Das Referendum gegen die Versicherungsspione ist schon jetzt eine demokratische Erfolgsgeschichte

Der Widerstand gegen das Gesetz zur Überwachung Versicherter wächst. Aus einem Mini-Aufschrei ist eine Bewegung geworden, die von liberaler Seite unterstützt wird.

Erst wenige, dann viele: Die Gegner haben erfolgreich für das Referendum mobilisiert.

Niemand will Betrüger. Das allein könnte erklären, warum laut einer Umfrage von Tamedia zwei Drittel der Stimmberechtigten Ja sagen wollen zur «Gesetzlichen Grundlage zur Überwachung von Versicherten». Laut einer SRG-Umfrage sagen allerdings rund 40 Prozent der Stimmberechtigten Nein zum neuen Überwachungsgesetz.

Aber mit nackten Zahlen ist die Geschichte um das Referendum gegen Versicherungsspione nicht erzählt. Es ist – selbst wenn das Resultat so oder ähnlich eintreten sollte – schon jetzt eine Erfolgsgeschichte. Und zwar für die Gegner des neuen Gesetzes.

Anfangs kniffen die Linken, wollten das Referendum nicht unterstützen, obwohl sie die Vorlage im Parlament ablehnten. Man wolle der SVP «keine Plattform bieten», hiess es, oder noch umständlicher: «Mir graut vor einem Abstimmungskampf, in dem die SVP während Monaten über Sozialhilfebezüger und Behinderte herzieht», so SP-Fraktionschef Roger Nordmann im «Blick».

Dass die SVP nicht nur im Abstimmungs-, sondern auch im Wahlkampf während Monaten gegen Sozialhilfebezüger und alle weiteren Wehrlosen herzieht, weiss auch Roger Nordmann. Die Politik verspürte vor dem Wahljahr 2019 schlicht keine Lust auf diese Debatte.

Ein Gesetz wie aus einem schlechten Film

Die Bevölkerung hingegen schon. Denn was Bund und Versicherungslobby verschwiegen, wurde bald bekannt: Das neue Gesetz schleift Schweizer Grundrechte. Nicht bloss auf Kosten der Schwachen, das wäre schlimm genug. Das Gesetz richtet sich gegen alle, die bei IV, Ausgleichskassen und Suva versichert sind. Also gegen die ganze Bevölkerung.

Sogar Krankenkassen können mit dem neuen Gesetz – ohne richterliche Kontrolle – Detektive auf Versicherte loslassen. In Wohnungen schauen, Aufnahmen machen. Die Polizei braucht bei Verdacht auf terroristische Aktivität eine richterliche Genehmigung, bevor sie zur Überwachung schreiten darf. Die Krankenkasse bei Verdacht auf Leistungsmissbrauch nicht. Sie darf gar das gesammelte Material frei mit anderen Firmen austauschen.

Der Widerstand, der als Unmutsbekundung einiger Schweizer Bürger gegen ein vom Bund beschlossenes Gesetz begann, wurde innert kürzester Zeit zu einer grossen Bewegung. So kam das erste Schweizer Referendum aus dem Internet zustande. Nur zwei Schweizer Medien verliehen dem Anliegen explizit Flügel: Die WoZ, und die TagesWoche.

Das Dossier zum Thema:

https://tageswoche.ch/story/schnueffeln-ohne-grenzen/

Der Rest ist Geschichte: Das Referendum ist zustande gekommen. Womöglich kommt es an der Urne am 25. November gar zur Sensation.

Laute liberale «Nein»-Stimmen

Und auch wenn es dazu nicht reichen sollte: Angesichts der anfangs fehlenden institutionellen Unterstützung grosser Organisationen sind schon die derzeitigen Umfragewerte eine Sensation.

SP und Grüne setzen sich mittlerweile für ein «Nein» ein. Und nicht nur sie. Ein Komitee mit Vertretern der Jungfreisinnigen, der Grünliberalen und der CVP stellt sich ebenfalls gegen das problematische Gesetz.

Rechtsexperten schaudert vor den neuen Paragrafen. Es handle sich «entgegen den Aussagen des Bundesrates nicht um eine korrekte Umsetzung des Entscheides» des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte EGMR, lautete etwa das vernichtende Urteil der Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz schon im Jahr 2017.

Der EGMR habe nämlich in seinem Urteil vom 18. Oktober 2016 «nicht nur in allgemeiner Form festgehalten, dass es für verdeckte Observationen eine gesetzliche Grundlage brauche». Die Richterinnen und Richter hätten auch  im Detail aufgelistet, «welche Fragen im Zusammenhang mit verdeckten Observationen in einer gesetzlichen Grundlage geregelt werden müssen». Die Gesetzesvorlage erfülle diese Vorgaben nicht.

Die Befürworter machen es sich leicht

Die mächtigen Befürworter des neuen Gesetzes – die bürgerliche Mehrheit des Parlaments mit der Versicherungslobby im Rücken – glauben leichtes Spiel zu haben.

