Das Gezerre ums katalanische Referendum

Die Katalanen wollen im nationalistischen Rausch eine Abstimmung über ihre Unabhängigkeit erzwingen. So kann man es derzeit lesen. Dabei geht es im Streit zwischen Region und Zentralstaat nicht um Blut und Boden – sondern um einen emanzipatorischen Begriff von Nation.

Protest macht müde: Demonstranten vor dem obersten Gericht in Barcelona am 21. September.

A
In den meisten Medien ausserhalb Spaniens ist die Frage, ob Katalonien ein selbstständiger Staat werden soll, bis vor wenigen Wochen kein Thema gewesen. Das hat sich geändert. Nun wird auch in der deutschsprachigen Medienöffentlichkeit täglich dazu publiziert. Wobei mir auffällt: Es handelt sich meistens um kommentierende Texte, nicht um eine vertiefte Berichterstattung.

Ausgangspunkt vieler dieser Kommentare ist erkennbar die Communiqué-Produktion der spanischen Minderheitsregierung von Rajoy und der PP, allenfalls noch jene der sie in der Frage des Referendums in Katalonien unterstützenden Parteizentralen der Spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei PSOE und jener als Gegenbewegung zum katalanischen Nationalismus entstandenen Partei Ciudadanos.

Was die vielfältigen und vielstimmigen politischen Bewegungen in Katalonien – die für die Abhaltung des Referendums oder die Schaffung einer Republik Katalonien eintreten – zur Situation erklären, wird in den überregionalen deutschsprachigen Medien höchstens in sehr reduzierter Form dargestellt.

Was Podemos als landesweite Gruppierung und zahlreiche regionale Parteien (namentlich baskische oder balearische) zu Rajoys jahrelang praktizierten Verhandlungsverweigerung in der katalanischen Autonomiegestaltung innerhalb des spanischen Staates sagen, kommt in der deutschsprachigen Berichterstattung mit Ausnahme von regelmässig erscheinenden Berichten in der «taz» praktisch nicht vor.

Dümmliche Separatisten?

Dafür wird der Eindruck vermittelt, es seien in Katalonien etwas dümmliche Separatisten am Werk, die in einem Anflug von Selbstüberschätzung den spanischen Rechtsstaat herausfordern. Dieser, so der «deutsche» Tenor, antworte nun halt entsprechend.

In der «Zeit» schreibt Ulrich Ladurner unter dem Titel «Das Kalkül der Separatisten»:

Als der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont am gestrigen Mittwoch in Barcelona vor die Presse trat, sagte er: «Die Zentralregierung hat die rote Linie zu einem autoritären und repressiven Regime überschritten (…), sie hat den De-facto-Ausnahmezustand über Katalonien verhängt!» Mit diesen harten Worten reagierte er auf die Festsetzung von 13 Mitarbeitern seiner Regierung durch die spanische Polizei. Puigdemont, kein Mann der Mäßigung, drehte damit verbal weiter an einer Eskalationsspirale, die Anfang September begonnen hatte.
Am 6. September verabschiedete das katalanische Regionalparlament ein Gesetz, das den Weg für ein Unabhängigkeitsreferendum freimachen sollte. 60 Abgeordnete stimmten dagegen, 72 stimmten dafür. Das war schon ein Zeichen dafür, dass selbst die katalanische Gesellschaft in dieser Frage tief gespalten ist. Doch Puigdemonts Regierung kümmerte das nicht. Sie peitschte das Gesetz innerhalb von 48 Stunden durch das Parlament. Zeit für eine ausgiebige Debatte über eine so existenzielle Frage wie die Unabhängigkeit gab es nicht.

In der «Frankfurter Allgemeinen» schreibt Paul Ingendaay:

Die Produktion der Fake News läuft jedoch auch nach der Festnahme von 14 Regierungsbeamten aus Junqueras Wirtschaftsministerium, die mit der Vorbereitung des illegalen, für den 1. Oktober geplanten Referendums befasst sein sollen, sowie der Beschlagnahme von zehn Millionen Wahlzetteln weiter auf Hochtouren. Mit politischen Begriffen geht die katalanische Regierung genauso schlampig um wie mit der Geschichte. Nicht sie selbst, sondern Spanien sei «antidemokratisch» und «totalitär». Die populistische Rede von Ministerpräsident Puigdemont hat den Konflikt weiter angeheizt und dorthin getragen, von wo er ausging: auf die Strasse.

