Im Rahmen des diesjährigen «Culturescapes»-Schwerpunkts Moskau brach das Sinfonieorchester Basel vergangene Woche zu einer viertägigen Russlandreise auf. TagesWoche-Redaktorin Tara Hill durfte die Basler Delegation auf ihrer abenteuerlichen Exkursion nach St. Petersburg und Moskau begleiten. Lesen Sie hier den ersten Teil ihrer Russland-Reportage.
Es ist kalt in Petersburg. Offiziell mögen es «nur» ein paar Minusgrade sein – doch es sind nicht bloss die tiefen Temperaturen, die einen frösteln lassen. Die russische Kälte, welche die nördlichste Metropole der Welt prägt, ist subtiler, tückischer: Wie eine eisige Windbö durchdringt die bitterkalte Bise nach einer Weile auch Pelzmantel und Fellmütze, Mark und Bein, und breitet sich mit jedem Atemzug zunehmend unerbittlich bis in die Herzgegend aus.
Kein Wunder also, dass der kleinen Gruppe Basler, die sich am Montagabend dennoch für einen Nachtspaziergang ins Freie wagt, nur wenige Menschen begegnen: Einige Cliquen leichtbekleideter, junger Petersburger Schönheiten, mit Wodka und Zigarette bewaffnet, die sich den Weg ins Nachtleben bahnen. Grimmig aussehende Wächter, deren graue Militär-Parkas und mit Hammer- und Sichel-Emblem bestickte Mützen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten aufkommen lassen – Zeiten, als «Peter», wie die Stadt heute von ihren Bewohnern genannt wird, noch Leningrad hiess. Und zuletzt völlig verwitterte, unförmige Gestalten mit wettergegerbten Gesichtern und leeren Blicken, die ebenfalls Wodka trinken, aber offenkundig wenig zu feiern haben.
Auf russischem Glatteis ausgerutscht
Obwohl die Uhr erst kurz nach Mitternacht anzeigt, sind die Strassen am Ufer der Newa fast völlig verwaist. Einsam glimmen die bezaubernd schönen Fassaden der Eremitage, eines der wohl weltgrössten Kunstmuseen und das Wahrzeichen schlechthin im Zentrum der ehemaligen Zarenstadt, in den unwirklich milchigen Nachthimmel. Ein paar Stunden später werden die ersten Schneeflocken fallen.
Beim Versuch, ein Foto dieses hinreissenden Petersburger Panoramas zu schiessen, rutschen meine Stiefel übers Glatteis. George Monch fängt mich auf. «Are you all right?» fragt der Tuba-Solist des Basler Sinfonieorchesters besorgt – und fügt in seinem charmanten amerikanischen Akzent auf Schweizerdeutsch hinzu: «Lass uns ins Hotel zurück gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.»
Und was für einer! Gut eineinhalb Jahre nahmen die Vorbereitungen für diesen Dienstag in Anspruch, an dem eines der wohl aufwändigsten und ehrgeizigsten interkulturellen Austauschprogramme der letzten Jahre endlich Wirklichkeit werden soll: Das komplette, hundertköpfige Basler Sinfonieorchester ist als Botschafter der Kulturstadt Basel nach Russland gereist, um dort im Rahmen des «Culturescapes»-Festivals ein Auftragswerk des russischen Komponisten Raskatov uraufzuführen. Zunächst als Russland-Premiere in der weltbekannten Petersburger Philharmonie, tags darauf dann – getreu dem diesjährigen Festival-Schwerpunkt – in der Hauptstadt Moskau: So zumindest lautete der Plan.
Fast eine Bruchlandung – vor dem Start schon
Beinahe wäre das Projekt allerdings bereits im Vorfeld an administrativen Hürden, bürokratischen Hindernissen und schlichtem Pech gescheitert. Die rigiden russischen Sicherheitsvorkehrungen erschwerten die Visumsbeschaffung beträchtlich: Denn zusätzlich zum einzeln ausgestellten Spezialvisum für jeden Teilnehmer verlangten die Behörden, dass auch für jedes mitgeführte Instrument – insbesondere die wertvollen Streichinstrumente – vorab ein eigener Passierschein beantragt wird, auf dem neben Bild, Beschreibung und Besitzer auch der Schätzwert vermerkt ist. Dies soll verhindern, dass russisches Kulturgut aus dem Land geschmuggelt werden kann.
