Über 80 Prozent der Bevölkerung gingen am 25. September in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak an die Urne. 92 Prozent von ihnen haben für die Unabhängigkeit vom Irak gestimmt. Ein historischer Tag, der auch in den kurdischen Gebieten der Nachbarländer mit grossem Jubel gefeiert wurde.
Am 23. September, zwei Tage vor der Abstimmung, lande ich in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region. Der Flughafen ist mit kurdischen Fahnen beflaggt, aus den Lautsprechern tönt ein altes kurdisches Widerstandslied. Auf der Fahrt zum Hotel ein Farbenmeer: Wo man auch hinblickt, an fast jedem Hochhausgerippe – und davon gibt es viele – hängt eine überdimensional grosse Fahne. An jeder Häuserwand und Mauer kleben Aufrufe, abstimmen zu gehen, die Menschen haben ihre Autos beflaggt, tragen Kleider in den kurdischen Farben.
Dann taucht mittendrin die israelische Fahne auf. Ich glaube, mich getäuscht zu haben, aber dem ist nicht so. Israel ist das einzige Land, welches das Referendum begrüsst. Das hat wohl mit seiner Haltung gegenüber den arabischen Ländern zu tun. Denn diese stellen sich gegen die kurdische Selbstbestimmung, die für Irak, Syrien, Iran und auch die Türkei Macht- und Gebietsverluste bedeuten würde.
Der Druck der Regierungen in Bagdad, Teheran und Ankara nimmt stündlich zu. Der irakische Ministerpräsident Haidar al-Abadi erklärt, das Referendum verstosse gegen die Verfassung des Irak und werde nicht anerkannt. Der Iran und die Türkei verstärken ihre Truppenverbände an der Grenze, die verbalen Drohungen und Beschimpfungen werden immer lauter.
Bis zum Abstimmungsmorgen ist nicht klar, ob Masud Barzani, der Präsident der Autonomen Region Kurdistan dem Druck standhält und die Abstimmung wirklich stattfindet. Die kurdischen Bewegungen aus den Nachbarländern – aus der Demokratischen Föderation Nordsyrien (seit einem Jahr die offizielle Bezeichnung für das auch Rojava genannte kurdische Syrien) und Bakur (die kurdische Region in der Südosttürkei) – senden am Vorabend Grussbotschaften. Auch wenn es da und dort Kritik am Referendum gibt, steht die kurdische Solidarität, die angestrebte kurdische Einheit, im Vordergrund.
Frage ich die Leute auf der Strasse und in den Cafés, erhalte ich überall die freudige und stolze Antwort: «Natürlich gehen wir morgen abstimmen, das ist unser Recht, auch wenn wir nicht wissen, wie es danach weitergeht.» Das weiss niemand.
Auf meine Frage, ob man sich fürchte, bekomme ich von Frauen und Männern, alt und jung, immer wieder die Antwort: «Wir haben schon zu viel erlebt, Krieg, Giftgasangriffe, Vertreibung, als dass uns dies noch Angst bereiten könnte.» Ihre Haltung beeindruckt mich, die Stimmung in der Bevölkerung ist von grossem Selbstbewusstsein geprägt.
Die Allianz der Gegner
Wie schnell doch sind aus Feinden so etwas wie Freunde geworden. Die gleichen Nachbarn, die gestern noch im Streit lagen, haben sich, zumindest wenn es um die Selbstbestimmung der Kurden geht, zu einer trilateralen Front vereinigt: die Türkei, der Iran und der Irak. Der irakische Ministerpräsident ist plötzlich Ankaras Partner Nummer 1, der Streit um die Befreiung der vom IS besetzten Städte Mosul und Abadi scheint vergessen. Auch die regionale Rivalität zwischen der Türkei und dem Iran ist beseitigt.
Natürlich stellt sich die Frage, wie tragfähig diese Annäherung ist und ob daraus wirklich neue Allianzen entstehen, die über die unmittelbare Situation hinausreichen. In der Vergangenheit sind solche Allianzen immer wieder zerbrochen. Doch das Interesse an Südkurdistan wird anhalten, immerhin zählen die Kurdengebiete im Nordirak zu den wichtigsten Handelspartnern der Türkei. Zudem verfolgt Erdogan in dieser Gegend strategische Interessen und arbeitet deshalb mit Barzani und seiner DKP (Demokratische Partei Kurdistans) im Nordirak zusammen.
