässig nach Hause geschickt hatte, konnte die Familie die kleine Pension renovieren. Er hat den Einsatz in der nicht ungefährlichen Ferne heil überstanden, seit Anfang März ist er wieder daheim. Seine eine Schwester hat nach mehr als drei Jahren ständiger Suche gerade in der Hauptstadt eine Arbeit gefunden. Doch die andere sitzt weiterhin zu Hause und auf ihrer guten Ausbildung. Und auch Amir ist jetzt wieder ohne Job.
Die Fluor Corporation ihrerseits ist aktiv wie eh und je: Im vergangenen Oktober residierten erneut Vertreter im «Hotel Tuzla» und rekrutierten frischen Nachschub – diesmal für Einsätze in Sierra Leone und Liberia zur Unterstützung der amerikanischen Ebola-Bekämpfungsmission.
Das US-amerikanische Engagement auf dem Balkan, was ist das nun? Etwas, wodurch letztlich beide Parteien gewinnen? Oder ein rücksichtsloses Geschäft mit der Hoffnungslosigkeit?
Auf der einen Seite werden Arbeitsplätze geschaffen, die vielen Familien hier wenigstens vorübergehend ein einigermassen anständiges Leben ermöglichen. Auf der anderen Seite profitieren die USA von der hoffnungslosen Situation vieler, teilweise sehr gut ausgebildeter Südosteuropäer, die sich mehr als bereitwillig in Risikogebieten einsetzen lassen.
Ob Amir selbst noch einmal einen Einsatz für die Amerikaner leisten wird, kann er heute noch nicht sagen. Erst einmal will er etwas zur Ruhe kommen, sich in der Heimat wieder einfinden und seine Zukunft planen. Für Naida hingegen ist jetzt schon klar, dass ihr Freund nicht nochmals gehen würde. «Erst neulich habe ich ihn gefragt, ob er irgendetwas vermisse an Afghanistan», erzählt sie. «Höchstens die Routine», habe er geantwortet, «die Routine und vielleicht auch die Disziplin», die er damals an den Tag gelegt habe.
Dass Naidas Freund in ebendieser Routine und dem strengstens strukturierten Tagesablauf auch gefangen war, erwähnt er nicht.