Die «Eskalationsspirale» habe Anfang September begonnen, nachdem die Regierung von Puigdemont das Referendums- und Übergangsgesetz durch das katalanische Parlament «gepeitscht» habe?

Eine Darstellung, die vorgibt, dass es ausser der Willkür der «peitschenden» katalanischen  Regierung keinerlei Gründe für das Streben nach katalanischer staatlicher Unabhängigkeit geben würde. Über den Begriff «Autonomie», der seit dem Ende der Franco-Diktatur für die katalanische Politik im Verhältnis zum Zentralstaat – vielfach begründet – die Hauptrolle gespielt hat, wer auch immer die Regionalregierung geleitet hat: kein Wort.

Laut Ladurner soll das Problem Katalonien erst Anfang September 2017 quasi als Eskalationsstart einer Regionalregierung geschaffen worden sein, die keine Zeit für Debatten zulassen wolle und damit die «tiefe Spaltung» des katalanischen Volkes in Kauf nehme.

Oder:

Der katalanische Ministerpräsident gehe schlampig mit der Geschichte um. Der Autor dieser Feststellung schuldet dem Leser eine Begründung für sein apodiktisch vorgetragenes Urteil. Dafür aber beruft er sich weiter unten in seinem Feuilleton-Text in der FAZ auf das Urteil eines Nobelpreisträgers und «Ordnungspolitikers»:

Immer wieder haben die sezessionistischen Parteien in Katalonien die schiere Zahl der Demonstranten als Ausdruck des wahren «Volkswillens» beschworen, und es gibt keinen Grund anzunehmen, sie würden ihre Strategie unter dem erhöhten Druck des spanischen Rechtsstaates ändern. Das «Volk» ist ihr Kampfbegriff, ihr Schutzschild, ihr Pfand. Dass wahrscheinlich ein grösserer Teil des katalanischen Volkes auf diese Weise seiner Rechte beraubt wird, fällt unter den Tisch.
Der Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa hat den Referendumsversuch der katalanischen Regionalregierung jetzt mit harten Worten als «Absurdität»,«Anachronismus» und Staatsstreich» bezeichnet. Aus dem Schriftsteller spricht der Ordnungspolitiker, der selbst einmal Staatspräsident von Peru werden wollte, um sein Land vor dem Autokraten Fujimori zu bewahren.

Was die Geschichte betrifft, die bei Ladurner nicht vorkommt und bei Ingendaay angeblich eine schlampige Interpretation durch die katalanische Generalitat (Regionalregierung und Regionalparlament) erfahre, sind die folgenden Erinnerungen wohl angebracht:

Unter der Diktatur Francos hatten Katalanen nebst den Basken am meisten zu leiden. Die unter anderem aus der Geschichte Spaniens und Kataloniens begründete Autonomie Kataloniens innerhalb des spanischen Staates wurde, wie bereits unter der Diktatur von de Riva (1923–1930), durch Franco ersatzlos abgeschafft. Unter den republikanischen Regierungen Spaniens (zuletzt von den Instanzen der 2. Republik, 1931–1936) war die Autonomie Kataloniens wesentlich für die spanische Staatsstruktur und als Bestandteil der Verfassung anerkannt.

Franco zerstörte zielgerichtet jegliche katalanische politische Selbstäusserung. Die Benutzung der katalanischen Sprache in den Schulen und schliesslich in der Öffentlichkeit wurde verboten. Die Bildung wurde entgegen katalanischen urbanen Traditionen weitgehend entstaatlicht, konkret: der katholischen Kirche zugeschoben.

Zentralstaatliche Behördenstrukturen wurden noch für die unwichtigste lokale Kleinigkeit durchgesetzt.

Als sich in den Bildungsorden (Jesuiten und Benediktiner) in den späten Fünfzigerjahren emanzipatorische Elemente Raum verschafften, wurden vor allem in Katalonien zahlreiche für die Öffnung der Bildung engagierte Kleriker aus dem Schuldienst entfernt und durch den franquistischen Staat kriminalisiert. An die Stelle der lokalen Polizei trat die militärisch aufgebaute Guardia Civil samt einem Heer von Folterknechten.

