Das Demokratie-Dilemma der Freunde Europas

Nach der Machtdemonstration der Europäischen Union in Griechenland haben die Schweizer EU-Befürworter ein Problem. Ihre Lösung: der Blick in die Heimat.

Mehr abstimmen, mehr mitbestimmen. Wer heute noch in die EU möchte, der hat nach dem verhinderten Referendum in Griechenland einiges zu erklären. (Bild: Keystone)

Nach der Machtdemonstration der Europäischen Union in Griechenland haben die Schweizer EU-Befürworter ein Problem. Ihre Lösung: der Blick in die Heimat.

Einmal, zweimal, dreimal wurde Ursula von der Leyen, Mitglied der Europa-Kommission der deutschen CDU und Bundesministerin für Arbeit und Soziales, am Sonntagabend bei Günther Jauch auf die verwehrte Abstimmung in Griechenland angesprochen. Ob sie nicht denke, dass der EU etwas mehr Demokratie gut tun würde. Ob sie nicht denke, dass es falsch gewesen sei, den Griechen die Abstimmung vorzuenthalten. Einmal, zweimal, dreimal lächelte von der Leyen süffisant und sprach von «Gemeinschaft» und «Vorwärtsblicken» und «Zukunft». Nicht aber von «Demokratie».

Die Bundesministerin war an diesem Abend das lächelnde Gesicht des europäischen Monsters, die Bestätigung für all jene, die es schon immer gewusst haben: Europa ist undemokratisch und schlecht. Die Schweiz ist direktdemokratisch und gut.
Und sie hatten recht. Die rechten (und nicht rechten) Kommentatoren und all die Parteifunktionäre, die mit hochgezogenen Augenbrauen über das Europa der Technokraten sprachen. Es spielt keine Rolle, aus welchen Gründen der nun ehemalige griechische ­Ministerpräsident Giorgos Papandreou sein Volk zum Sparpaket befragen wollte. Es spielt auch keine Rolle, wie die Abstimmung ausgegangen wäre – die Machtdemonstration von Angela Merkel und Nicolas Sarkozy war stos­send.

Ehrenrettung per Twitter

Zwei Tage dauerte die Empörung in der Schweiz, bis sich die ersten Europa-Freunde wieder aus der Deckung wagten. Per Twitter meldete sich beispielsweise Cédric Wermuth, neuer SP-Nationalrat aus dem Aargau und erklärter Befürworter eines Beitritts der Schweiz zur EU. Er schrieb: «Lasst die Überheblichkeit! Oder durften wir etwa über die UBS-Rettung, den Staatsvertrag mit den USA oder die Kampfjets abstimmen? Eben.»

Die Meldung von Wermuth ist Teil jener Strategie, die die Freunde Europas in der andauernden EU-Krise ergreifen. Der Blick nach innen, in die Heimat und die immer grösser werdende Unmöglichkeit der echten Mitbestimmung. Auch der Zürcher SP-Nationalrat Andreas Gross, Mitglied des Europaparlaments, verteidigt sein Engagement für Europa mit dem Hinweis auf die Verhältnisse in der Schweiz. «Die Schweiz gehört historisch zu jenen Ländern, in denen die nationale Demokratie noch masslos überschätzt wird», schreibt er auf Anfrage der TagesWoche (Andreas Gross‘ ausführliche Antworten sind hier nachzulesen).
Der Grund für diese Überschätzung liege in der Unversehrtheit der Schweiz. Weil auch «die neuesten Katastrophen» die Schweiz noch nicht erreicht hätten, sei es der Bevölkerung nicht bewusst, wie schwach eine nationale Demokratie angesichts der «trans­nationalen Märkte» geworden sei. «Diese Erkenntnis steht vielen von uns erst noch bevor», schreibt Gross und legt danach in Grundzügen den zweiten Teil der Strategie dar, mit der das Demokratie-Dilemma von Europa gelöst werden soll. Es ist ein grösseres Projekt: «Die Schweizer EU-Gegner, wie überhaupt alle wieder in allen Staaten sehr stark gewordenen Nationalisten, verkennen, dass die Demokratiekrise national nicht behoben werden kann, wir also die EU demokratisieren müssen.» Dabei könne die Demokratie nicht nur repräsentativ gedacht werden, sondern brauche direktdemokratische Ergänzungen. Nur so werde Demokratie erlebt und erfahren.

