Das Kreuz mit dem lieben Nachbarn

Die Schweiz und Baden-Württemberg pflegen enge Beziehungen – derzeit aber ist Sand im Getriebe.

Zwischen Baden-Württemberg und der Schweiz herrscht nicht immer so traute Zweisamkeit: Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Bundesrätin Doris Leuthard. (Bild: Urs Flüeler / Keystone)

Die Schweiz und Baden-Württemberg pflegen enge Beziehungen – derzeit aber ist Sand im Getriebe.

Wenn Politiker der Schweiz mit ihren Kollegen aus dem Nachbarland Baden-Württemberg zusammentreffen, und das tun sie oft, dann herrscht in der Regel eitel Sonnenschein – jedenfalls nach aussen hin. Alle betonen die gute Zusammenarbeit, das Verständnis füreinander und die Kompromissbereitschaft dort, wo sie nötig ist.

Exemplarisch dafür Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann bei seinem jüngsten Besuch in der Schweiz Anfang September. «Diese Reise ist eine gute Gelegenheit, um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiter voranzutreiben und unsere guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu vertiefen», sagte er da.

Kretschmann ist der erste grüne Ministerpräsident eines Bundeslandes in Deutschland, seit dem Frühjahr 2011 im Amt. Doch nachbarschaftliche Verhältnisse sind häufig kompliziert, auch zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg herrscht längst nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen. Strittige Themen sind vor allem der Fluglärm aus Zürich, der nicht rechtzeitige Ausbau der Rheintalbahn als Zulieferer zur Neat sowie das Steuerabkommen.

Abkommen ist in der Schwebe

Für all diese Themen trägt zwar auf deutscher Seite die Bundesregierung in Berlin die Verantwortung. Aber die grün-rote Landesregierung hat ein Wort mitzureden, nicht zuletzt über den Bundesrat: Die Länderkammer, in der SPD und Grüne derzeit mehr zu sagen haben als Union und FDP, muss alle Staatsverträge absegnen.

Der 4. September 2012 sollte in den Beziehungen der Schweiz zum Nachbarn Baden-Württemberg ein Festtag werden: An diesem Tag besiegelten Bundesrätin Doris Leuthard und Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer mit einem Staatsvertrag das Ende des Fluglärmstreits. Nach jahrelangem Hickhack, gescheiterten Gesprächen und einseitigen Verordnungen war endlich ein Kompromiss gefunden worden, mit dem beide Seiten leben können sollten: Die Zeiten der Flüge über deutsches Staatsgebiet am Hochrhein wurden geregelt, die Anflug­höhen festgeschrieben und Warteräume bei grossem Flugaufkommen eingerichtet.

Der Bundesrat in Bern lobte das Verhandlungsergebnis ebenso wie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann und sein Verkehrsminister Winfried Hermann. Sie sassen nur beratend am Tisch, waren aber offensichtlich froh, ein unangenehmes Thema vom Tisch zu haben.

Keine drei Wochen später hat sich das Bild geändert. In den Gemeinden nördlich von Zürich mehren sich die Proteste – vor allem aber die Baden-Württemberger am Hochrhein und die Landesregierung in Stuttgart sind empört: Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) hatte in einer Erläuterung zum Vernehmlassungsverfahren unter anderem hervorgehoben, «Hauptvorteil des Vertrages ist, dass er keine Plafonie­rung der Anzahl Nordanflüge enthält».

Das habe den Vorteil, dass der Flugbetrieb weiter zunehmen könne. «Die Anzahl der Anflüge von Norden kann bis zu etwa 110 000 Anflügen wachsen», schreibt das Bazl. In früheren Verhandlungen war von baden-würt­tem­bergischer Seite gefordert wor­den, die Zahl der Nordanflüge auf maximal 80 000 pro Jahr zu begrenzen.

Misstrauische Deutsche

«Derartige Äusserungen sind geeignet, das in den Verhandlungen mühsam aufgebaute Vertrauen zur ­Schweiz wieder infrage zu stellen», kom­mentierte Gisela Splett, Lärmschutz­beauftragte der baden-württem­bergischen Landesregierung und Staatssekretärin im Verkehrsministerium.

Die Stellungnahme des Bazl vertiefe in Süd­baden die Sorge, die Schweiz werde im Staatsvertrag noch offene oder nicht bis ins letzte Detail geregelte Punkte zu ihren Gunsten auslegen und so die Interessen der lärmgeplagten Hotzenwälder unterlaufen. «Wir wollen die Türe zum Staatsvertrag nicht zuschlagen. Aber der Türspalt ist mit diesem Papier erheblich kleiner geworden. Die Vertragsparteien müssen hier dringend für Klarheit sorgen und die Irrita­tionen aus der Welt schaffen», betonte Splett.

Ministerpräsident Kretschmann hatte offenbar schon früher etwas Läuten hören. Eine Woche zuvor hatte er erklärt, es dürfe nicht sein, «dass po­sitive Effekte des Staatsvertrages für die Bürgerinnen und Bürger in Süd­baden durch eine betriebliche Umsetzung entgegen dem Geist der Verhandlungen unterlaufen würden», heisst es in einem Papier des baden-württembergischen Verkehrsministeriums.

Sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland ist der Staatsvertrag zum Fluglärm nicht ratifiziert. Das soll in beiden Ländern in der zweiten Jahreshälfte 2013 geschehen.