Während alle nötigen Papiere zwar erst kurz vor Abflugtermin, aber doch rechtzeitig und vollständig eintrafen, hätte Piloten-Zampano Moritz Suter der Basler Delegation dagegen fast im allerletzten Moment noch eine Bruchlandung beschert: Denn aufgrund des Groundings seiner Fluggesellschaft «Hello» blieb auch das nur drei Tage zuvor vollumfänglich bezahlte Flugzeug am Boden. Der sechsstellige Betrag für den Charterflug war unwiderruflich futsch, und hätte weder von Orchester noch Festival ein zweites Mal aufgebracht werden können. Um den drohenden Imageschaden bei einer Absage der beiden, bereits seit Wochen ausverkauften Gastspiele abzuwenden (und damit auch keinen Gesichtsverlust gegenüber den russischen Partnern zu riskieren), sprang schliesslich der Kanton notfallmässig in die Bresche und besorgte in letzter Sekunde eine tschechische Ersatzmaschine.
Wenig erstaunlich also, dass beim montäglichen Check-in am Euroairport bereits um sechs in der Früh die Erleichterung der Vorfreude Platz macht, und beinahe Schulreise-Stimmung unter den rund 120 Delegationsteilnehmern aufkommt. Umso mehr, als sich inzwischen herumgesprochen hat, dass man im legendären «Grand Hotel Europe» nächtigen wird, das selbst nicht nur zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Fünf-Millionenstadt zählt, sondern bis heute auch als bestes Hotel Russlands gilt.
Wenn der Zoll zum Prüfstein wird
Doch vor dem Genuss des geschichtsträchtigen Glamours jenes 135-jährigen Luxusgasthofs, der nicht nur Zaren, Könige und Präsidenten zu seinen Gästen zählte, sondern einst auch die heuer auf dem Konzertprogramm des Orchesters stehenden Komponisten Tschaikowski und Schostakowitsch beherbergte, muss die erste grosse Hürde überwunden werden: Der Zoll, wo man die Musiker und deren Instrumente mit Argusaugen mustert. So peinlich genau fällt die Kontrolle der Streichinstrumente aus, dass einige Orchestermitglieder nach der Ankunft im Grand Hotel statt in ihre Gemächer gleich zu ihrem ersten Auftritt in die nächste Fünf-Sterne-Herberge weitertransferiert werden – hier wartet nämlich bereits eine Gruppe mitgereister Schweizer Klassikfans auf ihr Privatkonzert.
Später, beim Abendessen in einem der vielen georgischen Restaurants der Stadt, dessen Kellnerin ihre rudimentären Englischkenntnisse mit ansteckenden Lachanfällen kompensiert und unverhohlen von manch angeblicher Spezialität auf der Speisekarte abrät, wird unter dem Dutzend Basler Orchestermitglieder Tacheles geredet: Über die Politik des Gastlands, die Pussy-Riot-Affäre, aber auch über mögliche Risiken und Probleme der anstehenden Exkursion. Denn trotz Tschaikowskis klassischer «Ouvertüre 1812» und der charmant augenzwinkernden Zugabe «Tea for Two» von Schostakowitsch: Der Programmschwerpunkt der Konzerte scheint manchem Orchestermitglied ein ziemliches Wagnis.
Das eigens für «Culturescapes» beim Moskauer Komponisten Alexander Raskatov in Auftrag gegebene Werk «Mysterium Magnum», ein über weite Strecken düster-opakes, 50-minütiges Epos über die Menschwerdung Gottes, das auf Schriften des Wahlbaslers Paracelsus zurückgreift, wurde zumindest bei der Welturaufführung im Basler Stadtcasino teilweise kontrovers aufgenommen. Während die einen die Uraufführung als mystisch-messianische Sternstunde bejubelten, monierten Kritiker, der Kompositionsauftrag sei zu monoton, monumental und theatralisch ausgefallen. Ex-Baudirektorin Barbara Schneider, die als Stiftungspräsidentin ihr Orchester begleitet, lässt sich nicht beirren und spricht den Mitgliedern, die sie allesamt persönlich kennt, Mut zu: «Ihr werdet das mit Bravour meistern», ist sie überzeugt.
