Das Land der Millionäre kriminalisiert die Armut

Einst durften Arme in der Schweiz weder ein Wirtshaus betreten noch heiraten. Sie landeten in Anstalten und verloren ihre Bürgerrechte. Geschichte? Nein, heute werden sie wieder vermehrt drangsaliert.

Wie lange noch? Die wenigen Sitzgelegenheiten am Claraplatz im Kleinbasel sind ein Treffpunkt für Randständige.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Einst durften Arme in der Schweiz weder ein Wirtshaus betreten noch heiraten. Sie landeten in Anstalten und verloren ihre Bürgerrechte. Geschichte? Nein, heute werden sie wieder vermehrt drangsaliert.

Mittlerweile ist in der öffentlichen Diskussion angekommen, dass eine Annahme der Durchsetzungsinitiative vor allem die Menschen in der Sozialhilfe treffen wird. Bei Missbräuchen sollen selbst Secondos ohne Vorstrafen das Land verlassen müssen – auch wenn es nur um 300 Franken geht.

Es sind aber nicht nur die «kriminellen Sozialschmarotzer», die man loswerden möchte. Selbst wer sich korrekt verhält und dennoch auf Sozialhilfe angewiesen ist, kann bereits heute zum Verlassen der Schweiz gezwungen werden. Das Ausländergesetz sieht vor, dass der Bezug von Sozialhilfe zum Verlust einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung führen kann.

Auch die Einbürgerung soll künftig verwehrt bleiben, wenn jemand in den letzten Jahren Sozialhilfe bezogen hat. Dies gilt schon heute im Kanton Bern; der Bundesrat möchte die Regelung nun schweizweit einführen.

Basel will Plätze so gestalten, dass Randständige keine Sitzgelegenheit mehr finden.

Nicht nur Ausländerinnen und Ausländer sind davon betroffen, dass Armut zunehmend sanktioniert wird. Wenn sich Armut nicht ausschaffen lässt, soll sie zumindest aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Zahlreiche Kantone und Gemeinden haben das Betteln in den letzten Jahren verboten. Per Fernhalteverfügung werden Randständige von öffentlichen Plätzen verwiesen und im Grossen Rat von Basel-Stadt wird gefordert, dass öffentliche Plätze möglichst so zu gestalten sind, dass Randständige dort keine Sitzgelegenheiten mehr finden.

Einzelne Gemeinden gehen noch weiter und möchten die Bedürftigen gleich ganz loswerden, damit sie deren Existenzminimum nicht zu bezahlen haben. Die Massnahmen reichen bis hin zu Mitteilungen an Hauseigentümer, sie sollen ihre Wohnungen nicht mehr an Sozialhilfebezüger vermieten.

Sachliche Argumente fehlen

Die fehlende Solidarität wird mit finanziellen Notwendigkeiten begründet. Die Gesellschaft soll nicht mit der Finanzierung der «Sozialindustrie» und deren Klientinnen und Klienten belastet werden. In einem Land mit mehr Millionären als Sozialhilfebezügern (2014 waren es 330’000 respektive 270’000) fehlt diesem Argument jedoch die notwendige Sachlichkeit. Gerade mal 0,38 Prozent des Bruttoinlandprodukts reichten im Jahr 2012 aus, um die ganze Sozialhilfe zu finanzieren.

Die Entfernung von Bedürftigen aus dem Stadtbild lässt sich ebenfalls nicht rechtfertigen. Der öffentliche Raum wird gerade dadurch charakterisiert, dass er allen Mitgliedern der Gesellschaft zur möglichst freien Benützung offensteht. Die Mehrheit hat keinen Anspruch darauf, nicht mit jenen konfrontiert zu werden, die als Bettler oder Suchtkranke ganz am Rand der Gesellschaft angekommen sind.

Kosten? Das ist kein sachliches Argument in einem Land mit mehr Millionären als Sozialhilfebezügern.

Obwohl sich die Sanktionierung von Armut mit sachlichen Argumenten nicht rechtfertigen lässt, haben politische Forderungen danach immer wieder Erfolg. Die Interessen von Armen gehen im politischen Prozess unter. Dass Armut nicht die Schuld des Einzelnen ist, wird regelmässig übersehen. Gerade dieser Punkt ist aber zentral, er nimmt die Gesellschaft in die Verantwortung. Dies gebietet auch die Bundesverfassung, die explizit festhält, dass «die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen».

Arme sind besonders darauf angewiesen, dass sie vor Benachteiligung durch eine politische Mehrheit geschützt werden. Deshalb wurden die Grundrechte in die Schweizerische Bundesverfassung aufgenommen. Sie gründen auf der Überzeugung, dass auch eine Mehrheit respektieren muss, dass ihre Macht nicht jede Behandlung von Minderheiten rechtfertigt.

Schutz vor Diskriminierung ist zentral

Die Sanktionierung von Armut kollidiert mit verschiedenen Grundrechten. Bettelverbote beschneiden die persönliche Freiheit, Wegweisungen die Bewegungsfreiheit. Wenn Gemeinden den Zuzug von Sozialhilfebezügern verhindern, beschränken sie deren Niederlassungsfreiheit. Und wenn schon der Sozialmissbrauch von 300 Franken zur Ausschaffung führt, ist dies unverhältnismässig und grenzt an Willkür.

Insbesondere aber werden die Betroffenen diskriminiert. Mit dem Diskriminierungsverbot sollen diejenigen Personengruppen geschützt werden, die in besonderem Masse von Herabwürdigung und sozialer Ausgrenzung bedroht sind. Wie die Geschichte zeigt, wurden Menschen aufgrund von Armut schon früher ausgegrenzt und als «Unwürdige» benachteiligt. Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass diese Gefahr auch heute besteht, wo Armut inmitten von Reichtum existiert.

Die Gerichte müssen ihre Zurückhaltung aufgeben.

Das Bundesgericht hat sich bereits in verschiedenen Fällen geweigert, Armen einen Schutz vor Diskriminierung zu gewähren. Die dafür vorgebrachten Gründe vermögen allerdings nicht zu überzeugen. Besonders problematisch sind jene Fälle, in denen sich das Gericht mit Verweis auf die politische Dimension einer Sanktion zurückhält und diese nicht verbietet.

Diese Zurückhaltung muss aufgegeben werden, weil die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft besonders auf das Versprechen der Grundrechte angewiesen sind. Die Gerichte müssen sich hüten, ebenfalls den stereotypen Vorstellungen von Armut zu verfallen, und sie dürfen wirtschaftliche Interessen nicht mehr höher gewichten als den Schutz der Schwächsten.

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Alexander Suter hat an der Juristischen Fakultät der Uni Basel zum Thema «Armut und Diskriminierung» promoviert. Er arbeitet für die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) in Bern. Diesen Text hat er als Privatperson verfasst.

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