«Das Phänomen IS ist eine unreflektierte Protestkultur»

Er hat viele Jugendliche getroffen, die sich später dem IS angeschlossen haben: Im Interview spricht Moussa Al-Hassan Diaw über seine Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen, die mit der Terrormiliz sympathisieren.

(Bild: Nils Fisch)

Er hat viele Jugendliche getroffen, die sich später dem IS angeschlossen haben: Im Interview spricht Moussa Al-Hassan Diaw über seine Erfahrungen im Umgang mit Jugendlichen, die mit der Terrormiliz sympathisieren.

In Wien veschwinden im April zwei Mädchen, kurz darauf heisst es auf Facebook, sie seien in Syrien angekommen und nun mit syrischen Rebellen verheiratet. Ein Fallbeispiel unter vielen – auch in der Schweiz sind Lehrer und Sozialarbeiter immer öfter mit Jugendlichen konfrontiert, die mit dem IS sympathisieren.

Jugendliche geraten ins Visier des Islamischen Staats. Ein besonders machtvolles Instrument ist dabei das Internet, aber auch persönliche Kontakte vor Ort spielen eine grosse Rolle. 

Moussa Al-Hassan Diaw ist Spezialist für religiösen Fundamentalismus. Gemeinsam mit anderen Aktivisten hat der diplomierte Pädagoge aus Wien im April das «Netzwerk sozialer Zusammenhalt» gegründet. Die Initiative will der dschihadistischen Radikalisierung in Österreich entgegentreten.

Woher kommt diese Faszination, die der Islamische Staat auf junge Menschen ausübt?



Der IS ist eine Schablone, wie sie im Fall von politischem Extremismus immer wiederkehrt. Der IS ist ein Sammelbecken für die Bedürfnisse von Gruppen von Menschen, die sich von der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und darum eine Gemeinschaft suchen, wo sie willkommen sind. Gerade junge Menschen sehnen sich danach, wahrgenommen zu werden. Ihnen helfen klare Regeln, eine klare Weltanschauung, die dann auch Teil der eigenen Identität werden können. Die Faszination der Jugendlichen für den IS ist oft auch Teil einer Suche nach der eigenen Identität.




Gibt es denn eine bestimmte Zielgruppe von Jugendlichen, die sich vom IS besonders leicht beeindrucken lässt?



Da gibt es verschiedene Ansichten. Einige behaupten, es seien vor allem junge, sozial ausgegrenzte Männer mit muslimischem Migrationshintergrund. In Deutschland gibt es die Hotline des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die Angehörige oder Lehrer berät, die sich um die Radikalisierung eines Angehörigen, Bekannten oder Schülers sorgen. Die Anrufe auf dieser Hotline zeigen ein anderes Bild. 60 Prozent der Menschen, die dort anrufen, haben keinen Migrationshintergrund. Es sind also zum Beispiel Deutsche, die den Islam angenommen haben. 
Was sich aber bei fast allen Sympathisanten beobachten lässt, ist eine soziale und psychische Schwäche. Die Darstellungen von Macht, von Einheit und Stärke, wie sie der IS propagiert, faszinieren offensichtlich junge Menschen, die mit ihrer sozialen Situation nicht zufrieden sind und etwas daran ändern wollen.



Wie kommen Jugendliche mit dem Gedankengut des IS in Kontakt?



Junge Menschen werden über das Internet mit den Inhalten des IS vertraut gemacht. Aber auch persönliche Kontakte spielen eine Rolle, Freunde aus der Clique oder aus der Schule zum Beispiel, die sich bereits informiert haben und eine extreme Einstellung aufbauen. Die Treffen können überall stattfinden, im Park oder auch in einer «nichtoffiziellen Moschee» zum Beispiel. Menschen, die in ihrer Moschee rausgeworfen würden, treffen sich in kleinen Gruppen, in denen die extremen Ideen dann ausgetauscht und verfestigt werden.



Es sind also vor allem persönliche Kontakte, über die junge Menschen zum IS gelangen?



Man darf sich das nicht vorstellen wie beim Militär, wo der Rekrutierer in die Schulen kommt und unter der Hand versucht, Soldaten für den Krieg anzuwerben. Es ist die Kombination aus persönlichen Kontakten und Inhalten aus dem Internet, die junge Menschen überzeugt, in die Kriegsgebiete zu reisen. Viele unternehmen diese Reisen mit dem Zug oder dem Flugzeug auf eigene Faust.
 Was uns überrascht, ist die Unberechenbarkeit der Fälle von Jugendlichen, die sich überzeugen lassen. Das sind zum Teil Leute, die überhaupt keinen politischen, kulturellen oder religiösen Hintergrund haben und sich trotzdem anschliessen. Und solche Fälle sind nicht einmal selten.



Was tun Sie, um Jugendliche davon abzuhalten, nach Syrien zu reisen?



Der erste Grad der Prävention sind Besuche in Schulen oder Jugendclubs, in die wir eingeladen werden und wo noch keine oder wenig negative Einstellungen angekommen sind. Dort veranstalten wir Workshops oder halten Vorträge, um die Jugendlichen gewissermassen zu immunisieren. 
Am dringendsten ist eine Intervention aber dort, wo uns Angehörige darum bitten, mit den Jugendlichen zu reden, die ausreisen wollen. Wir sprechen dann mit diesen oft noch sehr jungen Menschen und versuchen im Gespräch, Widersprüche in ihren Gedanken aufzudecken. Das braucht Fingerspitzengefühl. Es ist gefährlich, wenn man versucht, die jungen Menschen mit Druck oder einer Form von Autorität von ihrem Vorhaben abzubringen. Dann kann es sein, dass genau das Gegenteil passiert. Dass der Druck zu einer Bestätigung der negativen Annahmen über «die Anderen» führt. Dann hat man verloren. 