Basler Vision trifft auf die harsche Realität einer ewigen Städterivalität
Mit ganz anderen Sorgen haben derweil die beiden Culturescapes-Mitarbeiterinnen Benita Ortwein und Valerie Keller zu kämpfen: Festivaldirektor Jurriaan Cooiman, der das Gesamtkonzept des Mega-Ereignisses bei der Medienkonferenz tags darauf der russischen Presse hätte vorstellen sollen, ist erkrankt und muss kurzfristig passen. Stattdessen versucht der frühmorgens eingeflogene Kulturchef Philippe Bischof in möglichst wenigen, klaren Sätzen die Kulturstadt Basel vor den fast 40 anwesenden Journalisten zu skizzieren, damit die Simultanübersetzung reibungslos funktioniert.
«City of Vision» lautet der leicht pompöse Titel der verteilten Faltprospekte, sowie eines von zwei HGK-Studentinnen gedrehten Kurzfilms übers Basler Kulturschaffen, der im Anschluss gezeigt wird. Der rasante Schnitt des kommentarlosen Trailers scheint für manche Medienvertreter allerdings etwas gar visionär – vor allem die älteren Semester im Raum schütteln den Kopf. Sie wollen lieber wissen, warum der abwesende Direktor dem Städterivalen Moskau als Gastregion den Vorzug gab.
«Sehen Sie Petersburg etwa als einen alternden, verarmten Adligen, der an Moskaus Krücken geht?», ruft ein weissbärtiger Herr in der ersten Reihe erzürnt. Bischof und SOB-Dirigent Dennis Russell Davies geben sich alle Mühe, die Wogen mit freundlichen Worten und launigen Anekdoten zu glätten, während Generalkonsul Steinmann seine persönliche Bindung zu den anwesenden Medienschaffenden herausstreicht, bis die vollen Reihen vor ihm wieder lächeln.
Beim anschliessenden Apéro wird so kräftig zugelangt, dass einige Basler Delegationsmitglieder scherzen, die hohe Besucherzahl hänge möglicherweise mehr mit dem üppigen Buffett denn mit der Kulturstadt zusammen. Die kritischen Blicke von Seiten einiger russischer Medienschaffenden stellen sich hingegen als harmlos heraus: Sie haben mich schlicht für eine Moskauerin gehalten. Als ich mich als Schweizer Journalistin vorstelle, werden mir sofort mehrere Visitenkarten zugesteckt. Ludmila Kaliasina vom Petersburger Jugend- und Ausgehmagazin «Palaces & Parks» will mich sogar unbedingt ihrer Redaktion vorstellen. Doch die Kommunikationsprobleme sind trotz ihrer fliessenden Englischkenntnisse kaum zu überbrücken, zu schwer verständlich klingt für unsere ungeübten Ohren der schnelle Petersburger Singsang.
Dostojewski und die russische Gretchenfrage
«Kennen Sie Puschkin? Tolstoi?», fragt sie schliesslich, und als ich bekräftigend nicke, fügt sie hinzu: «Was halten Sie von Dostojewski?» Höflich antworte ich, dass ich leider nicht viel von ihm gelesen habe, aber um seine Verdienste wisse. Offenkundig ein Affront: Ludmila verzieht das Gesicht ob der unerfreulichen Antwort auf ihre Gretchenfrage. «Dann beschäftigen Sie sich in der Schweiz also nicht viel mit Russlands Kultur?», hakt sie konsterniert nach. Ich widerstehe mit aller Kraft der Versuchung, den Namen Pussy Riot zu erwähnen. Sie sind patriotisch, die Petersburger – obwohl, oder vielleicht gerade weil ihr Nationalstolz noch immer unter der Zurückstufung der Zarenstadt zur Nummer Zwei im Land leidet.
Dass hier trotz des kommunistischen Erbes keiner freiwillig die zweite Geige spielt, zeigt sich auch kurze Zeit später in der gleich gegenüber dem Hotel liegenden Petersburger Philharmonie. Aufgrund der kyrillisch beschrifteten Einladungskarte und des spärlichen Englischs der Platzanweiser realisiere ich zu spät, dass mein Stuhl bereits besetzt ist. Energisch gestikulierend weist mich eine Dame an, mich auf den nächsten freien Platz zu setzen, bevor die lang erwartete Premiere beginnt. Doch weil der Abend bekanntlich längst ausverkauft ist, und bis zur letzten Sekunde noch Dutzende Gäste in den prunkvollen Musiksaal strömen, bleibt dieses Vergehen der rechtmässigen Inhaberin meines Sitzes natürlich nicht verborgen.
