Das Erbe des Taifuns

Im November vor einem Jahr forderte der Taifun Haiyan auf den Philippinen über 6000 Todesopfer und hinterliess fünf Millionen Menschen obdachlos. Nun werfen die Wiederaufbauarbeiten des Roten Kreuzes Licht auf die unterschwelligen Probleme einer verunsicherten Bevölkerung.

Ein Sohn Noveros sitzt auf den Treppen des SRK-Hauses in Decalachao. (Bild: Livio Marc Stoeckli)

Im November vor einem Jahr forderte der Taifun Haiyan auf den Philippinen über 6000 Todesopfer und hinterliess fünf Millionen Menschen obdachlos. Nun werfen die Wiederaufbauarbeiten des Roten Kreuzes Licht auf die unterschwelligen Probleme einer verunsicherten Bevölkerung.

Robi Alvarado steht im Schatten seines zweistöckigen Hauses, nur die Hände streckt er durch den Gartenzaun in die Sonne. Dünne Holzlatten bilden die Aussenwand des Gebäudes, obenauf liegt ein Blechdach. Über eine lose baumelnde Strickleiter, an deren Ende Alvarados zwei Söhne leise spielen, erreicht er das schiefe erste Stockwerk.

Auf drei mal sechs Metern befinden sich hier fünf Zimmer, die Alvarado zu je 600 Pesos (rund 13 Franken) im Monat vermietet. Die Zimmer sind ständig von mehrköpfigen Familien bewohnt. Im vergangenen Mai, ein halbes Jahr nachdem der Taifun Haiyan Alvarados Haus vollständig zerstört hatte, baute er es wieder auf – sturmsicher ist es immer noch nicht.

An der Küste von Barangay Poblacion I finden sich ein Jahr nach dem Taifun noch immer Trümmerstücke zerstörter Boote in den Büschen. In der Bucht, in der bis 30 Meter hinaus Pfahlhäuser stehen, spült das Meer regelmässig kleine Holzsplitter an und «ab und zu auch immer noch ein Stück Stoff», wie Alvarado sagt.

Poblacion I ist das ärmste Viertel der Stadt Coron in der Provinz Palawan, einer Inselgruppe im Westen der Philippinen. Die grasigen Hügel im Umland von Coron sind die letzte Erhebung der Inselnation gegen Westen. Hier traf letzten November der Sturm auf Land, als die restlichen Philippinen die Evakuierungszentren bereits wieder verlassen konnten.

«Grössere Katastrophe als der Tsunami»

Als Anfang November 2013 der Taifun, der auf den Philippinen Yolanda heisst, quer über die Inselnation fegte, hinterliess er eine Spur der Verwüstung. «An den Folgen für die Bevölkerung gemessen ist Haiyan eine grössere Katastrophe als der Tsunami vom Jahr 2004», sagt Bob McKerrow. Der Länderkoordinator des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) organisiert auf den Philippinen in drei Regionen Wiederaufbauprojekte, darunter auch in Palawan.

Über fünf Millionen Einwohner sahen ihre Häuser zerstört, über vier Millionen wurden deswegen umgesiedelt oder zu Flüchtlingen. «Manila wurde in der Zeit nach Haiyan überschwemmt», sagt McKerrow. Bis zu 300 000 Menschen zogen nach dem Tropensturm ins Einzugsgebiet der Hauptstadt auf der Suche nach Platz für ein neues Leben.

«Haiyan ist eine grössere Katastrophe als der Tsunami von 2004.»

Der Neuseeländer McKerrow schaut aus dem Fenster eines der vielen Hochhäuser, die ihre Stockwerke über der 11,5-Millionen-Stadt Manila türmen: «Spricht man mit den Einwohnern hier, gibt es beinahe niemanden, der nicht nähere Verwandte hat, die direkt vom Sturm betroffen waren.»

Schutz vor dem Monster

Aber für viele wie Alvarado ist das Einkommen an das Inselleben gebunden – sie sind Fischer, Bauern, Viehzüchter. Mit der Flucht in die Grossstädte nähmen sie mehr Unsicherheit auf sich, als wenn sie ihre Häuser trotz der ständigen Sturmgefahr aus den verstreuten Trümmern wieder aufbauten. Und das taten die Einwohner in den Wochen und Monaten nach Haiyan.

Im indigenen Dorf Decalachao nördlich von Coron zerstörte der Sturm 128 von 380 Häusern komplett, als am Abend des 8. November Haiyan während einer Stunde «die Bäume peitschte», wie der Fischer Flaviano Novero sagt.

Novero steht im Garten, in dem er sich und seine sechs Kinder versteckte, unsicher, ob sie Schutz vor dem «Monster» fänden. Sein ganzes Eigentum flog damals mit dem Sturm davon, aber viel hatte er sowieso nicht, wie er selber sagt und lacht.

Probleme, die niemand sehen wollte

Heute besitzt Novero eines der Musterhäuser des SRK: feste und stabile Holzwände, mit Betonpfeilern verankert. Die Hütten bieten wenig Charme, bestehen nur aus einem einzelnen Raum, der mit einem Ziehvorhang getrennt werden kann. Aber sie halten einem Sturm wie Haiyan stand.

Über 5000 solcher «Core Shelters» stehen bereits. 17 000 Haushalte wurden zudem mit Baumaterialien unterstützt, mit dem Ziel, ihre Häuser taifunsicher zu machen. Rund zwei Millionen Franken stehen für das Projekt in Palawan während zwei Jahren bereit – ein Haus kostet rund 1200 Franken.

