Wie können wir ein gemeinsames Demokratieverständnis entwickeln? Wie die Erosion der Demokratie erkennen und dann herausfinden, wie wir sie neu ermächtigen können? Andreas Gross schreibt eine Auslegeordnung zum Auftakt seiner Kolumne, die exklusiv in der TagesWoche erscheint.
Die Demokratie gehört mit der Freiheit und der Gerechtigkeit zu den in der Schweiz am häufigsten gebrauchten politischen Begriffen. Er ist auch einer der am positivsten besetzten Begriffe. Den Satz «Das ist doch nicht demokratisch» hören Sie immer wieder und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Immer ist er gleichsam ein Aufschrei gegen ein ungerechtes Prozedere oder ein ungerechtes Resultat; prosaischer gesagt: Es soll damit auf eine falsche Entscheidung oder ein unangemessenes Entscheidungsverfahren hingewiesen werden.
In den USA heisst es dann jeweils «It’s against the law», in Deutschland «Das widerspricht dem Grundgesetz», in Frankreich «Das ist ungerecht», bei uns ganz einfach «Das ist doch undemokratisch». In den USA schlägt man dann im Gesetz nach, in Deutschland wird das Grundgesetz konsultiert, und in der Schweiz beginnen wir über die Demokratie zu streiten – einigen können wir uns dabei aber selten, weil wir keinen klaren, gemeinsamen Begriff der Demokratie haben, auf den wir uns alle beziehen könnten.
Ein Begriff und viele Interpretationen
In Anlehnung an den bekannten Spruch – zwei Juristen, drei Meinungen – können wir fast sagen, so viele Bürgerinnen und Bürger es gibt, so viele Demokratieverständnisse existieren. Das ist fatal. Denn wenn ein Anspruch fast allen wichtig ist und fast alle auf ihn Bezug nehmen, kommt ihm zwar eine hohe Legitimationskraft zu. Wenn er aber inhaltlich beliebig wird, wenn gar nicht mehr klar ist, was eigentlich damit gemeint ist, dann verliert er nicht nur seine Erklärungskraft, sondern er kann auch nicht mehr als Massstab dienen.
Die Demokratie zerbröselt uns zwischen den Fingern, doch wir merken es nicht.
So können wir uns auch nicht mehr einigen, wie die Demokratie verteidigt werden muss. Oder wie sie reformiert und den veränderten Lebensumständen angepasst werden sollte, um ihren Anspruch wieder realisieren zu können.
Noch schlimmer, wir merken gar nicht mehr, dass wir drauf und dran sind, die Demokratie zu verlieren. Mässig, aber regelmässig. Sie zerbröselt uns zwischen den Fingern, doch wir merken es nicht. Und so bringen wir auch die politische Kraft nicht mehr zusammen, die es braucht, den Niedergang der Demokratie aufzuhalten beziehungsweise mit dem Neubau, Umbau und der Erweiterung unserer politischen Institutionen die Demokratie wieder zu stärken.
Ein Mosaik aus mindestens 200 Steinchen
Dies zu ändern ist das Ziel dieser Kolumne. Eins nach dem anderen wollen wir versuchen, uns auf ein gemeinsames Demokratieverständnis zu verständigen, die Erosion der Demokratie illustrieren und dann zeigen, wie wir sie neu ermächtigen und ihr Primat gegenüber der Marktmacht wiederherstellen können.
Die Demokratie ist ein politisches Gesamtkunstwerk; ein Mosaik aus mindestens 200 Steinchen – Rechten, Verfahren, Institutionen, gesellschaftlichen Einrichtungen, individuellen Fähigkeiten, sozialen Errungenschaften – die alle zusammen einem jeden und einer jeden ermöglichen sollten, frei zu sein und die damit notwendigerweise verbundenen Konflikte gewaltfrei austragen und überwinden zu können.
Wobei Freiheit das Recht, die Möglichkeit und Fähigkeit bedeutet, mit anderen Menschen zusammen, die gemeinsamen Lebensgrundlagen mitgestalten zu können. Das Leben darf kein Schicksal sein – das war seit der Französischen Revolution der Anspruch an die Demokratie.
Die Märkte regieren
Zur Eigenart dieses Gesamtkunstwerks gehört, dass einige seiner Teilchen permanent in Veränderung sind, das heisst sich progressiv oder regressiv entwickeln, und die Qualität des Ganzen von der Art abhängig ist, wie die einzelnen Mosaiksteinchen miteinander verknüpft sind. So nützt uns das Wahlrecht wenig, wenn wir keine politische Öffentlichkeit haben, die pluralistisch ist und in der die verschiedenen Parteien und ihre Kandidaten ihre Zukunftsvorstellungen verständlich machen können.
Schliesslich muss der Ort des Mosaiks der Demokratie beziehungsweise deren Organisation auch dem Ort entsprechen, wo über die Produktion des Reichtums dieser Welt entschieden wird. Und hier herrscht heute eine ganz grosse Diskrepanz.
Die Demokratie beschränkt sich immer noch auf den (National-)Staat; die Wirtschaft jedoch wirkt längst auf transnationalen, globalen Märkten. Diese bemächtigen sich heute der Staaten und deren Rest-Demokratien und Letztere sind längst zu schwach, um die Märkte zu zivilisieren. Deshalb sind heute alle Demokratien zu klein geworden für die grossen Fragen (und Verwirklichung der wichtigsten Versprechen) – und zu gross für die kleinen!