Im Gegenteil: Denn statt das Licht wie in der Schweiz bei Konzertbeginn zu dimmen, strahlen die riesigen Kronleuchter hier noch heller als zuvor, wie Scheinwerfer von der Decke. Und als ob jene Kombination gemeinsam mit dem russischen Heizstandard – der frei nach dem Motto «mindestens 30 Grad wärmer als die Aussentemperatur» zu funktionieren scheint, und deshalb spekulative Mutmassungen über eine mögliche politische Komponente beflügelt (oder zumindest eine subtile Korrelation zum Status des Landes als weltgrösster Gaslieferant aufweist) – mich nicht bereits genügend ins Schwitzen bringen würde, beschäftigt mich nun während der gesamten Dauer der dunkel brodelnden, atmosphärisch dichten Uraufführung von Raskatovs «Mysterium Magnum» zusätzlich die quälende Unsicherheit, ob die vernichtenden Blicke der benachbarten älteren Dame im Pelz tatsächlich mir gelten.
Ein Land und seine Extreme: Mentalität, Witterung, Wodka
Als die beklemmenden Anrufungen von Raskatovs Solisten Elena Vassilieva (Sopran) und Nikolai Didenko (Bass) endlich in die ersehnte Erlösung münden, und das etwas überwältigte Publikum langsam zum Applaus ansetzt, steht sie auch schon laut schimpfend vor mir. Dass ich leider kein Wort verstehe, lässt sie nicht gelten. Triumphierend hebt sie meinen über der Lehne (statt an der Garderobe) hängenden Mantel in die Höhe, den sie offensichtlich für den Beweis meines unrechtmässig erschlichenen Konzertbesuchs hält. Erst als ich wild mit meiner Einladungskarte fuchtle und meinen Pass zücke, stutzt sie, beginnt schliesslich aus voller Kehle zu lachen – und umarmt mich herzlich. Die russische Mentalität, stets schwankend zwischen Aggression und überbordender Zuneigung: so extrem wie die Witterung des Landes.
Zur Freude aller Anwesenden läuft das Sinfonieorchester im zweiten Teil zur Hochform auf. Bereits bei Stargast Yuri Bashmets bravourösem Solo während der Aufführung von Alfred Schnittkes Viola-Konzert gellen die ersten Bravo-Rufe. Nach der mit Verve gespielten Zugabe spendet das Publikum im offiziell nach dem «Tea for Two»-Komponisten benannten Schostakowitsch-Saal gar enthusiastischen Applaus. Dirigent Dennis Russell Davies trägt ein breites Grinsen im Gesicht, als er nach zig Verneigungen die Bühne verlässt.
Beim anschliessenden Empfang im Grand Hotel hat sich die Anspannung in Euphorie verwandelt, und der Erfolg wird nicht nur mit unzähligen Toasts, sondern traditionsgemäss auch mit reichlich Wodka begossen. Da innerhalb des Orchesters Einigkeit herrscht, dass die Ehre (nicht nur dank Weltklasse-Bratschist Yuri Bashmet) an diesem Abend speziell den oft als übungsfaul und minderbegabt gescholtenen Bratschisten gebührt, machen liebevolle Seitenhiebe, Sprüche und Komplimente die Runde – und hinter vorgehaltener Hand liefert einer der Anwesenden mit dem folgenden Bratschenwitz auch gleich noch einen Kommentar zur angespannten politischen Situation Russlands: «Warum ist eine Bratsche eine perfekte Mordwaffe? Man findet auf ihr keine Fingerabdrücke.»
Teufelsbratschist trifft Oligarch
Natürlich seien dies allesamt nur «blöde Klischees und bösartige Vorurteile», erklärt mir später Aleksander Uszynski, einer der Solo-Bratschisten des Sinfonieorchesters, der von seinen Kollegen wahlweise als «Viola-Gott» oder «Teufelsbratschist» bezeichnet wird. In Wirklichkeit musste der grossgewachsene Pole, der bereits als Kleinkind leidenschaftlich Geige spielte, wie viele seiner Kollegen als Teenager von der Violine zur Bratsche wechseln, da seine Finger zu voluminös geworden waren. Bereut hat der Wahlbasler, der mittlerweile mit «Vier Jahreszeiten Riehen» auch ein eigenes Festival organisiert, den Wechsel zur Bratsche nie: «Ich liebe ihren Klang bis heute», schwärmt er.
