Das Remake von Reims

Mit Bedacht und Sinn für Symbolik haben Angela Merkel und François Hollande die deutsch-französische Partnerschaft ausgerechnet in Reims bekräftigt.

1962 trafen sich Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in Reims und leiteten damit den Anfang der deutsch-französischen Zusammenarbeit ein. Der «Kölner Stadt-Anzeiger» stellte den Anlass als Hochzeit dar: Vorn das Brautpaar Marianne und Michel. (Bild: Karikatur: Klaus Pielert, «Kölner Stadt-Anzeiger» 1962)

Mit Bedacht und Sinn für Symbolik haben Angela Merkel und François Hollande die deutsch-französische Partnerschaft ausgerechnet in Reims bekräftigt.

Am vergangenen Wochenende haben sich der französische Staatspräsident François Hollande und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel im geschichtsträchtigen Reims getroffen, um die bestehende Partnerschaft zu bekräftigen. Dabei konnten sie, wie an den Rednerpulten zu lesen war, an das historische Treffen von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer anknüpfen, das genau 50 Jahre zuvor, am 8. Juli 1962, ebenfalls in Reims stattgefunden hatte.

Das «Versöhnungstreffen» von 1962 bildete den öffentlichen Auftakt zu dem wenige Monate später, am 22. Januar 1963, dann aber hinter verschlossenen Türen unterzeichneten Elysée-Vertrag, mit dem die deutsch-französische Zusammenarbeit auf solide Grundlagen gestellt wurde. Der Vertrag bildete einen wichtigen Meilenstein in der Beziehung zwischen den beiden Nachbarn und wurde in der Folge immer wieder mit Gedenkmomenten in Erinnerung gerufen. Und man wird, wie schon jetzt feststeht, im kommenden Jahr in Berlin das 50-jährige Bestehen zelebrieren.

Warum Reims?

Die Erinnerungen dieser Stadt waren von der deutsch-französischen Erbfeindschaft geprägt. 1870 musste Reims die Besetzung durch preussische Truppen über sich ergehen lassen. Und im Ersten Weltkrieg war die Krönungs-kathedrale, heute Unesco-Welterbe, von der deutschen Artillerie stark beschädigt worden, der hölzerne Dachstock aus dem 15. Jahrhundert brannte völlig aus. Am Ende des Zweiten Weltkriegs musste die Wehrmacht am 8. Mai 1945 hier die Kapitulation unterzeichnen. De Gaulle, der Mann mit Sinn für symbolische Gesten, lud seinen deutschen Partner an diesen Ort, um hier eine neue Phase der Beziehungen einzuleiten.

General de Gaulle erklärte, man wende hier nicht eine Seite im Buch der Geschichte – dies war nämlich bereits geschehen – nein, man öffne eine Tür in eine erfreuliche Zukunft. Die beiden alten Männer (Adenauer 86, de Gaulle 72) waren sich bereits vier Jahre zuvor in Colombey-les-Deux-Églises und in Bad Kreuznach nähergekommen. Und die Tage vor dem Treffen von Reims hatte Adenauer einen Staatsbesuch in Frankreich absolviert, was de Gaulle noch im gleichen Jahr mit einem Gegenbesuch erwiderte. Es war bekannt, dass Adenauers Amtszeit im Herbst zu Ende gehen und dass mit Ludwig Ehrhard ein Nachfolger antreten würde, der eher auf die angelsächsische Welt ausgerichtet war. Da ging es nicht nur um Nachbarschaftspflege, sondern um die Einschränkung des amerikanischen Einflusses in Europa.

Die Feierlichkeiten von 1962 hatten mit der von einem hohen Geistlichen zelebrierten Messe ausgesprochen sakralen Charakter. Das Programm von 2012 dagegen wurde weitgehend säkular gehalten. Monseigneur Thierry Jordan durfte zwar an der Eingangspforte die beiden Staatspersonen begrüssen, dann hörte man sich im französischen und europäischen Gotteshaus eine Passage aus Bachs Johannes-Passion (ein deutsches, ein europäisches Werk) an. Der wichtigere Teil fand aber mit den Ansprachen draussen auf dem Vorplatz statt.

