Das kommt heraus, wenn Jugendliche und Grossräte anonyme Brieffreundschaften pflegen

Ein Jahr lang haben sich vier Jugendliche mit Basler Politikern im Rahmen eines Kulturprojekts mit dem Titel «Mein Brieffreund» ausgetauscht. Auszüge aus dieser Korrespondenz sind nun im «Unternehmen Mitte» zu hören.

Diese «vier Tiere» erhielten während eines Jahres einen Einblick in die Lebenswelt von Grossratspolitikerinnen und -politikern. (Bild: zVg)

Während eines Jahres haben sich vier Jugendliche mit Basler Politikern im Rahmen eines Kulturprojekts mit dem Titel «Mein Brieffreund» ausgetauscht – über Politik, Persönliches, und den Zustand der Stadt Basel. Auszüge aus dieser Korrespondenz sind nun im «Unternehmen Mitte» zu hören.

Vier Jugendliche mit Tiermasken tauchen auf – hinter dem Tresen, durch die Eingangs- oder die Balkontüre – bis sie schliesslich alle versammelt in einer Gesprächsrunde auf dem Sofa sitzen, ein Schaf, eine Katze, eine Giraffe, ein Fuchs. «Post!». Ein Stapel Briefe wird auf dem Sofatischchen deponiert, die Jugendlichen stürzen sich darauf. Und beginnen zu lesen: «Du kannst mich gerne duzen, ich duze dich auch gerne. Danke.» «Was wollen Sie mit Ihrem Tun bewirken?» «Was für Musik hören Sie?»

Wir befinden uns im ersten Stock vom «Unternehmen Mitte». Was tagsüber als Restaurant «Cantina» fungiert, verwandelt sich an diesem Abend in eine kleine Bühne, mit rund 30 Zuschauerstühlen. Die vier Jugendlichen haben ein Jahr lang handschriftliche Brieffreundschaften mit Politikern aus dem Grossen Rat gepflegt. Die Namen der Jugendlichen sowie jene der Politiker blieben das ganze Jahr über anonym – als Pseudonyme wurden Tiernamen verwendet.

Persönliche und politische Fragen

An diesem Abend werden Auszüge aus dieser Korrespondenz im Rahmen einer szenischen Lesung vorgeführt. Bis Ende Januar bleiben weitere Auszüge in der grossen Halle im «Unternehmen Mitte» ausgestellt. Der gesamte Briefwechsel lässt sich in einem Sammelband erkunden.

Die Briefe sind eine Mischung aus persönlichem und politischem Austausch. Das hört sich vonseiten der Jugendlichen zum Beispiel so an:

«Wollten Sie schon immer in die Politik gehen oder war Ihre Kandidatur eine eher spontane Idee? Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit als Parlamentarierin erreichen? Spannend finde ich auch die Diskussion um die Zwischennutzungen, besonders der Wagenplatz ist momentan ja ein grosses Thema in den Medien. Wie stehen Sie dazu?»

Oder so:

«Wir müssen jährlich so viel für Schulmaterial ausgeben, dies finde ich nicht richtig. Ich glaube, die Schulen haben eigentlich genug Geld um für diese Kosten aufzukommen.»

Und folgende Auszüge stammen aus den Antworten der Politikerinnen und Politiker:

«Vielen Dank für deinen Brief. Ja, er ist leicht pessimistisch, aber das bin ich auch. Die Schere zwischen arm und reich hört nicht auf weiter aufzugehen.»

«Es ist ein Zwiespalt, in dem ich mich befinde. Einerseits versuche ich in einem Parlament mehr Gerechtigkeit und Menschlichkeit durchzusetzen. Andererseits sind dazu Kompromisse notwendig. Eine Gratwanderung. Wieviel Kompromisse darf man eingehen? Wann ist die rote Linie überschritten? Eine Frage, die ich mir oft stelle.»

«Im Moment lese ich ein Buch auf Englisch um in Übung zu bleiben. Nichts schwieriges aber ideal zum auf dem Liegestuhl lesen.»

Politik heisst auch Zeitgeist

Für Konzept und Regie des Projekts «Mein Brieffreund» ist der Basler Theaterschaffende Patrick Gusset verantwortlich. Für sein künstlerisches Schaffen sind diese beiden Themen essentiell: Jugendliche und Politik. «Ich habe schon oft mit Jugendlichen zusammengearbeitet, so etwa im Rahmen des Projekts ‹Fremd›. Zudem ist der sogenannte ‹Zeitgeist› für jeden Theatermacher eine wichtige Inspirationsquelle – dieser wird von der Politik massgeblich mitgeprägt.»

An einem Briefwechsel habe ihn in erster Linie das Potential eines direkten Austauschs zwischen Jugendlichen und Erwachsenen interessiert – Welten, die sich in der Öffentlichkeit sonst eher selten berühren würden. Erwachsene nähmen Jugendliche oft als desinteressiert und oberflächlich wahr, Jugendliche dagegen stempelten Politik als trocken und langweilig ab.