Zentralstaatliche Behördenstrukturen wurden ohne Berücksichtigung teilweise jahrzehntealter Selbstverwaltungsorganisationen noch für die unwichtigste lokale Kleinigkeit durchgesetzt. In die wirtschaftliche Entwicklung Kataloniens wurde vonseiten des Zentralstaats bis in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts kaum  investiert.

Nach Francos Tod gelang 1977 nach schwierigen Verhandlungen mit der Zentralregierung von Suarez die Wiedereinführung der katalanischen Generalitat und damit der Neubeginn einer teilautonomen Region. 1979 wurde die katalanische Verfassung, das Estatut, beschlossen.

Der König setzte das Autonomiestatut in Kraft, doch dann hatte das Verfassungsgericht Vorbehalte.

Mit der rasanten ökonomischen Entwicklung Kataloniens nach dem EU-Beitritt Spaniens drängte sich eine qualitative Verbesserung der Autonomie innerhalb des spanischen Staates auf. In wiederum schwierigen Verhandlungen wurde schliesslich 2006 ein neues «Estatut d’Autonomia» verabschiedet. Sowohl der Kongress und der Senat der spanischen Cortes (Parlamentskammern) als auch das Regionalparlament von Katalonien haben diesem Statut zugestimmt. Mit 73 Prozent hat die katalanische Wählerschaft in einem Referendum das Statut als Verfassung Kataloniens gutgeheissen. Der König hat es Ende 2006 in Kraft gesetzt.

Dagegen hat der Partido Popolar (PP) eine Normenfeststellungsklage beim spanischen Verfassungsgericht eingereicht. 2010 hat das Verfassungsgericht 14 Artikel des Statuts als nicht verfassungskonform bezeichnet und für weitere gut 20 der insgesamt über 200 Artikel Formulierungsänderungen vorgeschrieben.

Als Folge dieses Verfassungsgerichts-Ureils kam es im Juli 2010 in Barcelona zum ersten Mal zu einer Demonstration für eine Republik Katalonien. Übereinstimmend haben Medien wie Polizei damals die Teilnehmerzahl auf über eine Million Menschen geschätzt.

Vonseiten der spanischen Zentralregierung geschah seit dieser Urteilsverkündung nichts. Rajoy, seine Partei PP, aber auch Teile der PSOE stellten sich auf den von ihnen als «rechtsstaatlich» und «demokratisch» bezeichneten Standpunkt, «die» Katalanen hätten sich tel quel den zentralstaatlichen  Machtansprüchen unterzuordnen, weil das Verfassungsgericht genau dies von ihnen verlange. Alles andere sei illegal. Dass das Statut von 2006 immerhin vier Jahre lang wirksam war, wird von Rajoy und seiner PP, wird von der PSOE und von den Cuidadanos in ihren Communiqués und Stellungsnahmen nicht erwähnt. Und schon gar nicht gewürdigt.

Zu seinem Blick auf diese Situation hat der ehemalige Präsident der Generalitat Katalonien, Artur Mas, der «Zeit» ein Interview gegeben, das am 23.9.2017 publiziert worden ist.

Auf die Frage, was Rajoy bezüglich der Probleme mit Katalonien bei ihren Begegnungen nicht habe sehen wollen, sagt Mas:

Die Katalanen wollen als Nation anerkannt werden und als Nation handeln können. Sie wollen als solche über ihre Zukunft entscheiden können. Niemand in Deutschland würde Zweifel darüber hegen, dass Deutschland über seine Zukunft selbst entscheiden kann. Wir sind auch eine Nation. Wir haben dieselben Rechte wie andere Nationen auch. Bedenken Sie, dass dieser Wille von einem Volk ausgesprochen wird, von dem 70 Prozent aller Menschen nichtkatalanische Wurzeln haben. Wir sind eine sehr gemischte Gesellschaft, ein «melting pot». Es ist also keine ethnische Frage, es ist auch keine Frage des Geldes. Es geht um den Willen der Menschen, eine Nation zu sein und als solche handeln zu können.

Die Zeit: Sie selber waren nicht immer für eine Abtrennung Kataloniens von Spanien?
Mas: Nicht nur ich. Die Mehrheit der Katalanen und der katalanischen Parteien hat viele Jahre lang hart dafür gearbeitet, die Autonomie Kataloniens innerhalb des gesetzlichen Rahmens Spaniens zu entwickeln.

