Das grosse Defilee

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges marschierten 35 000 Schweizer Soldaten.

(Bild: Eidgenössische Militärbibliothek)

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges vor 50 Jahren marschierten 35 000 Soldaten in Dübendorf auf. Das Selbstverständnis der Schweiz zeigte da bereits Risse.

Die Comet 4B der Olympic Airways landete aus Athen kommend pünktlich um die Mittagszeit auf dem Flughafen Zürich-Kloten. Meine von der griechischen Sonne gebräunte Familie fuhr nun nach einem Essen im Flughafen-Restaurant nicht etwa nach Hause in die Ostschweiz, sondern unter väterlichem Kommando nach Dübendorf «zum grossen Defilee, dem grössten aller Zeiten».

Es war Donnerstag, der 17. Oktober 1963, und es herrschte eine sonderbare Stimmung – glich sie einer Mischung aus Volksfest und Eidgenössischem Buss- und Bettag? Die ganze Schweiz schien sich einen freien Tag genommen zu haben. Niemand mochte ahnen, dass zum letzten Mal ein so gros­ser Truppenverband in der Schweiz zum Defilee aufmarschieren konnte. Ein gesellschaftlicher Umbruch, der solche Demonstrationen der Macht in Frage stellen würde, schien fern, «1968» unvorstellbar.

Vater hatte Platzkarten organisiert, schräg vis-à-vis der Ehrentribüne. Dort stand Bundesrat und EMD-Chef Paul Chaudet im schwarzen Zweireiher auf einem Podest, sich immer wieder den Hut vom Kopf reissend, um den Fahnen der Truppe seine Ehre zu erweisen. Der Waadtländer Magistrat war just dabei, sich in seinen saftigen Mirage-Skandal zu verheddern: Einhundert Jets waren bestellt, die ruinösen Kosten aber noch unbekannt.

Hinter Chaudet auf der Tribüne waren durch Vaters Offiziers-Feldstecher die Honoratioren der Wirtschaft zu ­sehen, der Politik, der Armee, die ­bürgerliche, männliche Elite des Landes – abwesend die Kultur- und Kunstschaffenden. Militärattachés aus 15 Ländern befanden sich darunter, samt Prinz Konstantin von Griechenland. Die schicken fremden Uniformen wirkten besonders flott neben den Schweizer Offiziers-Gwändli. Und dann diese Massen an Menschen. Derart viele hatten sich in der Schweiz vielleicht noch nie freiwillig versammelt zur gleichen Stunde am selben Ort. Entlang der Piste sassen auf eigens errichteten Tribünen 240 000 Frauen, Männer und Kinder und erwarteten die 35 000 Soldaten des zweiten Feldarmeekorps.

Stampfender Gleichschritt

Die Welt erlebte damals die bedrückendsten Jahre des Kalten Krieges, und hier in Dübendorf manifestierte die offizielle Schweiz ihre Antwort darauf mit dem «grossen Tag eines wehrhaften Volkes», wie die «Neue Zürcher Zeitung» titelte. Vor der Ehrentribüne rauschten zum Auftakt der militärischen Demonstration Tausende von Brieftauben davon. Beifall brandete auf, eine Freude wars – aber keine Friedensbotschaft. Diese braven Vögel liessen sich als Allegorie zu General Guisans Befehl verstehen, der 1940 «Halten bis zur letzten Patrone» verlangt hatte: Ist diese verschossen, lässt sich das vor dem Gang in den Tod oder die Gefangenschaft per Brieftaube vielleicht noch mitteilen.

Von meinem durchaus guten Sitzplatz aus, gleich neben einer wuchtig arbeitenden Militärkapelle, liess sich im diesigen Herbstlicht weder der Anfang noch das Ende der Landepiste genau erkennen. Kurz nach drei Uhr nachmittags fiel zudem etwas Regen. Die Hitze der Motoren und die Abgase taten das ihre und liessen die Luft schlierig werden.

Von 5,4 Millionen Einwohnern waren in der Schweiz 625 000 Soldaten.