Teheran seinerseits setzt auf die PUK (Patriotische Union), die mit der DKP konkurriert. Einflussnahme und wirtschaftliche Gebietsaufteilung sind Ausdruck eines labilen Gleichgewichts zwischen diesen beiden starken Nachbarstaaten. Iranische Waren dominieren den Markt in den Regionen nahe der iranischen Grenze (u.a. Süleymania); in der Nähe der türkischen Grenze (u.a. Dohuk, Erbil) sind es Güter aus der Türkei.
Am Abstimmungstag liegt eine gespannte Ruhe über der Stadt, die Hitze tut das Ihrige, alle Geschäfte sind geschlossen, die Strassen leer. Nur vor den Abstimmungslokalen bilden sich schon frühmorgens die ersten Schlangen. Abgestimmt wird von 9 Uhr bis 19 Uhr. 12’000 Urnen stehen in den Provinzen Erbil, Duhok, Süleymaniye, Halepçe und Kirkuk bereit. Jeder Taxifahrer, mit dem ich von einem Abstimmungslokal zum anderen fahre, schüttelt mir die Hand und bedankt sich, dass ich an einem für die Kurdinnen und Kurden so wichtigen Tag dabei bin.
Im Laufe des Tages werden die Warteschlangen vor den Abstimmungslokalen immer länger. Alt und Jung sind auf den Beinen, die Kinder werden mitgenommen, alle fotografieren sich gegenseitig. Es ist ein historischer Tag, das ist an allen Ecken und Enden spürbar.
Das Ereignis hat eine starke symbolische Ausstrahlung in alle vier Teile der kurdischen Region. «Es ist unser Recht, unabhängig zu sein», höre ich immer wieder und der mit Druckerschwärze gefärbte Zeigefinger wird zum Zeichen des Stolzes. (Um einen Abstimmungszettel zu bekommen, muss man seinen Fingerabdruck neben seinen Namen setzen.)
Eine Regierung ohne Legitimation
Mir scheint, dass der zunehmende Druck der umliegenden Länder in den letzten Tagen viele Menschen erst zur Stimmabgabe bewegt hat. Denn das Referendum wird von vielen, vor allem auch jüngeren Leuten, durchaus kritisch betrachtet. Es gab viele Stimmen, die fragten, wer Barzani berechtigt habe, das Referendum zu lancieren.
Die Autonome Region Kurdistan ist seit zwei Jahren faktisch ohne funktionierende Regierung. Es gibt ernsthafte politische, ökonomische und gesellschaftliche Probleme. Laut Verfassung kann ein Regierungschef nur zwei Amtsperioden durchlaufen; diese endeten für Masud Barzani vor zwei Jahren. In den vergangenen Jahren konzentrierten die DKP und die Barzani-Familie alle Kompetenzen auf sich, ohne dass sie dazu vom Parlament oder der Bevölkerung legitimiert worden wären.
Die Gorran-Bewegung (Gorran bedeutet Erneuerung) wäre eigentlich in der Regierung. Sie wurde in den letzten beiden Jahren aber aus allen wichtigen Posten gedrängt. Der Einfluss der PUK, die Teil der Regierung ist, wurde gleichfalls stark eingeschränkt. Je unzufriedener die Menschen wurden, desto mehr wurde die Opposition im Land verfolgt.
Der Barzani-Clan ist nicht bereit, seine Macht abzugeben. Der gesunkene Ölpreis und der Krieg gegen den IS bewirkten eine wirtschaftliche Krise. Den Beamten, Polizisten und Militärs (die oft der DKP angehören) wurden die Löhne nicht mehr bezahlt.
Referendum für Barzanis Machterhalt?
Der Unmut in der Bevölkerung gegen Barzani und seinen Clan wurde immer lauter. Gorran und PUK forderten Neuwahlen, die nun am 6. November stattfinden sollen. So stellen verschiedene Leute die Frage, inwieweit das Referendum dem Machterhalt von Barzani diene, um einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden, in der er sich befindet, und die Opposition zum Schweigen zu bringen.
Um 19 Uhr werden die Wahllokale geschlossen und ein ohrenbetäubendes Hupkonzert bricht los, gepaart mit Freudenschüssen und Feuerwerk. Die Strassen der Innenstadt sind völlig verstopft.
