Der chinesische Online-Konzern Alibaba macht sich für den Gang an die US-Börse bereit. Investoren frohlocken: Es könnte der grösste Börsengang der Geschichte werden.
Während in den USA Schriftsteller gegen den Versandriesen Amazon protestieren, bringt sich ein weiterer Online-Händler auf dem US-Markt in Stellung: Alibaba. Der chinesische Online-Riese, der im Westen bis vor Kurzem nur ein paar Analysten bekannt war und eher mit den Märchen aus Tausendundeiner Nacht assoziiert wurde, plant seinen Börsengang in New York.
Die Geschichte von Alibaba beginnt in Seattle, dort, wo Amazon seinen Hauptsitz hat. Als Jack Ma das erste Mal das Internet nutzte, suchte er die Begriffe «Bier» und «China» und fand – nichts. Fasziniert von der neuen Technologie lancierte er mit einem Freund eine Website für einen chinesischen Übersetzungsdienst. Binnen Stunden erhielt er Mails aus aller Welt.
1995 gründete Ma Chinas erste Internetfirma. Das World Wide Web war für die chinesischen Zensoren damals noch böhmische Dörfer, und auch in den USA war Dotcom ein Fremdwort. Zusammen mit dem taiwanesischen Anwalt Joseph C. Tsai gründete Ma 1999 in seiner bescheidenen Wohnung in Hangzhou das Unternehmen Alibaba – ein ausrangierter Desktop-PC musste als Ausstattung genügen.
Zehn Mal durch die Harvard-Prüfung gerasselt
Das Geschäftsmodell bestand zunächst darin, kleine Unternehmer mit Kunden in Übersee zu vernetzen. Das Geschäft entwickelte sich exponentiell. 2005 hatte Alibaba einen Marktanteil am chinesischen Online-Shopping von 70 Prozent. Inzwischen ist Alibaba zum weltweit grössten Online-Händler avanciert.
Mas Aufstieg zum Dotcom-Milliardär ist bemerkenswert. Denn im Gegensatz zu Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg oder Microsoft-Gründer Bill Gates hat Ma keinen IT-Hintergrund. Er wuchs zu Zeiten der Kulturrevolution auf und begann seine Karriere als Englischlehrer. Die Sprache brachte er sich als Autodidakt bei. Zehn Mal rasselte er durch die Aufnahmeprüfung der renommierten Harvard University. Heute lehrt er den Technologie-Konzernen das Fürchten. «eBay ist der Hai im Ozean. Wir sind das Krokodil im Jangtse», sagte Ma. «Wenn wir im Ozean kämpfen, verlieren wir. Aber wenn wir im Fluss kämpfen, gewinnen wir.» Der Film «Crocodile in the Yangtze» erzählt den Aufstieg zum grössten Online-Händler.
Alibaba hat mehr Mitarbeiter als Facebook und Yahoo zusammen und macht mehr Umsatz als eBay und Amazon.
Im Hauptquartier von Alibaba, einem futuristisch anmutenden Gebäudekomplex, verfolgen die Strategen die globalen Warenströme in Echtzeit. Im Showroom blinken Städte in schneller Abfolge, eine animierte Karte zeigt die Auslastung der Regionen. Man kann sich vorstellen, wie Firmengründer Ma in diesem Raum steht und sein Handelsimperium begutachtet.
Die wirtschaftlichen Kennzahlen sind atemberaubend. 24’000 Mitarbeiter beschäftigt der Online-Händler, das sind mehr als Facebook und Yahoo zusammen. 2012 wickelte Alibaba Aufträge mit einem Volumen von 170 Milliarden Dollar ab. Das ist mehr als eBay und Amazon zusammengenommen.
Nur der Vermittler
Anders als herkömmliche Online-Shops tritt Alibaba aber lediglich als Vermittler zwischen Händlern und Kunden auf, das heisst, es muss keine Warenlager betreiben und sich nicht um den Versand kümmern. Trotz hohem Personalaufwand kann das Unternehmen daher einen erstaunlich hohen Anteil seines Umsatzes als Gewinn verbuchen. Bei vier Milliarden Dollar Umsatz erzielte Alibaba 2012 einen Gewinn von einer halben Milliarde Dollar. Über die zwei Hauptseiten, das Online-Auktionshaus Taobao und die Schwesterplattform Tmall.com, werden 60 Prozent aller Pakete im Reich der Mitte verschickt.
Vom Kinderwagen bis zur Mikrowelle kann auf Alibaba alles erstanden werden. «Der grösste Bazar der Welt», schrieb der britische «Economist». Alibaba ist eBay, Amazon und Bank in einem – ein gigantisches Konglomerat. Mehrere Online-Marktplätze und ein eigener Bezahldienst bilden das Kerngeschäft, Tochterfirmen und Beteiligungen sichern das Geschäft auf allen wichtigen digitalen Märkten ab: Cloud-Computing, Streaming, Videotelefonie, Lernplattformen, Apps – um nur einen Auszug aus dem breiten Portfolio zu nennen.