Die Zeit: Und das war eine Sackgasse?
Mas: Ja, das war es. Das Verfassungsgericht lehnte im Jahr 2010 das Autonomiestatut ab, für das die Katalanen 2006 gestimmt hatten. Angeblich war es verfassungswidrig. Diese Entscheidung war der Wendepunkt.

Die Zeit: Auch für Sie?
Mas: Ja, denn die Entscheidung bedeutete: Das letzte Wort über das Schicksal der Katalanen haben nicht die Katalanen, sondern das Verfassungsgericht. Ein demokratisches Desaster.

Zwei Begriffe spielen in der Diskussion über «Autonomie» oder «Republik» zurzeit in Spanien, speziell auch in Katalonien, eine wichtige Rolle: Demokratie und Nation.

1. Demokratie

In der Interpretation von Rajoy, der PP, der PSOE und Ciudadanos wird betont, das Vorgehen der Generalitat von Katalonien (namentlich von Präsident Puigdemont und von Vizepräsident Junqueras) – das heisst, die Ansetzung des Referendums 1-O, wie der Vorgang in Katalonien als Kürzel genannt wird – sei ein Bruch mit der Demokratie. Die Verfassung bestimme in einer Demokratie die Regeln. Wer die Regeln breche, handle undemokratisch, also illegal. Um die Legalität aufrechtzuerhalten, müssten die Exekutivorgane des Staates gegen die illegalen Handlungsabsichten in Katalonien vorgehen.

In der Interpretation von «Demokratie» durch die Generalitat und durch die Autonomie- und die Republikgründungs-Befürworter ist das Referendum Ausdruck der prozessbestimmenden Mitsprache des Souveräns, also der Bewohnerinnen und Bewohner Kataloniens. Das Referendum sei folglich Ausdruck demokratischer Selbstbestimmung ihrer «Nation». Demokratie sei gewährleistet, weil das katalanische Parlament sowohl für das Referendum an sich als auch für die danach allenfalls folgenden Umsetzungsschritte des Referendumsinhalts gestimmt habe. An der Regionalregierung unter dem Präsidenten der Generalitat liege es, diese demokratisch erfolgten Parlamentsbeschlüsse umzusetzen.

2. Nation:

In der Schweiz ist oft von der «Willensnation» die Rede. Damit betont man – wenigstens theoretisch, und in der Romandie eher als in gewissen Gegenden der Deutschschweiz – die nicht-ethnische Grundlage der schweizerischen Staatsbürgerschaft. In Deutschland wiederum ist der Begriff Nation seit der Zeit nach 1945 verpönt. Mit gutem Grund gelten Nationalisten rein begrifflich im deutschen Sprachgebiet nach vielfältiger und selbstkritischer Verarbeitung der deutschen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im besten Fall als «ewiggestrig», als «reaktionär» und so weiter.

Es existiert aber – vor allem im lateinischen und im skandinavischen Europa – eine ganz andere, nämlich eine aufklärerische Bedeutung des Begriffs Nation. Gespeist wird diese Bedeutung historisch verstanden beispielsweise durch Napoleons «code civil» oder durch die Überwindung rassistischer Vorbehalte gegenüber ethnischen Minderheiten in zahlreichen Verfassungen europäischer Staaten oder beispielsweise auch den USA. Man denke etwa an die Rechtsgleichheit für jüdische Menschen, also an einen Prozess, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wesentlicher Bestandteil zivilisatorischer und rechtsstaatlicher Entwicklungen war.

In Spanien vertreten Basken, Katalanen oder Balearen den letztgenannten emanzipatorischen Begriff Nation. Die von Franco herstammenden reaktionär-konservativen Kreise, die wesentlich die PP bilden, bedienen hingegen einen «Blut und Boden»-Nationalismus, mit dem sie eine ethnisch gegebene «Einheit» des Staates beschwören. Da gehören dann zum Beispiel Migranten nicht dazu. Für die emanzipatorischen Nationalisten hingegen sind sie ein willkommener Teil der sich öffnenden Nation.

So gab es am 18. Februar 2017 in Barcelona eine Grossdemonstration zugunsten der sofortigen Aufnahme der gegenüber der EU zugesicherten Kontingente von Flüchtlingen. Rund 200’000 Menschen haben für Offenheit gegenüber Flüchtlingen demonstriert. Das war und ist einmalig im gegenwärtigen Europa und weist auf inhaltliche Hintergründe jener hin, welche die Schaffung einer Republik Katalonien fordern.

