Das Mosaik der Demokratie #23: Nach der Revolution ist vor der Demokratie

Viele Revolutionäre beanspruchten nach dem Umsturz die ganze Macht des Staates für ihresgleichen. Damit weckten sie Gegenkräfte, die sie über kurz oder lang zu einer Teilung der Macht zwangen. Doch demokratische Errungenschaften wie die Volksrechte oder das Proporz-Wahlrecht mussten auch in der Schweiz erst einmal erkämpft werden.

Heute verehrt, galt Alfred Escher zu Lebzeiten ob seiner Ämterkumulation manchem Mitbürger als Tyrann.

(Bild: Keystone)

Viele Revolutionäre beanspruchten nach dem Umsturz die ganze Macht des Staates für ihresgleichen. Damit weckten sie Gegenkräfte, die sie über kurz oder lang zu einer Teilung der Macht zwangen. Doch demokratische Errungenschaften wie die Volksrechte oder das Proporz-Wahlrecht mussten auch in der Schweiz erst einmal erkämpft werden.

Auch die Schweiz kannte Mitte des 19. Jahrhunderts so etwas wie Könige, nämlich «Barone» der neuen, «freisinnigen» Demokratie. Tatkräftige Männer an der Spitze von liberaldemokratischen Revolutionen, die sich nach deren Gelingen in zahlreiche staatliche Regierungs- und andere Ämter wählen liessen. Sie mauserten sich über zwei Jahrzehnte durch verschiedene politische Doppelmandate (Regierungs- und Nationalrat beispielsweise) sowie Direktorenposten in privaten Eisenbahnbau-, Bank- und Versicherungsgesellschaften zu eigentlichen Herrschern. Zeitgenossen empfanden sie sogar als «Tyrannen», die man doch nach den Revolutionen ein für alle Mal auf den Misthaufen der Geschichte verbannt glaubte.

Der Genfer James Fazy (1794–1878) war so einer, der Zürcher Alfred Escher (1819–1882) ein anderer. Fazy gilt als «Schöpfer des modernen Genf»Escher als «Erbauer der Gotthardbahn» und deren Scheiteltunnels. Demokratiepolitisch waren beide freilich weniger konstruktiv, diesbezüglich sind sie weniger berühmt als berüchtigt.

James Fazy stand 1841 und 1846 an der Spitze zweier radikalliberaler Revolutionen. Mit Hilfe der Arbeiter aus St-Gervais und der katholischen Landbewohner warf er im zweiten Anlauf die alten Genfer Aristokraten aus Amt und Würden und errichtete eine «absolute Demokratie»: Die politische Macht konzentrierte sich vollständig in der erstmals vom Volk direkt gewählten Regierung. Sie setzte sich wie das dienstbare Parlament ausschliesslich aus Freisinnigen zusammen.

Die Hälfte der Stimmen für das ganze Parlament

Die Wahlkreise waren so gezogen, dass im Majorzverfahren überall die freisinnigen Listen Mehrheiten fanden. Die Freisinnigen konnten sich so mit einem Wähleranteil von etwa der Hälfte alle Parlamentssitze unter den Nagel reissen. Fazit des Genfer Historikers Dominique Wisler: «Die Staatsmacht wurde von den Freisinnigen gleichsam konfisziert.»*

Jede Ersatzwahl – und solche gab es der damals kurzen Legislaturperioden wegen viele – wurde dadurch zu einem Machtkampf auf Biegen und Brechen. Zwölf Jahre lang hielt die autoritäre freisinnige Monokultur. Doch die vielen verschiedenen Opponenten begannen sich immer besser zu organisieren. 1862 wäre ihnen fast eine Verfassungsrevision gelungen. Im August 1864 verlor Fazy eine Wiederwahl in den Regierungsrat; zu offensichtlich wurde vielen sein Missbrauch der Macht für persönliche Bereicherungen.

Nach der Wahlniederlage Fazys kam es in Genf zu Schiessereien mit Toten und Verletzten. Schliesslich marschierte das eidgenössische Militär in der Stadt ein.

Doch die Freisinnigen widersetzten sich mit Gewalt der Wahlniederlage, versuchten das Regierungsgebäude zu stürmen, es kam zu Schiessereien, es gab Tote und Verletzte, eidgenössisches Militär marschierte ein. Vier Monate lang blieben Stadt und Kanton Genf unter der Obhut des Bundes.

In einem Bericht an den Bundesrat zu den Ursachen dieser Unruhen legte der Genfer Philosoph Ernest Naville (1816–1909) den Finger auf den wunden Punkt. Eine echte Demokratie könne nie absolut sein, schrieb er. Die Demokratie sei mehr als die Macht der Mehrheit; auch die Minderheiten müssten ein Recht haben, sich zum Ausdruck bringen zu können: «In einer Demokratie entscheiden immer Mehrheiten; aber das Recht auf Repräsentation haben alle.»

