Mit Spannung blickt Spanien vor den Parlamentswahlen auf die Newcomer-Parteien Podemos und Ciudadanos. Als sicher gilt schon jetzt: Diese Wahl wird das Zweiparteien-System beenden.
Es ist Abend in Cádiz, Elena de Leon geht mit ein paar Freunden am Kai spazieren. Die Kulisse der Hafenstadt mit ihren Dutzenden Türmen ist malerisch, die Stimmung mässig. Die fünf Freunde plaudern über dieses und jenes. Das Thema, das alle drückt, bleibt aussen vor: Keiner von ihnen hat einen festen Job; Elena absolviert seit einigen Wochen immerhin ein bezahltes Praktikum.
«Es ist doch absurd: Offiziell sind wir die bestausgebildete Generation Spaniens, aber gelernt haben wir vor allem, dass Ausbildung allein auch nicht hilft», sagt die 26-Jährige Andalusierin, die neben einem abgeschlossenen Pädagogik-Studium einen Master in Personalwesen hat und fliessend Englisch spricht.
Mit 49,6 Prozent ist die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien – zusammen mit der griechischen – immer noch europaweit die höchste, in der Provinz Cádiz erreicht sie gar 61 Prozent. Wer einen Job hat, leidet unter prekären Bedingungen. Sieben Millionen verdienen in Spanien weniger als den jährlichen Mindestlohn von 9080,40 Euro. Auch wenn die makroökonomischen Daten nach sieben Jahren Krise auf einen Aufschwung hindeuten, zu spüren ist davon nicht viel. Bei den Wahlen am Sonntag wird das Thema daher eine grosse Rolle spielen, so wie auch die Korruption.
Das Zwei-Parteiensystems ist am Ende
Vor allem die regierende Volkspartei Partido Popular (PP) spielt dabei eine unrühmliche Rolle; Ministerpräsident Mariano Rajoy hat immer noch nicht erklärt, warum sein Name auf diversen Schwarzgeldlisten des ehemaligen Schatzmeisters Luis Bárcenas steht. Ein kapitaler Einbruch der bisher mit absoluter Mehrheit regierenden Volkspartei gilt als sicher; das Ende des nach Francos Tod entstandenen behäbigen Zwei-Parteiensystems, in dem sich die sozialdemokratische PSOE (Partido Socialista Obrero Español) und die PP an der Regierung abwechselten, auch.
Unliebsame Begegnung bei der Wahlkampftour: Mariano Rajoy erhielt am Mittwoch von einem 17-Jährigen einen Faustschlag.
Abgesehen davon ist das Ergebnis offen wie seit Jahren nicht. Denn mit Podemos und Ciudadanos werden aller Voraussicht nach zwei neue Parteien ins Parlament einziehen und dabei mit mutmasslich jeweils um die 20 Prozent entscheidenden Einfluss auf die Regierungsbildung haben. Mindestens drei Koalitionen sind denkbar.
«Wir müssen Podemos eine Chance geben», sagt Elena, «ich weiss nicht, ob sie es besser machen, aber zumindest nehmen sie uns ernst.»
Elena wird ihr Kreuz bei Podemos machen, der 2014 gegründeten linken Protestpartei um den Madrider Politik-Dozenten Pablo Iglesias, mit seinem zum Markenzeichen gewordenen Pferdeschwanz. «Wir müssen ihnen eine Chance geben», sagt Elena. «Ich weiss nicht, ob sie es besser machen, aber zumindest nehmen sie uns ernst.» Podemos hat ein garantiertes Mindesteinkommen im Programm, will Zeitarbeitsverträge reduzieren und mit öffentlichen Investitionen den Arbeitsmarkt ankurbeln.
Laut des Meinungsforschungsinstitutes Metroscopia wäre die Formation bei Wahlen im Januar, Februar, März vermutlich stärkste Kraft im Parlament geworden, inzwischen hat sie aber einiges von ihrer Verve eingebüsst und sich im Ton gemässigt. Aus den vehementen Austeritätskritikern ist eine gemässigte Linkspartei geworden, die lieber vom skandinavischen Modell denn von der griechischen Syriza spricht. Auch in Spanien werden die Wahlen traditionell in der Mitte gewonnen; die Gesellschaft ist sehr viel gemässigter, als es laut- und thesenstark geführte Bargespräche vermuten lassen.