B

1. Das spanische Verfassungsgericht

Offensichtlich passen die Katalonien-Erzählung der katalanischen Separatisten und die «Verfassungs»-Erzählung der spanischen Regierungszentrale unter Rajoy überhaupt nicht zusammen.

Rajoy und andere Staatszentristen schieben seit Jahren das spanische Verfassungsgericht vor, um in der Frage eines Ausbaus der Autonomie für die Region Katalonien nichts unternehmen zu müssen. Konkret versucht die PP seit Jahren, Kataloniens Autonomie in Bildungsfragen zu beschneiden. Dahinter steckt keine Verfassungsfrage, sondern Machtideologie der spanischen Rechten. Das Verfassungsgericht hat auf  Normenklage der PP 2010 das 2006 verabschiedete Autonomiestatut für Katalonien, wie oben dargestellt, als verfassungswidrig erklärt.

Nicht verfassungskonform zusammengesetzt

Bei dieser Urteilsverkündung war das Verfassungsgericht allerdings nicht verfassungskonform zusammengesetzt: Die vorgeschriebene Erneuerung eines Drittels der Richter hat zwischen 2007 und 2012 nicht stattgefunden, weil im Senat wie im Congres die dafür notwendige 3/5-Mehrheiten für die Wahl eines Richters wegen Obstruktionen der damals oppositionellen PP nicht zustande kamen.

Dass dieser Umstand Auswirkungen auf das Urteil von 2010 gehabt haben kann, liegt auf der Hand. Das Gericht war 2010 entgegen der Zusammensetzung der beiden Parlamentskammern – die 2006 das Autonomiestatut mit Katalonien mehrheitlich verabschiedet haben – mit PP-Parteimitgliedern besetzt, die eigentlich dem Gericht wegen Amtszeitüberschreitung gar nicht mehr hätten angehören dürfen. Heute repräsentiert das Gericht, das nun wieder verfassungskonform zusammengesetzt ist, mit 7:5 immer noch  eine sogenannt konservative Mehrheit, das heisst eine, die der PP und deren Innenpolitik mindestens nahesteht.

2. Das katalanische Parlament und die Referendumsfrage

Das katalanische Parlament wurde am 27. September 2015 zum letzten Mal bei vorgezogenen Wahlen und mit einer Rekordbeteiligung von 77 Prozent der Wahlberechtigten neu gewählt. Dabei erhielten die Parteien, die im Wahlkampf plebiszitär für ein erneutes Referendum zur Frage der katalanischen Unabhängigkeit votierten, die neu gegründete Gemeinschaftspartei «Junts per Si» (40%) und die CUP (linkssozialistisch-anarchistisch, 8 %) zusammen mit 48 Prozent Wähleranteil 72 Mandate im 135-köpfigen Parlament.

Jene Parteien, die gegen ein Referendum votiert haben, die Ciudadanos (18%), die PSC (Sozialisten 12,7%) und die PP (8,5%) erhielten zusammen rund 39 Prozent der Wählerstimmen. Die mit der gesamtspanischen Podemos verbündete CSP, die keine definierte Haltung in der Referendumsfrage eingenommen hat, erhielt 9 Prozent.

Die Regierungskoalition – bestehend aus der «Junts per Si» (die aus der Mehrheit der bürgerlichen CiU und der linken ERC gebildete Partei, die für die Unabhängigkeit des Staates Katalonien von Spanien eintritt) und der für europäische Verhältnisse sehr weit links politisierenden CUP – hat ihre parlamentarische Mehrheit mit einer eindeutigen Aussage zur Durchführung eines Referendums über die staatliche Unabhängigkeit Kataloniens innert 18 Monaten nach der Parlamentswahl erreicht.

Ein erstes Referendum im November 2014 wurde unter dem Druck der spanischen Regierung vom damaligen Generalitat-Präsidenten Mas in eine unverbindliche Konsultation der Wählerinnen und Wähler umbenannt. Immerhin über 37 Prozent der Berechtigten nahmen an dieser Konsultation teil, 1,86 Millionen oder 80,7 Prozent stimmten für die völlige Unabhängigkeit, rund 230’000 oder rund 10 Prozent für eine Unabhängigkeit im Rahmen des spanischen Staates und rund 105’000 oder 4,5 Prozent gegen jegliche Veränderung des Status quo.