Umso mehr verstärkte sich im Laufe des Defilees der Eindruck, dass der unermessliche Strom an Soldaten mit ihrem stampfenden Gleichschritt, die endlose Kolonne von Lastwagen, von Panzern und Kanonen nie mehr abreis­sen könne. Kampfflugzeuge heulten in fadengerade ausgerichteten Formationen über uns hinweg, über einhundert Düsenmaschinen der Typen Vampire, Venom und Hunter – Namen, die jeder Bub kannte. Die Schweiz war ein waffenstarrender Zwerg. Er zeigte sich an jenem Tag im Oktober 1963. Der ­Boden neben der 40 Meter breiten Landepiste bebte, als die veralteten Jagdpanzer G 13, die schnellen französischen AMX und die 50 Tonnen schweren Centurion-Panzer aus England in Viererkolonne vorbeikarrten. Die Soldaten der Infanterie marschierten in Zwölferkolonnen, 118 Schritte pro Minute und auf Höhe der Ehrentribüne mit dem Blick nach: rechts!

Füsilier Klaus Deuchler schreibt: «Der manchmal fast stürmische Beifall und die Marschmusik beschwingen unwillkürlich den Schritt, straffen die Haltung und lassen etwas Stolz aufkommen.» Die Schweiz mit ihren 5,4 Millionen Einwohnern vermochte damals eine Armee aufzubieten mit 625 000 Angehörigen. Ein Massenheer. Ich rechnete: Verteilt auf das eigene Territorium ergab das pro Quadratkilometer etwa 15 Soldaten – keine Armee in Europa war stärker.

Das Schweizer Fernsehen übertrug das Defilee stundenlang live mit einem bis anhin nicht gekannten Aufwand von drei Kamera-Equipen. Fast eine Million Menschen verfolgte den Aufmarsch an einem der rund 400 000 Schwarzweiss-Geräten im Land. Die «Neue Zürcher Zeitung» gestand dem Studio Bellerive «eine vorzügliche Leistung» zu. Der Kommentar sei im Gegensatz zum Korps-Defilee in Payerne von 1959 «ausgezeichnet» und von «überlegener Kenntnis» gewesen.

Der «Playboy» beim Coiffeur

Die Schweiz jenes Defilee-Jahres 1963 war ein Land, das aus heutiger Sicht fremd wirkt. Die Bürgerfamilie gewöhnte sich zwar rasch an den schnell wachsenden Wohlstand. Waschmaschine, Ferien an der Adria und die Wohnwand in der guten Stube gehörten zum mittelständischen Streben. Im Sozialwohnungsbau gehörten die Zentralheizung und die eigene Badewanne zum Standard. Das Auto wurde für die Sekundarlehrerin und den Bauführer erschwinglich. Nach dem harten Seegfrörni-Winter liess Mann sich am Salon in Genf den ersten Opel Rekord zeigen, den Ford Mustang und zum Träumen den Mercedes-Benz 230 SL. In Collombey bei Aigle ging die erste Ölraffinerie in Bau, Erdöl ersetzte die Kohle. Arbeiter und Gewerkschaften organisierten Streiks für den 13. Monatslohn und die 40-Stunden-Woche. Beim Männer-Coiffeur lag der amerikanische «Playboy» neben dem Wartestuhl.

Die Herren transpirierten nachhaltig in die neuartigen Nylon-Hemden, und die bürgerliche Frau trug sogenannte Sackkleider mit grossformatigen Blumenmotiven; der Minirock war in der Schweiz noch nicht an-gekommen. Die Geburtenrate lag bei 2,6 Kindern, die «Pille» war da und dort schon ­willkommen. Von der Titelseite der deutschen Zeitschrift «Bravo» blickte Winnetou alias Pierre Brice, der im Kino für die Jugend von Sieg zu Sieg ritt, während draussen auf der Strasse die «Halbstarken» gekonnt unanständig herumhockten mit Bier und Zigaretten. Vorboten jener Jugend, die dann 1968 nicht mehr in den Verkrustungen der Kriegsgeneration verharren mochte.