Der Unternehmenswert von Alibaba wird nach Bloomberg-Schätzungen zwischen 153 und 200 Milliarden Dollar taxiert. Für Yahoo, das 24 Prozent an dem Konzern hält, ist die Beteiligung ein Geldregen. Die Suchmaschine, die unter der Werbeflaute am US-Markt leidet, macht fast ausschliesslich Gewinn über den chinesischen Online-Händler.
Bejubelt wie ein Guru
Jack Ma, der hagere Mann mit den eingefallenen Wangen und ins Gesicht gekämmten Haaren, besitzt ein geschätztes Privatvermögen von acht Milliarden Dollar. Beim zehnjährigen Firmenjubiläum präsentierte er sich in einem schrillen Outfit, mit Metall-Accessoires, Irokesenschnitt und Lippenstift. Die 16’000 Angestellten jubelten ihm zu wie einem Guru. Und in der Tat hat er etwas von dem Erlöserhabitus der Tech-Konzerne. An der Stanford Graduate School of Business hielt der Englischlehrer einen Vortrag – im Longsleeve und auf Chinesisch. Titel: «Ideen und Technologien können die Welt verändern.»
Ma gilt als Motivator, aber auch als schroffer Chef, der laut wird, wenn ihm etwas nicht passt. Dabei ist der Entrepreneur stets bescheiden geblieben. Ma sagt von sich selbst, seine IT-Kenntnisse beschränken sich darauf, E-Mails zu versenden und zu empfangen. Programmieren kann er nicht. Ma hat seinen Chefposten inzwischen abgegeben, doch er besitzt weiter Anteile (circa 8,9 Prozent) an dem Unternehmen und tritt bei Start-up-Gründungen gerne als Pate auf.
Das Reich der Mitte ist ein ernsthafter Konkurrent für das Silicon Valley.
Der Aufstieg von Alibaba zum weltweit grössten Internethändler zeigt auch, dass China längst kein rückständiges Entwicklungsland mehr ist, wo Festplatten zusammengeschraubt oder minderwertige Produkte gefertigt werden. Das Reich der Mitte ist ein ernsthafter Konkurrent für das Silicon Valley. Davon zeugt auch der Erfolg der Suchmaschine Baidu, die Google herausfordert. Alibaba ist in diesem Jahr bei der US-Fahrdienst-App Lyft eingestiegen.
China ist ein riesiger Wachstumsmarkt. Nur jeder zweite Chinese besitzt derzeit einen Internetanschluss. Analysten schätzen, dass Chinas E-Commerce-Markt bis 2020 einen Umfang von 665 Milliarden Dollar erreichen wird – grösser als die Märkte in den USA, Grossbritannien, Deutschland und Frankreich.
Just auf dem Heimatmarkt erwächst Alibaba Konkurrenz: Der Rivale Tencent, der die beliebte Messenger-Plattform Wechat betreibt, will Alibaba Marktanteile abringen. Deshalb buhlt der Online-Händler um die Fotonachrichten-App Snapchat. Zehn Milliarden Euro soll Alibaba aufgerufen haben. «Unsere Wettbewerber sind im Silicon Valley, nicht in China», sagte Ma. «Unsere Hirne sind genauso gut wie ihre.»
Aktionäre haben wenig zu melden
Unterdessen bereitet der Konzern seinen Börsengang an der Wall Street vor. Der Börsengang könnte über 26 Milliarden Dollar einspielen – deutlich mehr als seinerzeit Facebook. Alibaba will die Konkurrenten eBay und Amazon auf deren Heimatmarkt frontal angreifen.
Unklar ist allerdings, wer nach dem Börsengang das Sagen bei dem chinesischen Online-Händler hat. Rein formal wäre der japanische Konzern Softbank mit 34,4 Prozent der grösste Aktionär. Doch auch nach dem Börsengang wird das Stimmgewicht der Japaner womöglich begrenzt sein. Ma und sein Führungsteam wollen die absolute Kontrolle über den Konzern behalten – was bedeutet, dass die neuen Aktionäre so gut wie keine Mitspracherechte haben werden.
Schon einmal verärgerte Ma die Anleger, als er die Kontrolle seines Bezahldienstes AliPay kurzerhand einer anderen Holding übertrug – ohne die Aktionäre zu informieren. Erst nach heftigen Protesten erhielten Yahoo und Softbank eine Entschädigung. Der konfuzianisch geprägte Ma kündigte an, er werde zwei Prozent der Aktien (geschätzte sieben Milliarden Dollar) für einen guten Zweck spenden – solch generöse Versprechen sind in China eher selten.
Alibaba ist ein Profiteur der Marktwirtschaft. «Die Welt», sagte Ma, «hat uns die Bühne gegeben, eine Website aufzubauen, die einer Milliarde Menschen zur Verfügung steht.»