In Deutschland wird er womöglich den Bundesrat nicht passieren. Aber auch in der Schweiz gibt es Widerstand. 2001 hatte man schon einmal einen Staatsvertrag ausgehandelt. Er scheiterte im Nationalrat. Deutschland hatte daraufhin mit einer ein­seitigen Verordnung die Zahl der Anflüge über sein Staatsgebiet deutlich eingeschränkt. Sollte der Vertrag an der Schweiz scheitern, droht vermutlich ein ähnliches Vorgehen.

Auch in Bahnfragen herrscht alles andere als Konsens. Rund 16 Jahre ist es her, da schlossen die Schweiz und Deutschland ein Ab­kommen, das die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene voran­bringen sollte. Im Jahr 2020, so das damals noch in weiter Ferne liegende Ziel, sollte Deutschland den vierspurigen Ausbau der Rheintalbahn von Karlsruhe nach Basel fertiggestellt haben. Spätestens von diesem Zeitpunkt an kalkulieren die Schweizer mit der ­vollen Auslastung der Neat, der Eisenbahntunnel durch den Gotthard und den Lötschberg. Doch Deutschland ist weit davon entfernt, die Zusage einzuhalten.

Selbstherrliche Bahnplaner

Selbstherrlich hatte die Deutsche Bahn lange Jahre an den Interessen der betroffenen Bürger vorbei geplant, mit Rückendeckung der Bundesregierung. Gegen die Planungen formierte sich Widerstand: 172 000 Bürger unterschrieben Forderungen nach Lärmschutzwänden, Tunneln und tiefer gelegten Trassen. Der Protest zeigte lange Zeit keine Wirkung. Mitunter schien es sogar, als käme er den Politikern entgegen. Denn in Berlin fehlte das Geld, um das Projekt energisch ­voranzutreiben.

Bewegung gab es erst mit der grün-roten Landesregierung in Stuttgart, die im Frühjahr 2011 überraschend ins Amt kam. Obwohl finanziell ebenfalls nicht auf Rosen gebettet, versprach sie Zuschüsse für Schallschutzmassnahmen, die eigentlich der Bund in Berlin hätte finanzieren müssen. Der konnte sich nun auch nicht länger zieren – und plötzlich kommen die Planungen in Teilabschnitten voran, die vorher auf lange Jahre blockiert zu sein schienen.

Dass sich über die baden-württembergische Hilfe vermutlich auch in der Schweiz mancher Politiker freut, ist für die Stuttgarter Regierung aber nur ein schöner Nebeneffekt: Ihr geht es hauptsächlich darum, die massiven Proteste am Oberrhein zu besänftigen – denn viele Leute, die dort lautstark ihren Unmut äussern, gehören zur ureigenen Klientel von Rot-Grün.

Noch schwieriger gestalten sich die Verhandlungen über das Steuer­ab­kom­men zwischen der Schweiz und Deutschland. Es dürfte scheitern, denn die SPD wird dem mühsam ausgehandelten Kompromiss im Bundesrat die Zustimmung verweigern.
Lange hatte die Schweiz gehofft, ausgerechnet Baden-Württemberg könnte aus der rot-grünen Phalanx ausscheren und Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble doch zu einem Erfolg verhelfen. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte lange genug laviert: Er habe sich noch nicht fest­gelegt, sagte er bei seinem jüngsten Besuch in der Schweiz Anfang September. Allerdings machte er auch deutlich, dass er an dem von der Schweiz als «kriminell» verurteilten Kauf von CDs mit Daten von Steuersündern festhalten werde, solange das Abkommen nicht rechtsgültig sei.

Kretschmanns Finanzminister Nils Schmid, SPD, hatte bereits einige Tage vorher sein Nein zum Steuerabkommen bekräftigt. Daran wird sich mit dem in Deutschland beginnenden Bundestagswahlkampf auch nichts ­ändern. Kanzlerkandidat der SPD ist Peer Steinbrück – und der ist mit seiner «Kavallerie-Attacke» gegen die Schweiz hier hinlänglich bekannt.

Bei den Wählern in Deutschland ist sein verbaler Angriff gegen die aus seiner Sicht in Steuersachen widerspenstigen Eidgenossen offenbar angekommen. In seinen Reden nach der Kan­didatenkür spielte er immer wieder darauf an. Einen solchen Trumpf im Wahlkampf wird sich Steinbrück nicht nehmen lassen, auch nicht von einem um gute Beziehungen bemühten grünen Ministerpräsidenten.

Wirtschaftlich enge Bande

Könnten die guten Beziehungen zwischen der Schweiz und Baden-Wür­t-temberg durch die ungelösten Pro­ble­me beeinträchtigt werden? Wohl kaum, denn die wirtschaftlichen Verflechtungen sind eng: In der Liste der wichtigsten Handelspartner der Schweiz läge Baden-Württemberg – würde das Bundesland allein gewertet – auf Platz drei, bei den Einfuhren hinter Deutschland und Italien, bei den Ausfuhren hinter Deutschland und den USA. Zehn Prozent der Einfuhren in die Schweiz stammten 2010 von jenseits des Rheins, gut acht Prozent der Ausfuhren gingen nach Baden-Württemberg.

Die Schweiz ist in Baden-Württemberg sogar noch besser gelistet: Bei den Einfuhren liegt sie mit 11,76 Milliarden Euro auf Platz eins, bei den Ausfuhren mit 12,62 Milliarden Euro auf Platz zwei, hinter den USA. Damit das so bleibt, appellieren die Wirtschaftsverbände sowohl der Schweiz als auch Baden-Württembergs, sollten beide Seiten an einer Lösung der Probleme besonders interessiert sein.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.10.12

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