Das katalanische Parlament erklärt, sich nicht dem spanischen Verfassungsgericht «unterwerfen» zu wollen.

Im November 2015 hat die katalanische Parlamentsmehrheit von «Junts per Si» und CUP eine «Resolution über den Beginn des politischen Prozesses in Katalonien als Folge des Wahlergebnisses vom 27. September 2015» verabschiedet. Die Resolution erklärt, dass sich das Parlament als Wahrerin der Souveränität und «als Ausdruck der verfassungsgebenden Gewalt» in der «demokratischen Loslösung» Kataloniens aus Spanien den spanischen Autoritäten, namentlich dem spanischen Verfassungsgericht, nicht «unterwerfen» werde. Die Regierung Rajoy klagte gegen diese Resolution, und das Verfassungsgericht hat sie bereits am 2. Dezember 2015 für ungültig und nichtig erklärt.

Der Beschluss für das Referendum am 1. Oktober 2017 und für Übergangsgesetze nach der allfälligen Verkündigung der staatlichen Unabhängigkeit fasste das katalanische Parlament nach 48-stündiger heftiger Diskussion und nach anderthalbjähriger Vorbereitung mit 72 zu 60 Stimmen am 6. September 2017. Diese Beschlüsse hat das Verfassungsgericht wenige Tage später auf Klage der Regierung Rajoy als verfassungswidrig und illegal erklärt.

C

In der Woche vor 1-O (1. Oktober) ist die Lage in Katalonien für die Einwohnerinnen und Einwohner undurchsichtig.

  • Rajoy erklärt bei jeder sich ihm bietenden medial inszenierten Gelegenheit: Das illegale Referendum findet nicht satt. Die katalanische Generalitat (also die Regionalregierung und die Mehrheit des Parlaments) erklären bei jeder sich ihnen bietenden medial inszenierten Gelegenheit: Das Referendum findet statt. Die Wählerinnen und Wähler werden rechtzeitig die Wahlzettel erhalten und die Standorte der Wahllokale erfahren.
  • Der spanische Generalstaatsanwalt droht den über 700 (von insgesamt über 900) Bürgermeistern katalanischer Städte und Dörfer, welche die Durchführung des Referendums in ihrem Amtsbereich angekündigt haben, mit Buss- und Strafverfahren, Amtsenthebung und weiteren Massnahmen.
  • Aus der Zentrale der PSOE kommen erste Äusserungen, die als Absetzungsbewegung von Rajoys Unversöhnlichkeit gegenüber Katalonien verstanden werden können. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Minderheitsregierung von Rajoys PP bei Entzug der Duldung durch die PSOE und die Ciudadanos rechtsstaatlich verstanden handlungsunfähig wäre. Der spanische Generalstaatsanwalt droht mit der Möglichkeit, dass der katalanische Präsident und Mitglieder der katalanischen Regionalregierung verhaftet werden könnten.
  • Das spanische Innenministerium hat die im Autonomiestatut von 1979 garantierte Autonomie der katalanischen Polizei, der Mossos d’Esquadra, aufgehoben und ihr einen befehlshabenden Oberst der Guardia Civil vorgesetzt.

Und:

Seit den Verhaftungen von 14 Beamten des Wirtschaftsdepartements von Katalonien durch die Guardia Cvivil am 20. September äussert sich in Barcelona täglich ein Bürgerprotest der etwas besonderen Art: Jeden Abend um 22 Uhr beginnt ein viertelstündiges Pfannendeckelschlagen. Hunderttausende stehen auf ihren Balkonen oder hinter geöffneten Fenstern und erzeugen einen Akustikteppich über dem nächtlichen Stadtraum, den niemand überhören kann. Keine Polizeimassnahme kann diese hunderttausendfach unterstützte Protestdemonstration in der Millionenmetropole verhindern. Wie das klingt? Hören Sie selber:

Und genau dies ist eine, leicht im Ironischen angesiedelte Willenskundgebung von sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern. Es geht ihnen erst einmal gar nicht um die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien. Nein, es ist eine Kundgebung gegen die massiven Obstruktionen gegen ihr Wahlrecht in ihrer Region durch die Regierung Rajoy, das Verfassungsgericht und den spanischen Generalstaatsanwalt.

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