Die EU demokratisieren, den Blick für die dunklen Flecken der direkten Demokratie in der Schweiz schärfen – es sind dies die zwei Antworten, die Schweizer Europa-Freunde auf das Debakel in Griechenland geben.
Ein Experte für den zweiten Punkt ist Markus Schefer, Rechtsprofessor an der Universität Basel. Er hat sich mehrfach zum Notverordnungsrecht in der Schweizer Verfassung geäussert – jenem Passus, auf den sich der Bundesrat bei der Rettung der UBS und beim Staatsvertrag mit den USA stützte und damit der Bevölkerung das Mitbestimmungsrecht entzog. Ein Grenzfall, meint Schefer.

Historisch gesehen habe der Bundesrat mit der Rettung der UBS den Begriff des Notverordnungsrechts neu definiert, sagt der Rechtsprofessor. Ursprünglich als Konkretisierung der polizeilichen Generalklausel geschaffen, um nicht anders abwendbare drohende Gefahren von aussen abzuwenden, ist das Notverordnungsrecht heute mehr. Schefer: «Der typische Sachverhalt ist die Beseitigung einer unmittelbaren, schwerwiegenden Gefahr für elementare Rechtsgüter wie Leib und Leben. Bei der UBS hat der Bundesrat den Passus auf das ganze Wirtschaftssystem ausgedehnt.» Eine Form der indirekten Mitbestimmung sei heute in der Form der Finanzdelegation gegeben, die in Zukunft bei einem ähnlichen Fall zustimmen müsse. Dennoch sagt Schefer: «Die polizeiliche Generalklausel hat nur eine Berechtigung, wenn man sie sehr eng fasst.»

Die eigenen Schwächen

Im Hinblick auf die Kritik an Europa gilt auch für Schefer: Man müsse die Bevölkerung für die Schwächen des eigenen Systems sensibilisieren und auf seine Ursprünge hinweisen. So haben bis heute fünf Kantone (Appenzell Innerrhoden, Obwalden, Nidwalden, Uri, Schwyz) nie der Schweizer Bundes­verfassung zugestimmt. Und auch die Ratifizierung der amerikanischen Verfassung geschah nach dem Mehrheitsprinzip. «Einstimmigkeit für eine weitergehende Integration ist ein hohes Erfordernis», sagt Schefer. Dem bisherigen europäischen Integrationsprozess darum mangelnde demokratische Legitimation vorzuwerfen, sei verfehlt. Die Integration mit repräsentativen Organen gehe eben schneller als mit Volksabstimmungen. «Die EU hat massgeblich dazu beigetragen, dass wir in Frieden leben. Wenn wir über alles immer eine Abstimmung durchgeführt hätten, wäre Europa heute vielleicht nicht so friedlich.»

Georg Kreis, bis vor Kurzem Leiter des Europainstituts der Universität Basel, argumentiert ebenfalls mit der Repräsentation. «Nicht nur die direkte Demokratie ist eine Demokratie. Auch die repräsentative und die parlamentarische Demokratie sind demokratisch.» Die Gesamtentwicklung der Europäischen Union habe fortlaufend mehr Demokratie gebracht, sagt Kreis und weist auf das Initiativrecht und die zusätzliche Mitsprache der nationalen Parlamente hin, die im europäischen Reformvertrag eingeführt wurden. Im Vergleich zur Schweiz müsse man zwischen Input und Output unterscheiden. Während die europäische Staatsmaschinerie mit relativ gering demokratisch legitimiertem Input relativ viel Output liefere, sei es in der Schweiz umgekehrt. Kreis: «Demokratisch hochgradig legitimierter Input liefert zum Teil nur sehr schwache Resultate.»

Die Frage nach dem Wie

Und nun? Was bleibt von der schlauen Auseinandersetzung mit der Europäischen Union und ihren immer noch mangelhaften demokratischen Möglichkeiten? Der Wunsch nach einem Ausbau der Möglichkeiten, der Wunsch nach mehr Teilnahme, der Wunsch nach mehr Abstimmungen nicht nur in Griechenland, sondern in allen Ländern Europas. Markus Schefer sagt zusammenfassend: «Spannungen zwischen Staaten könnten durch vermehrte Partizipation aufgefangen werden.» Ungelöst bleibt dabei bis auf Weiteres, wie diese «vermehrte Partizipation» in Europa denn aussehen könnte.

Quellen

Andreas Gross, Fredi Krebs, Daniel Schönmann, Martin Stohler (Hrsg.): Über den Herbst hinaus – Innenpolitische Alternativen mit europäischen Perspektiven. Editions le Doubs, St-Ursanne 2011. 256 Seiten, 24.80 Franken. ISBN 978-2-940455-02-7
 
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Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11/11/11

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