Das Ende der Trauer

Wie lange darf man nach dem Tod eines Menschen traurig sein? Laut dem revidierten ­Psychatrie-Diagnosehandbuch DSM gilt Trauer bereits nach zwei Wochen als schwere Depression.

Trauert ein Mensch zu lange, dann wird mit Psychopharmaka nachgeholfen. (Bild: Domo Löw)

Wie lange darf man nach dem Tod eines Menschen traurig sein? Laut dem revidierten ­Psychatrie-Diagnosehandbuch DSM gilt Trauer bereits nach zwei Wochen als schwere Depression.

Im März 2011 sei seine Frau gestorben, schreibt der Harvard-Psychiater Arthur Kleinman in der Medizinzeitschrift «Lancet», «damals erfuhr ich die ‹Psychologie der Trauer› aus erster Hand.» Er sei traurig gewesen, habe sie vermisst, die 46 Jahre seine Frau gewesen war, schlecht geschlafen und sich nicht konzentrieren können. «Auch nach einem Jahr ist das Gefühl akut, dass ein Teil von mir für immer ge­gangen ist. Ich behüte unsere Erinnerungen. Ist daran etwas falsch oder gar ­pathologisch?»

Offenbar ja. Zumindest wenn es nach dem amerikanischen Psychiaterverband geht, sollen Kleinmans Gefühle künftig als psychische Krankheit gelten.

Kleinman bringt seine sehr persönliche Erfahrung in eine Debatte ein, die derzeit um die ­Medikalisierung fundamentaler mensch­licher Erfahrungen ausgetragen wird. Denn mit der anstehenden Revision des amerikanischen, weltweit als Standard verwendeten Psychiatrie-Handbuchs DSM-IV soll die Trauer nach dem Verlust eines nahe­stehenden Menschen gleich diagnostiziert und behandelt werden wie eine schwere Depression.

Hinter der Diskussion steckt das Problem, dass die Symptome einer Trauerreaktion denen einer schweren Depression täuschend ähnlich sein können: Traurigkeit, Schlafstörungen, ­Appetitmangel, Müdigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten. Sie bleiben auch häufig länger bestehen, als es die in der Praxis übliche «Fünf Symptome für zwei Wochen»-Regel vorsieht, aufgrund welcher die Psychiater schwere Depressionen diagnostizieren.

Die Trauerfrist wird immer kürzer

Zwei Wochen, nachdem der Lebenspartner oder gar das eigene Kind gestorben ist? Das klingt nicht nur für Laien absurd. «Trauer ist doch nichts Pathologisches», sagt Hans Kurt, ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. «Die Frage ist doch nicht, wie lange die Trauer anhält, sondern ob sie sich zu einer krankhaften Störung auswächst.» Das geschehe manchmal erst nach vielen Jahren.

Im aktuellen DSM gilt eine Ausschlussfrist von zwei Monaten für die Trauer nach einem Todesfall, in der früheren Version war es noch ein Jahr. Schon zwei Monate hält Kleinman für «schockierend kurz» – keine Gesellschaft oder Religion kenne so kurze Trauerfristen. Nun soll auch diese gestrichen werden. Immer kürzer wird die Zeitspanne, in der ein Trauernder wieder glücklich und leistungsfähig zu sein hat – ansonsten wird mit Psychotherapie und Psychopharmaka nachgeholfen.

Wie kommt das Gremium, das über die Kriterien des Leitfadens bestimmt, auf so eine Idee? Laut der Befürworter konnten Studien bei Symptomen und Verlauf nicht eindeutig zwischen trauerbezogenen Depressionen und anderen Formen unterscheiden. Dagegen spricht eine eben veröffentlichte Studienübersicht der Weltpsychiatervereinigung: Bei der Trauer kommt es deutlich seltener zu Rückfällen, Funktionsstörungen im Alltag, Selbstmordgedanken oder Gefühlen von Schuld und Wertlosigkeit als bei Depressionen. Ebenso wichtig ist, dass die Trauerdepression von vielen Menschen als normale Reaktion empfunden wird, während Depressive ihren Zustand als Veränderung, als «nicht sie selbst» zu sein, beklagen.