Noch tiefer in Erde und Fels

Im Hintergrund aber dräute als stete Beschwernis: der Atomkrieg. Die sowjetischen Erfolge im All mit Sputnik und Juri Gagarin machten allen klar, dass auch der angeblich technisch so rückständige Ostblock fähig war, den atomaren Blitz rund um den Globus zu senden, «heller als tausend Sonnen». Die DDR baute die Mauer, und in der Kubakrise von 1962 hatten sich die Sowjetunion und die USA an den Rand des Abgrunds manövriert, die Zeichen standen immer wieder auf Sturm. Auch die stimmberechtigten Schweizer Männer hatten sich 1962 und 1963 zweimal gegen das Verbot ­einer atomaren Bewaffnung der Schweiz ausgesprochen. Der Bundesrat hielt dann diese Option noch jahrzehntelang aufrecht. Eifrigster Verfechter der «Bombe» war ein strategischer Vordenker des EMD, Berufsoffizier Gustav Däniker (1928–2000).

Die Schweiz stand scheinbar allein zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato.

Die Schweiz begann sich nun noch tiefer einzugraben in Erde und Fels, als sie es nach dem Zweiten Weltkrieg ohnehin schon war: Sie baute im Geheimen zwischen 1961 und 1966 mit sehr grossem Aufwand an der zweiten Festungsgeneration – eine dritte sollte in den 1980er-Jahren folgen. Das klandestine Graben hat auch heute noch kein Ende und scheint zu einem Volksmerkmal geworden zu sein. Das männliche Stimmvolk hatte zudem 1959 die Schutzraumpflicht eingeführt. Jedem Einwohner sollte ein bombensicherer Schutzplatz zustehen. «Macht es wie die Murmeltiere», hiess das Motto im aufmunternden Propagandafilm. Monströse Anlagen wie die Bunkerstadt Sonnenberg in Luzern für 20 000 Menschen entstanden. Heute ist die Schutzraumpflicht mit 115 Prozent übererfüllt.

Die Schweiz stand scheinbar allein zwischen dem Warschauer Pakt und der Nato. Der bewaffneten Neutralität verpflichtet, verhielt sie sich ideologisch, aber klar pro Amerika, pro westlich pro kapitalistisch. Militärstrategisch hingegen wähnte sie sich fast bündig zum Eisernen Vorhang, denn das militärische Prestige des ­österreichischen Nachbarn war in der Schweiz sehr gering.

Politisch versuchte sich die Schweiz jetzt zögernd nach aussen zu tasten. Sie war im Mai 1963 dem Europarat beigetreten und in Strassburg unter Vorbehalt akzeptiert worden, der mangelhaften Rechte der Frauen wegen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit trafen sich im selben Jahr aber auch zwei Dutzend Herren zum Thema «Die Schweiz und die Probleme der westlichen Welt». Den Vorsitz inne hatte der angesehene Staatssekretär Albert Weitnauer, helle Köpfe wie der Diplomat Paul Jolles, brillante Historiker wie Herbert Lüthy oder Jean ­Rodolphe von Salis gehörten dazu.

Wirkung durch Wucht

In seinem Résumé bemerkte Weitnauer vorsichtig: Da die schweizerische Aus­senpolitik der Macht der Umstände folgend in eine aktive Phase getreten sei, «stellt sich die Frage, ob wir nicht auch zur Entwicklung der westlichen Zusammenarbeit unsere eigenen Auffassungen beisteuern und sie aktiv vertreten wollen und sollen.» Da wird spürbar, wie schwierig es war, über eine Öffnung zu reden, oder eben wie populär der Alleingang in der Schweiz auch 18 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs blieb. Entschuldigt hatte sich übrigens an jener vertraulichen Sitzung Oberstkorpskommandant Ernst Uhlmann, genannt «Straff». Er war der Chef ­jenes Armeekorps, das am 17. Oktober 1963 in Dübendorf über die Landepiste marschierte.