Die Feierlichkeiten von 1962 hatten mit der von einem Geistlichen zelebrierten Messe ausgesprochen sakralen Charakter. Der «Kölner Stadt-Anzeiger» publizierte eine Karikatur, die aus dem Hochamt von Reims eine Hochzeit der beiden Symbolfiguren Marianne und Michel machte – die Braut mit Jakobinermütze, der Bräutigam mit Zipfelmütze. De Gaulle und Adenauer im zweiten Glied, die Schleppe der Braut haltend. Karl der Grosse bildete als europäischer Geist den Schluss dieses feierlichen Einzugs in die Kathedrale von Reims.

Personfizierte Partnerschaft

Keine andere Partnerschaft wird, wie der in Basel lebende Romanist Joseph Jurt in einer erhellenden Kleinstudie dargelegt hat, als «couple» bezeichnet, wobei Frankreich der weibliche, Deutschland der männliche Part zugeteilt wird. Zurzeit setzt sich das reale Paar allerdings umgekehrt zusammen.

Den Kommentatoren war es wichtig festzustellen, dass sich Hollande und Merkel in Reims nicht mehr darauf beschränkten, sich nur formell die Hände zu schütteln, sondern vor der Kathedrale wie ein älteres Paar beinahe herzlich Küsschen austauschten. Bei der ersten Begegnung in Berlin vom 7. Mai gleich nach Hollandes Wahl und im Getümmel des Brüsseler Gipfels war dies noch nicht der Fall.

François Hollande erinnerte in Reims an andere Momente der manifestierten Partnerschaft, an das Treffen von Kohl und Mitterrand 1984 auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Verdun, wo beide demonstrativ die Hand des anderen hielten. Der sozialistische Staatschef betonte so der CDU-Kanz-lerin gegenüber, dass jenseits von unterschiedlicher Parteizugehörigkeit dauerhafte Freundschaft das deutsch-französische Verhältnis bestimme. Aber er sagte auch zu Recht, dass man Freundschaft nicht erben könne, sondern in jeder Generation – und in jeder neuen personellen Konstellation – neu schaffen müsse.

Inszenierte Annäherung

Der Vertrag von 1963 sorgte mit äusseren Vorgaben dafür, dass es zu weiteren Begegnungen kam. Man einigte sich nämlich darauf, jedes Jahr – einmal da, einmal dort – mindestens zwei bilaterale Treffen auf Regierungsebene abzuhalten. Und da bei diesen Treffen auch politische Resultate vorgezeigt werden mussten, erwiesen sich diese Vorgaben in stets neuen Vereinbarungen als Pumpwerke der weiteren Annäherung.

Auf parlamentarischer Ebene sind regelmässige Begegnungen schwieriger. Einmal haben sich die beiden Volkskammern, der Bundestag und die Assemblée Nationale, jedoch zu einem feierlichen Treffen zusammengefunden. Das war im Januar 2003, das 40-jährige Bestehen des Elysée-Vertrags bildete auch in diesem Fall den willkommenen Anlass. Das Treffen fand ebenfalls an einem historisch befrachteten Ort statt: in Versailles, wo Preussen 1871 nach dem Sieg über Frankreich das neue deutsche Kaiserreich ausgerufen hatte und wo 1919 der «Friede» ausgefertigt worden war, der dem besiegten Deutschland demütigende Bedingungen diktiert hatte.