Wie begegnen Sie Eltern, die eine Radikalisierung ihrer Kinder befürchten?



Es kommt vor, dass Kinder eine andere Form des Islam praktizieren, als die Eltern es tun. Das muss aber noch lange nicht heissen, dass sich die Kinder darum radikalen Strömungen anschliessen. Wir hatten Kontakt zu einigen Familien, die eine radikale Abspaltung der Kinder befürchteten. Es stellte sich aber heraus, dass deren Konflikte nicht im religiösen, sondern eher im sozialen Bereich lagen und keine extremistischen Tendenzen von Familienmitgliedern zur Ursache hatten.



Wie lässt sich im Voraus erkennen, ob jemand mit dem IS sympathisiert oder bereits mit Gruppierungen der Terrormiliz im Kontakt steht? 



Man merkt das sofort an den Fragen der Jugendlichen und daran, dass sie schnell widersprechen. Im letzten Workshop fragte zum Beispiel einer: «Sind Schiiten Ihrer Meinung nach Muslime?» Oder sie kennen die Namen extremistischer Ideologen. Dann weiss man, mit welchen Informationen und Ideen sie bereits in Kontakt gekommen sind.

In Jugendhäusern prahlen Jugendliche damit, wie toll sie den IS finden. Dabei geht es aber vorderhand darum, das Gegenüber zu schockieren, ohne dass die Jugendlichen sich wirklich mit den Ideologien identifizieren. Ist Ihnen dieses Phänomen auch schon begegnet?

Ja, das Phänomen ist manchmal auch unreflektierte Protest- und Populärkultur, ein «Starke-Männer-Kult» bei gleichzeitiger Verkennung der mörderischen Monstrosität der IS. Die Bilder und Selbstdarstellungen von unüberwindlichen, uniform auftretenden Männern können bestimmte junge Menschen faszinieren, die nicht schwach sein wollen und glauben, sich nehmen zu können, was sie wollen. Das kann zum Beispiel etwas Männerbündisches sein: Einmal treten sie als rechtsextreme «Robuste Materialisten», als Skinheads, Outlaw-Rocker auf. In diesen Cliquen gibt es Regeln, ein Gefühl der Stärke durch Gemeinschaft für Menschen, die sich vom Establishment abgewendet haben oder sich ausgeschlossen fühlen.

Moussa Al-Hassan Diaw diskutiert mit der Salafismus-Expertin Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur in Berlin über Präventionsmassnahmen gegen die Radikalisierung von Jugendlichen:



In den Medien ist viel von Radikalen die Rede, was synonym für Extremisten oder Terroristen verwendet wird. Ab wann ist ein Jugendlicher radikalisiert?



Radikalisierung ist ein Weg zum Extremismus und beschreibt eine Gesinnung, die das demokratische Zusammenleben der Menschen gefährdet, den Pluralismus in der Gesellschaft nicht gelten lässt und mit Gewalt versucht, eine eigene Weltanschauung umzusetzen. Diese Gewaltbereitschaft lässt sich natürlich schwer messen. Aber die geäusserte Absicht, Gewalt anzuwenden, um eine Anschauung durchzusetzen, kann man als radikal beschreiben. 



Wie können solche Personen de-radikalisiert werden?



Dieser Prozess kann nur sehr langsam gehen, denn eine Versöhnung ist schwer, wenn jemand stark in seinen Ideologien verhaftet ist. Die Personen müssen dazu gebracht werden, auf Gewalt zu verzichten. Das ist der erste Schritt. Ihre extremistischen Weltanschauungen werden sie vorerst beibehalten. 
In solchen Situationen hilft es, Exit-Programme zu haben. Diese Programme helfen den Leuten, sich von ihren Ideen zu verabschieden und auszusteigen.
Solche Leute können dann wiederum sehr gut eingesetzt werden, um andere zu de-radikalisieren. Sie können ein positives Vorbild sein, weil sie genau wissen, wovon sie reden und die Prozesse sehr gut kennen.



Könnten vielleicht auch sogenannte Rückkehrer zur De-Radikalisierung eingesetzt werden? Haben Sie Kontakt zu Rückkehrern?



Die Rückkehr kann unterschiedliche Gründe haben. Das kann die Sprachbarriere sein, oder die Rückkehrer werden vom Kommandanten einer Einheit wieder zurückgeschickt, ohne dabei ihre Überzeugung verloren zu haben. Es gibt aber auch Rückkehrer, die schockiert und traumatisiert sind und ihrer Ideologie abgeschworen haben. Diese Leute könnte man für Exit-Programme nutzen, vorausgesetzt es gibt keine strafrechtlichen Belange. 
Wir vom Netzwerk sozialer Zusammenhalt wissen von Rückkehrern, aber wir stehen nicht direkt mit ihnen in Kontakt. Die müssten selber auf uns zukommen, doch in den meisten Fällen stehen sie unter Beobachtung des Verfassungsschutzes.



Haben Sie Ihre Workshops auch schon in der Schweiz angeboten?



Wir würden durchaus auch in der Schweiz intervenieren, bis jetzt haben wir aber noch keine Anfrage bekommen. 
Wie schon in Österreich würden wir auch in der Schweiz Peer-Ausbildungen durchführen. Das heisst, wir schulen junge muslimische Multiplikatoren, die dann in der Lage sind, extremen Ideologien zu widersprechen, sie auszukontern und damit ein positives Vorbild in den muslimischen Communitys zu bilden.

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