Das Defilee in Dübendorf solle «durch seine Wucht wirken», hatte ein Generalstabsoffizier verlangt. Die Schweiz: ein Massenheer, eine Volksarmee gleichsam – leider war der Begriff schon besetzt durch die Verteidigungskräfte der DDR. Beschworen wurde, dass «wir im guten Sinne und für eine gerechte Sache ein zuinnerst leidenschaftliches Soldatenvolk sind». An diesem Mythos durfte nicht gerüttelt werden. Aber diese gewollte Einmütigkeit, die keiner ungestraft störte, schien nicht allen verlässlich genug. Es bestand insgeheim ein Misstrauen gegenüber dem, was sich als «Schweizer Volk» oder eben als das Gros der ganz normalen Leute bezeichnen lässt.

Die Angst vor «schlafenden Hunden»

Ablesbar ist das an einem Vorgang, der die Ängstlichkeit der Elite verrät: 1963 liefen die Vorbereitungen für die Landesausstellung in Lausanne, der Expo von 1964. Dazu hatten sich die Organisatoren das Projekt «Gulliver» ausgedacht. Es sollte einen ethnografischen Blick auf die Meinung und das Befinden der Schweizerinnen und Schweizer eröffnen. Die Antworten auf 310 Fragen ans Expo-Publikum hätten ein präzises Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeben sollen. In einem Testlauf wurden 1240 Erwachsene in 344 Gemeinden befragt. Das Resultat war dann derart, dass der Expo-Delegierte des Bundesrates, Hans Georg Giger, die Landesregierung alarmierte und darauf hinwies, es bestehe die Gefahr, «schlafende Hunde zu wecken».

Nach dieser Intervention wurde die Expo-Leitung im September 1963 per Expressbrief nach Bern zitiert, wo sie sich den Bundesräten Schaffner, Wahlen und Bonvin gegenübersah. Diese übten Druck aus: Die Zahl der Fragen musste von 310 auf 80 reduziert werden. Fragen über Bodenspekulation, Militärdienst­verweigerung, 40-Stunden-Woche, nukleare Bewaffnung, europäische Integration der Schweiz, Schwangerschaftsabbruch, Kommunismus und Niederlassungsrecht durften keine mehr gestellt werden. Auch wurde angeordnet, dass Antworten auf die verbliebenen 80 Fragen nicht publiziert werden durften. Es verwundert nicht, dass die 560 000 IBM-Lochkarten, auf ­denen die Antworten gespeichert worden waren, auf unbekanntem Weg verschwunden waren. Das einzigartige Zeitdokument ist auf einen Wink aus dem Gouvernement hin zerstört worden.

Schon einen Monat später sprach niemand mehr von Dübendorf.

Am Tag nach dem Defilee wandte sich Bundesrat Paul Chaudet an das zweite Armeekorps: «Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten, Ihr habt durch Eure Haltung dieser militärischen Schau ihren tieferen Sinn gegeben. An Eurem Einsatz, Eurer Disziplin entzündete sich der Stolz der Zuschauer. Das Defilee von Dübendorf wurde so zum kraftvollen Ausdruck der althergebrachten Verbundenheit von Volk und Armee und jener Wehrbereitschaft, der unser Land Entstehung und Unabhängigkeit verdankt.»

In diesem Geist fuhr auch meine Familie nach Hause, gewissermassen ergriffen vom Gesehenen und ganz im Bewusstsein, einem unvergesslichen Ereignis beigewohnt zu haben. In welchem gesellschaftlichen Kontext ein Defilee wie dieses bald stehen würde angesichts der sich mit «1968» verändernden Sichtweise, blieb noch verborgen. Aber schon einen Monat später sprach niemand mehr von diesem Defilee, denn die Menschen sassen vor den Radioapparaten und hörten mit Schrecken dem Korrespondenten Heiner Gautschi zu: US-Präsident Kennedy war erschossen worden.


Manöver-Reportage – Bericht von SRF «Synerzyt»:

Laute Maschinen, bellende Hunde, einstürzende Dächer: eine Reportage vom Manöver mit Funker Felix. Während seiner militärischen Ausbildung, durfte Kurt Felix über den Militär-Betrieb der Rekrutenschule Thun berichten.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 27.09.13

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