Jugendliche finden einen Zugang zur Politik

Gusset wünscht sich, dass die Erwachsenen Jugendliche als mündige Bürger anerkennen: «Gerade in der Politik würde eine kleine Portion jugendlicher Schwung manchmal gut tun», sagt er. Gleichzeitig sollten aber auch die Jugendlichen die Politik als aktive Möglichkeit betrachten, eine Stadt zu formen und zu entwickeln. Er bemerkt: «Viele Jugendliche wären eigentlich sehr wohl politisch interessiert – oft sind sie sich einfach nicht bewusst, dass die Themen, die sie tagtäglich beschäftigen, politisch relevant sind.» Über Fragen wie: «Warum ist es so, wie es ist? Wie wünsche ich mir mein Basel?» würden hingegen fast alle jungen Menschen einen Zugang zur Politik finden, ist Gusset überzeugt.

Während des Projekts konnte er beobachten, wie sich die kleine Gruppe gegenüber politischen Themen zunehmend öffnete. Die Beweggründe zur Teilnahme waren bei den jungen Mitwirkenden sehr unterschiedlich. Während Till Gisler selbst politisch aktiv ist, stand für Amina Amran die Freude am Schreiben und die Neugierde, die Person hinter einem Politiker kennenzulernen, im Vordergrund. Mittlerweile diskutiere aber auch sie leidenschaftlich mit, wenn es um politische Themen gehe. Gusset sagt: «Bei unseren Treffen war spürbar, wie die politischen Diskussionen von Mal zu Mal engagierter und vertiefter wurden!»

«Viele Jugendliche sind sich nicht bewusst, dass die Themen, die sie tagtäglich beschäftigen, politisch relevant sind.»
Patrick Gusset, Regisseur.

Die Jugendlichen bezeichnen das Projekt als vollen Erfolg: «Es hat richtig Spass gemacht, die Briefe zu erhalten und vor allem in unserer kleinen Gruppe darüber zu diskutieren», sagt etwa der 17-jährige Marius Bueb aus Dornach.

Auch der Regisseur Patrick Gusset ist im Grunde sehr zufrieden mit dem Projekt: «Durch das Handgeschriebene entstand eine andere Zeitlichkeit, als man es sich heute im Smartphone-Zeitalter gewöhnt ist. Das war sehr wohltuend für alle Beteiligten. Inhaltlich hätte ich mir manchmal etwas mehr Reibungen gewünscht.»

Kontrast der Lebenswelten

Tatsächlich geht es in der Vorstellung inhaltlich eher höflich und respektvoll zu. Doch ist den Briefauszügen ein starker Kontrast der Lebenswelten anzumerken: Die Jugendlichen zeigen sich utopisch, frisch und schwungvoll. Und sie haben grosse Pläne: In ihren Briefen schreibt eine der Jugendlichen davon, selbst einmal durch Politik die «Welt zu verändern», damit sie, wenn sie einmal sterbe, das Gefühl haben könne, sie habe alles gegeben.

Politiker hingegen müssen Kompromisse eingehen, um sich mit einer Partei zu identifizieren. Das merkt man auch manchen Briefauszügen an. Gusset bezeichnet sie als «gefangen in Strukturen»: «Meiner Meinung nach könnten sich die Politiker eine Scheibe von Jugendlichen abschneiden – die politischen Forderungen dürften manchmal durchaus etwas mutiger sein.»

«Politische Forderungen dürften ruhig etwas mutiger sein.»

So hätten die Jugendlichen etwa wenig Verständnis für medial aufgebauschte politische Detailfragen, wie etwa die Polemik um die unterirdische Abfallentsorgung. «Jugendliche wollen lieber gleich direkt die grossen, wichtigen Fragen angehen», sagt Gusset. Diese Frage der Relevanz wird auch bei der szenischen Lesung deutlich, als ein Jugendlicher die Frage stellt: «Warum werden so viele Polizisten eingesetzt, um Velofahrer und Kiffer im Park zu kontrollieren, während es so viele Einbrüche gibt?»

Spannender Austausch

Das Projekt «Mein Brieffreund» lässt erahnen, was für ein Potential in solch einem direkten Austausch zwischen Politikern und Jugendlichen besteht – dieser müsste aber wohl noch einiges stärker gepflegt werden. Tatsächlich entstand bei dem Austausch wenig Reibung. Dies obwohl Gusset, wie er selbst sagt, beim Verbinden der Briefpartner darauf geachtet habe, möglichst gegensätzliche Positionen miteinander zu vereinen.

Das mag an der Nachsicht der Politiker oder einem gewissen Respekt der Jugendlichen ihnen gegenüber gelegen haben. Vielleicht aber auch daran, dass beide Seiten nicht wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Dieses Geheimnis wird am Sonntagabend bei der zweiten und letzten szenischen Lesung gelüftet. Da werden auch die Politiker teilnehmen und ihre Anonymität verlieren.

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«Mein Brieffreund», szenische Lesung am 18. Januar 2015, 19.00 Uhr, 1. Stock «Unternehmen Mitte».
Ausstellung von Briefauszügen in der grossen Halle im «Unternehmen Mitte» noch bis« 30.01.2015.

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