Überall in den kurdischen Gebieten wird gefeiert. In den Städten und Dörfern Nordsyriens, wie Qamshli, Derik, Kobane, Afrin feiern die Menschen. In vielen kurdischen Städten im Iran wie Merivan und Baneh gehen die Leute trotz Polizeidrohungen zu Tausenden auf die Strasse, ebenso in den kurdischen Städten in der Türkei. Auch wenn das Wahlresultat erst 72 Stunden später bekannt gegeben wird.
Die Drohungen der umliegenden Länder
Noch am Abstimmungstag stellt die irakische Regierung in Bagdad den Vertretern der kurdischen autonomen Region ein dreitägiges Ultimatum und fordert die Überantwortung der Hoheit über die Flughäfen und Grenzübergänge im Nordirak. Erbil weist diese Forderung zurück, woraufhin Bagdad ankündigt alle internationalen Flüge nach Erbil und Süleymaniye ab Freitag auszusetzen. Zwei türkische Fluggesellschaften annullieren daraufhin sofort ihre Flüge. Das irakische Parlament droht, Truppen in die Ölregion Kirkuk zu entsenden, was einer Kriegserklärung an die Kurden gleichkäme.
Die Türkei und der Iran verstärken ihre Truppen an der Grenze. Beide drohen die Grenzen zu schliessen. Rudaw und Waar TV, die zwei grössten Barzani-nahen Fernsehstationen in der Türkei, müssen den Betrieb einstellen.
In Dohuk und Erbil beginnen die Menschen Grosseinkäufe zu tätigen und Lebensmittel zu horten. Die Kurden im Nordirak sind auf Lebensmittelimporte aus der Türkei und dem Iran angewiesen. Erdogan droht, kein Öl mehr zu importieren und den Warenhandel zu stoppen. Er mokiert sich über die wirtschaftliche Abhängigkeit der Kurden, die nun bald Hunger leiden würden.
Kaum jemand befürchtet einen militärischen Angriff. Jeder Aggressor würde sich grosse Probleme im eigenen Land einhandeln. Im Iran leben zwölf Millionen Kurdinnen und Kurden und bei einem Angriff würden viele von ihnen auf die Strassen gehen oder sich dem kurdischen Verteidigungskampf anschliessen.
Die Stärke der PKK in der Türkei ist nicht zu unterschätzen und bei einem militärischen Angriff auf die Autonome Region Kurdistan würde sie diese sofort unterstützen, das hat sie bereits angekündet. Die potenzielle Ausdehnung der PKK in den Nordirak verhinderten bisher die auf Verwandtschaftsbindungen basierenden Machtallianzen, aber das könnte sich bei einem Angriff auf die Verwaltung Barzanis schnell ändern.
Ausserdem ist die türkische Armee nach der grossflächigen Säuberung nach dem Putschversuch von 2016 nicht in bester Verfassung, so fehlt es ihr unter anderem an Piloten. Auch die irakische Armee ist geschwächt.
Der grösste Teil der Wirtschaft der Autonomen Region Kurdistan liegt in der Hand der beiden Nachbarländer.
Doch die Befürchtung, dass die Grenzen geschlossen werden, ist gross. Im Minutentakt passieren vollbepackte Lastwagen die Grenze in Silopi. Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände, Wohnungseinrichtungen, Kleider, Medikamente, ja eigentlich alles, was man zum Leben braucht, wird aus der Türkei und dem Iran nach Südkurdistan importiert. In die entgegengesetzte Richtung fahren die Öltransporter in die Türkei.
Das im Nordirak gewonnene Öl wird über die Türkei in die Mittelmeerhäfen und so in die Welt transportiert. Das gesamte Ölgeld liegt auf türkischen Banken. Kurzum: Der grösste Teil der Wirtschaft der Autonomen Region Kurdistan liegt in der Hand der beiden Nachbarländer.
Ankara hat einen 50-jährigen Öl-Deal mit der südkurdischen Regionalverwaltung unterzeichnet, um Bagdad zu umgehen. Doch nach dem Referendum betrachtet Erdogan diesen Deal als nichtig. Einen Tag nach der Abstimmung hat er versprochen, nur noch von der Zentralregierung in Bagdad Rohöl zu importieren.
Allerdings kann es sich Erdogan nicht leisten, die Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und der Autonomen Region Kurdistan ganz abzuklemmen. Mehr als 4000 türkische Unternehmen sind dort tätig, und darum hat auch der türkische Wirtschaftsminister vor vorschnellen Sanktionen gewarnt. Das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Südkurdistan beläuft sich auf neun Milliarden US-Dollar.