Zur Begründung seiner Alternative, dem Proporz-Wahlrecht, erinnerte er an die Verfassungsräte der Französischen Revolution und dem Anspruch, den dort 1789 der Aufklärer Gabriel de Mirabeau (1749–1791) gestellt hatte: «Die Parlamente eines Volkes sind wie Landkarten: Sie zeigen zwar das Ganze im kleineren Massstab, aber wirklichkeitsgetreu.»

Eine geteilte Gesellschaft braucht den Proporz

Sowohl Jean-Marie Condorcet als auch der Robespierre-Gefährte Louis Antoine de Saint-Just hatten in ihren demokratischen Verfassungsentwürfen 1791 und 1793 die Wahl der Nationalversammlung nach dem Proporz vorgesehen. Dasselbe Prinzip legte der Frühsozialist Victor Considerant 1846 den Genfer Verfassungsräten ans Herz, was von Fazy aber barsch abgewiesen wurde.

Es brauchte in der Schweiz noch eine weitere «Revolution» zwischen den Konservativen und den Freisinnigen mit Schiessereien und einer Intervention von Bundestruppen – jene im September 1890 im Tessin –, um klarzumachen, dass eine in zwei politische Hälften gespaltene Gesellschaft durch das Majorz-Wahlrecht nie befriedigt werden kann. Hier meinte der antiklerikale Radikalliberale Antonio Soldini: «Man kann nicht absolutistisch regieren. Wir brauchen institutionell eine friedliche Revolution, das heisst die Einführung des Proporz-Wahlrechtes.»

Der Tessiner Einsicht in die Notwendigkeit der Proporz-Wahl schlossen sich 1891 Neuenburg und Genf 1892 an. Wobei das Aufkommen einer dritten Kraft, der Arbeiterbewegung und Linken, diesem Lernprozess gewiss förderlich war.

Der freisinnige Absolutismus von Zürich

In Zürich war der freisinnige Absolutismus rund um Alfred Escher nicht weniger selbstherrlich als jener in Genf. Der Sozialist Karl Bürkli (1823–1901) sprach von einer «Finanz-Aristokratie», der soziale Radikaldemokrat Salomon Bleuler, Chefredaktor des Winterthurer «Landboten» – dem Kampfblatt der Demokratischen Bewegung – von einem «System» der Kantonsregierung, des liberal dominierten Parlamentes und der Banken sowie der Eisenbahn- und Versicherungsgesellschaften. Doch die Demokratische Bewegung knackte das System nicht mittels einer Wahlrechtsreform, sondern mit der Erweiterung der indirekten zur direkten Demokratie.

Gewiss fungierten in den 1860er-Jahren eine Wirtschaftskrise und die Cholera-Epidemie als Katalysatoren. Doch entscheidend für den Zürcher Demokratisierungsschub war die Mobilisationsfähigkeit der Demokratiebewegung: Sechsmal innert 18 Monaten zwischen dem November 1867 und dem Mai 1869 vermochte man 90 Prozent der Stimmberechtigten zu mobilisieren. All diejenigen Bauern, Handwerker, Arbeiter und ländlichen Unternehmer, die von der liberalen Herrschaft vernachlässigt wurden, kamen zweimal an riesige Demonstrationen und liessen 1868 die demokratischste Verfassung der Welt ausarbeiten. In den folgenden (Majorz-)Wahlen fegten sie die Liberalen aus der Regierung und nahmen ihnen die Parlamentsmehrheit ab.

Die doppelte Pointe dieser «demokratischen Revolution» von Zürich: Auch sie bezog sich mit den Volksrechten auf eine Idee von Condorcet aus der Französischen Revolution. Und zwischen 1890 und 1918 war die Einführung des Proporzwahl-Systems die Frucht von zwei kantonalzürcherischen und drei eidgenössischen Volksinitiativen. Das Proporzsystem war das erste grosse Kind der direkten Demokratie. Basel-Stadt stimmte 1905 im dritten Anlauf der Einführung des Proporzwahlrechtes zu, Baselland erst nach dem Generalstreik 1919. Auf zwei Wegen realisierten die Schweizer die doppelte Teilung der politischen Macht, was bis heute den Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz ein grösseres Mass an Freiheit verleiht, als sie die Einwohner anderer Länder kennen.


*Empfehlenswert, doch nur auf Französisch erhältlich: Dominique Wisler, La démocratie genevoise, Georg-Verlag, Genf 2008.

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