Liebling der Massen: Ciudadanos-Parteichef Albert Rivera hat Spanien im Sturm erorbert. (Bild: Reuters/SUSANA VERA)
In die Mitte rücken lassen hat Podemos auch die Konkurrenz mit Ciudadanos, der zweiten spanischen Newcomer-Partei. Wenn Podemos der Hoffnungsträger für die krisengebeutelten Jugendlichen, die Studierenden und jungen Arbeitslosen ist, dann ist Ciudadanos – so beschreiben es Soziologen – die Partei der jungen Arbeitnehmer und Selbstständigen. Parteichef Albert Rivera hat in den letzten Monaten einen kometenhaften Aufstieg erlebt. Als Dauergast im spanischen Fernsehen – über 190 Auftritte absolvierte er allein in diesem Jahr – war der smarte Anwalt zeitweise gar Mariano Rajoy, laut Umfragen immer noch stärkster Kandidat, mit wenigen Zehnteln Rückstand auf den Fersen.
Wie Iglesias macht auch Rivera das Zwei-Parteien-System für Spaniens Misere verantwortlich, fordert Anti-Korruptions-Massnahmen und eine «demokratische Erneuerung». Allerdings verpackt er seine Kritik unternehmensfreundlicher, gibt sich mit Steuersenkungen, Reduzierung staatlicher Investitionen und schlanken, vereinheitlichten Arbeitsverträgen genuin liberal. Seine Partei wurde so für alle Protestwähler zur Option, die sich Podemos allein aus Mangel an Alternativen zugewandt hatten, deren Kapitalismuskritik aber eigentlich viel zu radikal fanden.
Für Carlos Rivadulla ist Ciudadanos daher die grosse Hoffnungsträgerin der spanischen Politik. «Sie ist tatsächlich die einzige Partei der Mitte», glaubt der 42-jährige Unternehmer aus Barcelona. Der Putzmittel-Fabrikant wählt die Partei seit ihrer Gründung 2006. Damals trat Ciudadanos nur in Katalonien an, als Alternative zu den pro-katalanistischen bürgerlichen Parteien. Wütendes Agitieren gegen sezessionistische Bestrebungen gehören noch heute zu den Kernelementen. Das erklärt einen Teil des Erfolges. Denn auch wenn Ciudadanos von sich behauptet, weder links noch rechts zu sein, in ihrem Bekenntnis zum Zentralstaat und zur «unverbrüchlichen Einheit der Nation» spricht Ciudadanos auch konservative Wähler an.
Für Unternehmer Carlos Rivadulla ist Ciudadanos daher grosse Hoffnungsträger der spanischen Politik – und einzige Partei der Mitte. (Bild: Julia Macher)
Die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, eine der grossen, unbewältigten Herausforderungen der Regierung Rajoy, wird die politische Agenda auch in der kommenden Legislatur bestimmen. Auch darauf könnten die beiden Aufsteiger-Parteien entscheidenen Einfluss haben. Als Einzige der vier grossen Parteien hat Podemos ein verbindliches Referendum über die politische Zukunft im Programm.
Alles ist besser als weiterer Stillstand
Ein mutiges Angebot, das Iglesias‘ Partei wohl vor allem in der selbstbewussten Region im Nordosten Stimmen bringen wird. Ciudadanos hält zwar programmatisch an der Einheit Spaniens fest, strebt aber zumindest eine Verfassungsreform an – mit Umbau des Senats zu einer Länderkammer. Auch das könnte für Bewegung sorgen.
Nicht nur bezüglich des Verhältnisses von Autonomien und Zentralstaat, auch in anderen Aspekten wie der Unabhängigkeit der Justiz, der Rolle der Kirche ist die 1978 drei Jahre nach Francos Tod verabschiedete Verfassung überholungsbedürftig. Durch die Neuen könnte bei diesen Wahlen, gemeinsam mit den Sozialdemokraten, tatsächlich erstmals die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Reform zustandekommen.
Auf Spanien warten spannende Zeiten. «Zum Glück», sagt Elena, die arbeitslose Pädagogin aus Cádiz. «Alles ist doch besser als der Stillstand der letzen Jahre.» Unternehmer Carlos Rivadulla würde ihr dabei, bei aller geografischen und ideologischen Distanz, vermutlich zustimmen.