Bundeskanzler Gerhard Schröder beschwor in seiner grossen Versailler Rede die auf die grossen Geister, die als Brückenbauer zwischen den beiden Ländern gewirkt hätten – Voltaire oder Kant, Germaine de Staël und Heinrich Heine und andere mehr. Er rief aber auch in Erinnerung, dass in jüngerer, das heisst in seiner Zeit der Intendant des Jungen Theaters Göttingen 1965 die damals 35jährige Chansonnière Barbara (Monique Andrée Serf) nach der niederdeutschen Stadt eingeladen und diese darauf das berührende und berühmte Lied «Göttingen» geschaffen hatte. War das eine Frucht des Elysée-Vertrags? Hier wurde sozusagen im historischen Niemandsland mit frischer Beziehungspflege ein neuer wirkungsmächtiger Erinnerungsort (ein Lied) zur deutsch-französischen Schicksalsgemeinschaft geschaffen.

Versöhnung von oben oder von unten?

Speziell in der französischen Historiografie gibt es die Meinung, dass dem Elysée-Vertrag von 1963 zu viel Bedeutung in der Versöhnungsgeschichte eingeräumt wird. Es habe bereits unmittelbar nach dem Krieg, in einzelnen Fällen sogar schon 1944, Basisbewegungen gegeben, die sich für eine Annäherung der beiden Nachbarn eingesetzt hätten. Die Ermunterungen von oben seien erst später gekommen.

Dies wird auch von einzelnen Beiträgen eines kürzlich erschienenen Sammelbandes aufgezeigt, der aus einer 2009 abgehaltenen Tagung hervorgegangen ist. Der Tagungszeitpunkt ist insofern von Bedeutung, als er aufzeigt, dass auch in diesem Fall ein Jubiläum, wenn auch ein wesentlich bescheideneres, den Anlass bildete: nämlich der 50. Jahrestag der noch vor dem Elysée-Vertrag entstandenen Städtepartnerschaft zwischen Saint-Etienne und Wuppertal.

In Reims erklärte Hollande, die vormals verfeindeten Nachbarn könnten mit ihrer Versöhnung kein musterhaftes Vorbild abgeben, sondern nur ein real existierendes Beispiel des allenfalls Möglichen sein. Im Hinblick auf andere Konflikte wird in der Tat immer wieder die Frage aufgeworfen, ob andere aus der deutsch-französischen Reconciliation nicht etwas lernen könnten, die Serben und Kroaten, die Griechen und Mazedonier, die Zyprioten, die Israeli und Palästinenser. Der Fall «Frankreich-Deutschland» zeigt, dass Versöhnung das Ergebnis persönlicher Bemühungen ist, dass Staatschefs/Regierungschefinnen wegweisende Vorbilder sein können, dass sie an dieser Aufgabe und Arbeit jedoch von innenpolitischen Pressionsgruppen nicht gehindert werden dürfen. Wichtig ist, dass sich die führenden Personen wenigstens von einem Teil der Zivilgesellschaft getragen fühlen.

Zuweilen erklingt auch Kritik am repetitiven Beschwören der deutsch-französischen Partnerschaft. Dann ist von Versteinerung («pétrification») die Rede. Dieses Partnerschaftsritual bildet aber das nötige und wichtige Gegengewicht zu den Dissonanzen, die es in diesem Verhältnis natürlich ebenfalls gibt. Das Treffen Merkel-Hollande sollte mit seiner demonstrativen Herzlichkeit unter anderem auch dazu beitragen, die vorangegangenen und zum Teil noch bestehenden Differenzen (Stichwort: Finanzkrise) wenn nicht zu bewältigen, so doch wenigstens in Grenzen zu halten. Wenn Harmonie an Feiertagen derart stark hervorgehoben wird, kann man sie im Alltag nicht gleich wieder infrage stellen. Die Wetteraufhellung während der Feier von Reims wurde von beiden Hauptakteuren ausdrücklich als gutes Omen gewertet.

Quellen

Ulrich Pfeil (Hg.) Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Bern Peter Lang 2012

 

Georg Kreis, Etappen auf dem Weg der französisch-deutschen Verständigung bis 1963. Basel 2011.
Basler Schriften zur europäischen Integration Nr. 94

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 13.07.12

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