Als wir weit nach Mitternacht an der exklusiven Bar der Hotellobby endlich die Rechnung bestellen, drängelt sich ein augenscheinlich angetrunkener Russe mittleren Alters an uns vorbei und herrscht die Kellnerin an, gefälligst sein Whiskey-Glas anständig aufzufüllen. Uszynski, der fliessend Russisch spricht, greift ein. Zunächst irritiert, zeigt sich der Mann kurz darauf überraschend interessiert, setzt sich unerwartet zu uns – und lässt sofort eine Flasche Edelchampagner kommen.
Er heisse Andrei, erzählt er, mit Nachnamen wie die bekannte Wodka-Marke, und habe «sowieso viel zu viel Geld», weshalb wir auf seine Kosten trinken sollen. Die dankende Ablehnung akzeptiert er keineswegs – er sei schliesslich kein Gauner, sondern geschäftlich hier und wolle bloss mit uns seinen Feierabend geniessen. Die Visitenkarte, die er uns daraufhin aushändigt, weist ihn als «Executive Vice-President» eines zentralen Gazprom-Zweigs aus.
«Sind Sie ein Oligarch?», rutscht mir die brennende Frage (von mehreren Wodka-Gläschen befeuert) spontan heraus. Er lächelt nur vielsagend. 13 Trillionen würden über seinen Schreibtisch gehen, antwortet er nach einer Weile und lacht laut. Dann zückt er sein iPhone und zeigt uns Bilder seiner bildhübschen Frau, seiner vier Söhne und seines Landguts nahe einem Luxusferienort am Mittelmeer. Zwei Whiskeys später spendiert er bereits der ganzen Bar eine Runde – «ablehnen verboten», wie er freundlich, aber nachdrücklich betont.
Trinken auf den Frieden – und die Atom-U-Boote
Auf sein Geheiss trinken also mitten in der Nacht ein Dutzend übermüdete Orchestermitglieder im «Grand Hotel Europe» auf «Mir», auf die Welt, und auf den Frieden, kurz: den Weltfrieden – «denn das ist mein grösster Wunsch auf dieser Welt», wie Andrei in einer emotionalen Ansprache verkündet. Und falls dieser Wunsch nicht in Erfüllung geht? «Ich habe keine Angst. Ich erzähle meinen Söhnen jeden Tag, dass Russland die grösste Nation der Welt ist. Niemand kann uns besiegen. Niemand weiss, wieviele Atom-U-Boote wir versteckt haben.»
Er lacht wieder, als hätte er nur einen Witz gemacht. Wir lachen etwas unsicher mit. Dann hat Andrei plötzlich einen Geistesblitz – und ruft einen polnischen Freund an. Als dieser völlig verschlafen abnimmt, reicht er das Telefon sogleich an Aleksander weiter: «Hier, sprich mit deinem Landsmann! Ihr werdet euch bestimmt bestens verstehen!»
Während Uszynski dem polnischen Freund erklärt, wer er ist, driftet Andreis Blick wieder zurück zur Bar, schweift schliesslich vollends in die Ferne. «Ich möchte ein guter Mensch sein», murmelt er nach einer langen Pause. «Aber das bist Du doch sicherlich!», versuche ich ihn zu beruhigen. Doch er schüttelt nur den Kopf. «I tried», fügt er nach einer weiteren Pause hinzu: «I really tried.» Dann bestellt er noch einen Whiskey. Als ich mich nach einer gefühlten Ewigkeit zu verabschieden versuche, hält er meinen Arm fest: «Wo willst Du hin? Nach Hause? Ich warne dich: Es ist kalt da draussen.»
Tatsächlich, es ist kalt in Petersburg. In den frühen Stunden dieses Mittwochmorgens, wo der erste Pulverschnee des Jahres fällt, sinkt die Temperatur gerade nochmals um ein paar Grad mehr.
Lesen Sie im zweiten Teil, welche schwerwiegenden Folgen die wodkaselige Nacht des Basler Sinfonieorchesters nach sich zieht, warum 100 Musiker samt Instrumenten dank Premierminister Medwedew am Flughafen stranden, damit ihr Konzert des Jahres zu verpassen drohen – und warum Moskau auch am Ende der abenteuerlichen Reise ein Mysterium bleibt.