Der Vorsprung der syrischen Nachbarn
Die südkurdische Regierung hat es in den letzten 20 Jahren versäumt, eine eigene Landwirtschaft und verarbeitende Industrie aufzubauen, obwohl es weder an Land und Wasser noch an Geld mangelte. Investiert wurde aber fast ausschliesslich in die Ölförderung und die Bauindustrie.
Ganz anders sieht das im angrenzenden Gebiet der Demokratischen Föderation Nordsyrien aus. Dort wird die Landwirtschaft diversifiziert und eine handwerkliche Kleinindustrie aufgebaut. Der Ausbau der Bildung steht ganz oben auf der Prioritätenliste. Die Verwaltung bietet der Autonomen Region Kurdistan im Falle eines Embargos ihre Unterstützung an. Der Co-Vorsitzende der PYD (Partei der Demokratischen Union), Salih Muslim, erklärte, dass ihre Türen für Südkurdistan immer offen sein würden und dass die Demokratische Föderation die Bevölkerung von Südkurdistan im Falle eines Angriffs verteidigen würde.
Der Druck von aussen und die Gerüchte, dass die Flughäfen schliessen, verstärken sich. Ich stehe wie viele andere ausländische Gäste vor der Entscheidung, erst mal für unbestimmte Zeit zu bleiben oder mich um einen Rückflug zu bemühen. Nach wie vor kann niemand die Lage wirklich einschätzen.
Washington hat seine Truppen in der Autonomen Region Kurdistan aufgestockt. Die USA hatten Barzani ersucht, das Referendum erst nach den südkurdischen Parlamentswahlen vom 1. November abzuhalten. Allerdings werden die USA die Regionalregierung in Erbil wahrscheinlich weiterhin unterstützen, denn der Kampf gegen den IS ist auch im Nordirak noch nicht ganz gewonnen.
Ausstrahlung in alle kurdischen Gebiete
Wohin die durch das Referendum ausgelöste Dynamik führt, bleibt abzuwarten. Dass Barzani sich dem Druck von aussen nicht gebeugt hat, hat eine starke symbolische Ausstrahlung in alle kurdischen Gebiete und stärkt sein Ansehen bei der Bevölkerung. Er hat bekannt gegeben, bei den nächsten Wahlen nicht mehr zu kandidieren – doch er hat drei Söhne. Das Referendum, das nach innen und aussen die Möglichkeit der Gründung eines eigenen Staates suggeriert, birgt in sich aber auch die Gefahr eines sich verstärkenden Nationalismus, der, wie in jedem Land, einer demokratischen Entwicklung entgegensteht.
Weder in der Türkei noch in Nordsyrien ist das Ziel der kurdischen Bewegung, einen eigenen Staat zu schaffen. Vielmehr soll unter Einbezug aller Ethnien und Glaubensrichtungen eine kommunale Unabhängigkeit – eine Art Föderalismus im bestehenden Staat – aufgebaut werden.
Deutlich ist, dass das Referendum die kurdische Bevölkerung im Einstehen für ihre Unabhängigkeit in allen Teilen Kurdistans und auch im Exil bestärkt hat. Die Stimmung in der Autonomen Republik selbst ist auch in den Tagen nach der Abstimmung von grossem Selbstbewusstsein geprägt.
Auch der Westen trägt Verantwortung
Die Lage im Mittleren Osten ist höchst angespannt. Was in den kommenden Wochen und Monaten passiert, ist nicht einzuschätzen, doch es wird die gesamte Region beeinflussen. Die Kräfte für eine demokratische Entwicklung sind vorhanden, dass zeigt die Entwicklung in der Demokratischen Föderation Nordsyrien.
Die Entwicklung der kurdischen Bewegung, ihr Recht auf Selbstbestimmung ist untrennbar mit dem Friedensprozess in der gesamten Region verbunden. Den Friedensprozess zu ermöglichen, dafür trägt auch der Westen Verantwortung
Niemand weiss, wie lange Grenzen und Flughäfen in Südkurdistan geschlossen bleiben. Schnell noch auszufliegen, ist keine einfache Entscheidung, wenn man viele Freundinnen und Freunde zurücklässt. Ich steige ins Flugzeug Richtung Europa, kurz bevor der Erbil International Airport geschlossen wird, fest entschlossen wiederzukommen.