Sie streiten einfach alles ab. Was Bürgerinnen und Bürger verschiedener Parteien und vielen Juristen Sorge bereitet? Stimmt alles nicht, sagen sie. Sogar die Suva mischt sich direkt in den Abstimmungskampf ein (ja, bezahlt von Ihren Suva-Beiträgen) – mit «juristisch und politisch unhaltbaren Behauptungen», wie die Junge GLP und Jungfreisinnige festhalten. Der Bundesrat setzt ebenfalls laut und deutlich auf die «Alles gar nicht wahr und halb so wild»-Strategie. 

Vielleicht machen es sich die Befürworter damit etwas zu einfach. Zwar geht die Saat auf: Viele Medien veröffentlichen jedes Wort der Befürworter. Doch Skepsis macht sich breit. Auch in den Medien nimmt die Ablehnung des neuen Gesetzes eindeutig zu. Die «Blick»-Politikchefin kommentiert: «Das Parlament hat schlechte Arbeit geleistet – zurück auf Feld 1!»

Eleganter, aber nicht minder deutlich, bezieht die NZZ Stellung. Auch hier die Empfehlung zum «Nein»-Stimmen: Es sei «nicht zu viel verlangt», dass man darauf poche, dass in einem so wichtigen Bereich «sorgfältig legiferiert» werden müsse. Das würde «schweizerischer Tradition und einem liberalen Credo» entsprechen.

Damit greift die NZZ elegant zum Zweihänder: Das Gesetz in der heutigen Form sei unliberal und unschweizerisch.

Übertragung des staatlichen Gewaltmonopols an Private?

Die Abstimmung stellt uns letztlich vor die Frage, wem wir glauben sollen: einer Lobby mit ihren Politikern – oder einer Vereinigung unabhängiger Bürger und Experten.

Die Wortführer für das neue Gesetz im Parlament stehen auf den Gehaltslisten der grossen Versicherungen. Sie wehren sich mit Händen und Füssen. Ihr Lieblingsargument: Es treffe nicht zu, dass private Versicherungsspione mehr Befugnisse als die Polizei erhielten.

Eine Behauptung, die schlicht nicht belegbar ist. Ein Auszug aus dem neuen Gesetz im Wortlaut:

Art. 43a Observation

1 Der Versicherungsträger kann eine versicherte Person verdeckt observieren und dabei Bild- und Tonaufzeichnungen machen…

4 Die versicherte Person darf nur observiert werden, wenn sie sich:

a. an einem allgemein zugänglichen Ort befindet; oder

b. an einem Ort befindet, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist.

Die Befürworter behaupten: Bisher sei klar gewesen, dass in den eigenen vier Wänden ohne richterlichen Beschluss nicht observiert werden dürfe. Doch zum neuen Gesetz, das eine explizite Unterscheidung macht zwischen «allgemein zugänglichen» Orten und solchen, die von der Allmend «frei einsehbar» sind – etwa ein privates Wohnzimmer vom Trottoir aus –, gibt es logischerweise noch kein Urteil des Bundesgerichts. Über das Gesetz wird ja erst abgestimmt, es ist noch gar nicht in Kraft.

Anders gesagt: Selbst wenn es – was alles andere als sicher ist –  so herauskommen sollte, dass die Befugnisse privater Versicherungsdetektive jene der Polizei nicht überschreiten, so ist doch sicher: Ihre Befugnisse zur Überwachung von Bürgern sind denen der Polizei mindestens gleichgesetzt.

Das Gesetz sieht gegen einen Missbrauch der Missbrauchsbekämpfung keinerlei wirksame Schranken vor.

Deshalb muss sich jede und jeder die Frage stellen, ob sie oder er einer Übertragung des staatlichen Gewaltmonopols an private Schnüffler zustimmen will. An Detektive, die ihre Beobachtungen und Interpretationen an private Firmen und staatliche Institutionen liefern. Ohne richterlichen Beschluss. Ein anonymes Schreiben eines Nachbarn reicht, und Ihre Versicherung kann eine Überwachung gegen Sie anordnen. Das Gesetz sieht gegen einen Missbrauch der Missbrauchsbekämpfung keinerlei wirksame Schranken vor.

Darum geht es. Bekanntlich zeigt schon die heutige Überwachungspraxis oft verheerende Folgen für Betroffene. Wegen Stümpern, die ohne richtige Ausbildung herumschnüffeln dürfen. Oder einer Gutachter-Industrie, die zunehmend im Verdacht steht, nicht dem Wohl der Versicherten, sondern dem Geschäftsgewinn der Versicherer zu dienen. Wer von der privaten Spitzel-Industrie, die der Bund nun mit der Verordnung zum Gesetz  legitimiert, anderes erwartet, ist schlicht naiv.

Es sollte darum jedem und jeder klar sein, dass dieses Gesetz im Kampf gegen Versicherungsbetrüger das falsche Mittel ist. Wenn Politik und Lobbys im Eilverfahren Schnüffler ohne richterliche Kontrolle ausrücken lassen wollen, höhlen sie Schweizer Grundrechte und Grundprinzipien aus.

Niemand ist gegen die Bekämpfung von Versicherungsbetrug. Aber mit dem neuen Gesetz machen Bund und Lobbys uns allen etwas vor. Nur ein Nein am 25. November zwingt die Verantwortlichen, noch einmal über die Bücher zu gehen.

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