Aber Haiyan brachte nebst dem Leid für die Bevölkerung auch unterschwellige Probleme zu Tage, die lange niemand sehen wollte. So etwa die bescheidenen medizinischen Versorgungsmöglichkeiten der meist abgelegenen Inseln. Aber auch gravierende Fragen zu den eigenen vier Wänden: Einerseits zeigte Haiyan, dass die wenigsten Häuser einem grossen Sturm standhalten – andererseits stehen genau diese unsicheren Häuser auf noch unsichererem Boden, denn die Grundstückfrage ist problematisch.



Ein Fischer ruht sich nach dem morgendlichen Fischmarkt auf einer Mauer aus. Vor ihm liegen die Pfahlbauten im Ufergebiet von Coron.

Ein Fischer ruht sich nach dem morgendlichen Fischmarkt auf einer Mauer aus. Vor ihm liegen die Pfahlbauten im Ufergebiet von Coron. (Bild: Livio Marc Stoeckli)

«Ein Desaster ist immer auch eine Chance», sagt Catalina Jaime, die Desaster-Risk-Reduction-Delegierte des SRK in Coron. «Haiyan hat Prozesse losgetreten, die seit Jahren fällig waren.» Aber dass eine Hilfsorganisation Katastrophenhilfe leistet und zur Aufwertung eines Landes bleibt, ist ein Kritikpunkt – nicht zuletzt seitens der Spender.

Hilfe zur Selbsthilfe

Das Teilprojekt «Livelihood» des Roten Kreuzes, das insbesondere in den vorwiegend indigenen Dörfern den Einwohnern helfen soll, ihre ökonomischen Chancen zu verbessern, steht dabei oft im Fokus der Kritik, da die Erfolge nur schwer einzuschätzen sind.

Das Rote Kreuz verspricht sich von der Hilfe zur Selbsthilfe eine grössere Investition in Haus und Bildung. Derzeit werden in Palawan mit dem «Livelihood»-Projekt rund 1500 Haushalte betreut. Jedoch trat gerade dadurch die Grundstückfrage zutage, denn oft sind die Häuser der Einheimischen auf unsicherem Boden erbaut, ohne Papiere und ohne die Gewissheit, dass der Staat nicht plötzlich Anspruch erhebt. Zwar sichert sich das Rote Kreuz mit seinen «Core Shelters» 15 Jahre Standplatzgarantie. Millionen Einwohnern, die ihre Häuser selbst aufbauten, bleibt jedoch nur die Unsicherheit.

Haiyan, der Millionen Häuser aus dem Boden riss und Brachland zurückliess, veranlasste den Staat zu Umsiedlungsplänen. Das stellvertretende Vierteloberhaupt von Poblacion I, Tobias Florencio, weiss davon allerdings nur wenig: «Es heisst, 2015 sollen die Menschen umgesiedelt werden, die innerhalb der 40-Meter-Katastrophen-Buffer-Zone am Meer wohnen.»

Florencio sitzt in seinem Büro-Bungalow am Eingang des Viertels Poblacion I. Viele der Fragen, die ihm betreffend Landeigentum und zukünftigen Bauvorhaben gestellt werden, kann er nicht beantworten. Er weiss nur, dass es Pläne für Siedlungen «in Nähe des Flughafens» gibt, eine Autostunde entfernt.

Überfischung, Dynamit und Cyanid

Die Buffer-Zone würde rund die Hälfte der 900 Haushalte von Poblacion I betreffen – statt Pfahlhäusern würden Wissenschaftler weltweit lieber Mangrovensiedlungen und Deiche an solchen Stellen sehen. Viele Einwohner jedoch verdienen ihr Einkommen mit der Fischerei, die ihrerseits durch Überfischung und Hilfsmittel wie Dynamit oder Cyanid in den letzten Jahren stark gelitten hat. Bei einer Umsiedlung verlören damit 2250 Menschen auf einen Schlag ihre Lebensgrundlage.



Tobias Florencio, das stellvertretende Vierteloberhaupt von Poblacion I, in seinem Bürobungalow.

Tobias Florencio, das stellvertretende Vierteloberhaupt von Poblacion I, in seinem Bürobungalow. (Bild: Livio Marc Stoeckli)

Und so sagt Florencio zu Recht: «Der Boden hier gehört Haiyan.» Er geht den schlammigen Pfaden im Ufergebiet von Poblacion I entlang und spricht hie und da mit einem Bewohner. Seit dreizehn Jahren lebt Florencio in Poblacion I, wo er seiner zweiten Beschäftigung als Baptistenpastor nachgeht.

In seinen Anfängen sei ganz Coron, das heute rund 43 000 Einwohner aufweist, wie ein kleines Fischerdorf gewesen. «Mittlerweile ziehen viele indigene Inselbewohner hierher, auf der Suche nach einem Stück Land», sagt Florencio. Er steht vor einem Coiffeursalon, zwei kleine Mädchen schauen ihn ehrfürchtig an.

Florencio ist in seiner Doppelrolle als Pastor und Vize-Vierteloberhaupt nahe an den Nöten und Ängsten der Einwohner. Er versucht zu helfen, dabei fühlte er sich noch selten so hilflos wie jetzt in der Zeit nach dem Sturm. Dass der Staat sagt, es ginge bei den Umsiedlungsplänen um Sicherheit, weiss er, und glaubt es doch nicht ganz.

Artikelgeschichte

Anlässlich des ersten Jahrestages des Taifuns Haiyan lud das Schweizerische Rote Kreuz Ende Oktober auf eine Medienrundreise ein.

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