Keinem anderen Basler Stadtteil werden so viele Probleme zugeschrieben wie dem Kleinbasel. Dabei ist vieles nur eine Frage der Perspektive: Was für den einen unhaltbare Zustände sind, bedeutet dem anderen unvergleichliche Lebensqualität.
Widerspruch, dein Name sei Kleinbasel! Nirgendwo ist Basel offener und enger zugleich, Weltstadt und Provinznest, Hipstermeile und Migrantenslum. Doch vielleicht ist alles auch nur eine Frage der Optik. Der eine freut sich am Rheinbord als Ausgehort bis spät in die Nacht, der andere beklagt Lärm und Abfallberge. Und was der eine für gelebtes Multikulti und Aufgeschlossenheit hält, ist für andere ein unhaltbarer Zustand.
Der kanadische IT-Manager François Bourquin kann sich nicht vorstellen, woanders in Basel zu wohnen, weil er hier kulturelle Offenheit spürt. Anwohnerin Doris Fürst sagt dagegen: «Es stinkt mir langsam. Es kommen immer mehr Ausländer, das Kleinbasel wird zum Ghetto. Schauen Sie nur, was für Leute das 8er-Tram benutzen. Da ist kein Schweizer darunter.»
Ein Beispiel nur, wie unterschiedlich die Auffassungen darüber sind, was das Kleinbasel ausmacht und was es sein soll. Die Ursache, wieso ausgerechnet hier die verschiedensten Vorstellungen von Lebensqualität in einer Stadt aufeinanderprallen, liegt im Wandel, den das Kleinbasel durchgemacht hat: Aus einem klassischen Arbeiterquartier wurde ein Migranten- und Ausgehviertel – mit all seinen Nebenwirkungen und Gegensätzlichkeiten, die sich auch nicht auflösen, wenn man mit vielen verschiedenen Menschen aus dem Quartier redet, so wie wir in den vergangenen Tagen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Mit jedem Gespräch wird das Kleinbasel nur noch widersprüchlicher. Dennoch hier der Versuch einer kurzen Bestandesaufnahme der Schwierigkeiten und von möglichen Lösungen.
Problem Nummer 1: Lärm und Abfall
Anwohner beschweren sich über grölende Besoffene und kreischende Mädchen; die Stadtreinigung über den vielen liegengelassenen Abfall; die Schwimmer über Scherben, die die Abfallmänner beim besten Willen nicht mehr alle aus dem Sand und dem Kies bringen. Das ist viel Ärger, obwohl sich die meisten Rheingänger «sehr verantwortungsbewusst» verhalten, wie Alexander Isenburg, Leiter Stadtreinigung, sagt: «Aber leider nur bis in die späten Abendstunden. Dann löst sich das Verantwortungsbewusstsein allmählich im Alkohol auf.» Was soll man dagegen tun?
Abfalldetektive losschicken, wie die Umweltbehörden es vorhaben?
Ein Abfallmonument wider die Wegwerfmentalität schaffen, wie ein Leser der TagesWoche vorgeschlagen hat?
Das Flaschenpfand wiedereinführen, wie andere Leser fordern?
Oder müsste man sich erst einmal ein paar vertiefte Gedanken machen über den Wechsel «von der alemannisch-ruralen zur urban-mediterranen Lebensweise», so wie es zumindest der Basler Stadtentwickler Thomas Kessler jetzt schon tut? Und dann den ebenfalls von ihm postulierten Freiheitsdiskurs führen? Welche Rechte hat der mediterrane Genussmensch? Welche der Anwohner, der nachts gerne schlafen würde?
Nun, die verschiedenen Vorschläge haben zumindest eines gemeinsam: Sie alle klingen nicht nach einem einfachen Patentrezept.
Problem Nummer 2: Der Verkehr
Das nächste schwierige Thema. Die Velofahrer ärgern sich über die vielen Verbote und andere wiederum über die Velofahrer, die sich ohnenhin an kein Gesetz halten würden. «Wegen ihnen ist es derart hektisch auf den Basler Strassen, viel schlimmer noch als in meiner Heimatstadt Neapel», sagte uns zum Beispiel Buschauffeur Sergio Galluccio.
Dann gibt es auch noch jene, denen es generell zu viel Verkehr auf den Quartierstrassen und zu wenig Platz für Kinder hat. Unser Leser Michael Burkardt zog mit seiner Familie deswegen die Konsequenzen – und damit weg, aufs Land, obwohl er das Kleinbasel eigentlich liebt. Das ist schade, umso mehr, als Theres Wernli vom Stadtteilsekretariat Kleinbasel möglicherweise eine sehr viel bessere Lösung hätte: die Schaffung von Begegnungszonen mit Tempo 20 in den Quartieren. Davon würden nicht nur die Kinder profitieren, sagt Wernli, sondern alle Anwohner.
Problem Nummer 3: Die Schule
Das Kleinbasel sei wunderbar, sagte uns die Leserin Sophie Jung. Und doch gebe es auch Probleme. Für Schweizer Familien fingen diese im Kleinbasel meistens dann an, wenn Kinder auf die Welt kämen. Oder spätestens wenn diese in die Schule müssten. Dann ziehen die Familien auch in ihrem politisch eher linken Umfeld weg, in ein anderes Quartier oder gleich aufs Land, irgendwohin, wo es nicht so viele fremdsprachige Kinder hat. «So wird die Durchmischung natürlich nie besser, das ist schade», sagte sie.
Eine Aussage, die durch die Statistik bestätigt wird, wie wir danach berichteten. Daraufhin gab es einige Reaktionen – und auch sie waren sehr widersprüchlich, selbstverständlich. Während die einen Schweizer ihre Kinder nie und nimmer in eine Kleinbasler Schule schicken würden, äusserten sich andere begeistert, namentlich übers Bläsischulhaus. In den schwierigeren Schulen gebe es eben die besseren, die engagierteren Lehrer, schrieb einer. Die Bildungsbehörden rühmen ebenfalls die «topmotivierten Lehrer» und hoffen gleichzeitig auf die vielen Deutschen, die in den vergangenen Jahren ins Kleinbasel gezogen sind und nun möglicherweise bleiben – auch nach der Einschulung ihrer Kinder.
Problem Nummer 4: Immigration
Als «Klein-Istanbul» verschrien (BaZ) weisen die Kleinbasler Quartiere tatsächlich einen hohen Anteil an ausländischer Wohnbevölkerung aus (bis zu 50 Prozent). Allerdings sind es nicht Türken, die zahlenmässig die Mehrheit stellen – es sind die Deutschen.
Vor allem in den letzten zehn Jahren hat in Quartieren wie Matthäus und Clara ein deutlicher Wandel stattgefunden. Italiener und Türken ziehen weg, die Deutschen stossen hinzu. Das stellt auch schaurige Initiativen infrage, wie jene SVP-Petition, die fordert, städtische Wohnungen sollen nur noch an Schweizer gehen statt an angeblich schlecht integrierte Ausländer.
Der Transformationsprozess im Kleinbasel wird weitergehen: Im Hafen, auf der Erlenmatt und im Hirzbrunnen sind grosse Wohnbauprojekte im Gang, die nochmals für eine neue Durchmischung sorgen werden.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 17.08.12