Nicht nur unter Schweizer Psychiatern regt sich Widerstand ­gegen die Revision. Trauer zu medikalisie­ren, sodass sie routinemässig mit Anti­depres­siva behandelt werde, sei nicht nur «gefährlich vereinfachend, sondern falsch», wird in der Medizinzeitschrift «Lancet» gewarnt. Es gebe keine Datenbasis, die es rechtfertige, Antidepressiva bei trauernden Menschen einzusetzen.
Die Medikalisierung normaler menschlicher Erfahrungen ist ein Trend, der in der Psychiatrie schon länger zu beobachten ist.

Schüchternheit wird heute als «soziale Phobie» behandelt, Leistungs- und Konzentrationspro­bleme bei Kindern und Erwachsenen werden als Aufmerksamkeitsstö­rung bezeichnet. «Das ist ein gesellschaftlicher Trend», glaubt Psychiater Hans Kurt. Der Mensch von heute müsse immer fit, froh, jung und leistungsfähig sein. «Viele Menschen wollen sich schnell wieder wohlfühlen» – zur Not mithilfe von Medikamenten.

Aber auch die Pharmaindustrie halten manche Psychiater für mit verantwortlich. «Pharmafirmen haben ein Interesse daran, für den Einsatz ihrer Medikamente möglichst viele Diag­nosen zu erhalten», sagt Kurt. Se­roto­nin-Wiederaufnahmehemmer etwa wurden gegen Depressionen entwickelt. Heute werden die Stimmungsaufheller auch bei Angststörungen, Magersucht und Essstörungen eingesetzt. «Die Verwandlung der Pharmaindustrie zum ‹big business› hat zu diesem Wandel beigetragen», schreibt Kleinman.

Care-Teams schaden oft mehr als zu nützen

Trauer mit Medikamenten zu unter­drücken, könnte sich als kontraproduktiv erweisen. «In der Praxis sehe ich selten akute Fälle», sagt Hans Kurt, «sondern Leute, die ihre Trauer jahrelang mit herumgetragen haben.» Erst überdeckten sie sie mit Pillen und nach Jahren entwickelten sie eine psychosomatische Störung. Kurt sieht Parallelen zum sogenannten Debriefing nach Katastrophen. Es stellte sich heraus, dass die sofortige, standardmässige psychologische Intervention vor Ort mehr Schaden als Nutzen anrichtete. Es sei keine Zeitfrage, wie jemand mit Trauer umgehe, sagt Kurt, sondern «ein individueller Prozess».

Trauern hilft bei der Neuorientierung

Trauerarbeit ist kein Luxus, sondern eine Chance zur persönlichen Entwicklung. Kleinman empfindet seinen Schmerz als Pfeiler der Erinnerung, wichtig für den zwangsläufigen Übergang in eine neue Lebensweise. «Ich versuche, Trauernde zu motivieren, ihre Gefühle auszuhalten», sagt der Psychiater Kurt. Rituale können dabei helfen, Abschiedsbriefe oder Gespräche mit Angehörigen oder einem Arzt.

Manche Menschen kommen allerdings auch nach Monaten nicht über den Tod eines nahen Menschen hinweg. Sie liegen nur noch im Bett, verstummen und zeigen Symptome, die für gewöhnliche Trauer untypisch sind: Gefühle der eigenen Wertlosigkeit oder Selbstmordgedanken.

Dann liegt wirklich eine Depression vor, die aber nicht mit Medikamenten allein gelindert werden kann. Eine geleitete Trauerarbeit oder eine psychotherapeutische Behandlung bringe hier oft mehr, glauben Experten wie Kurt. Trotzdem kann der Psychiater der aktuellen Debatte auch Positives abgewinnen: «Es ist gut, dass jetzt darüber diskutiert wird, wie eine sinnvolle Diagnose gestellt werden kann.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12

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