«Das sind die Kinder der Eltern, die kein Geld für Brot haben»

Seit Tagen gehen die Bosnier auf die Strasse. Jahrelanger Frust über niedrige Gehälter, Arbeitslosigkeit und Korruption entlädt sich. Viele Demonstranten sind aber auch unzufrieden mit den politischen Dauer-Blockaden im multi-ethnischen Bosnien.

An anti-government protester holds a placard, which reads: "No more talking, now I take action", in front of a government building in Tuzla February 7, 2014. Protesters across Bosnia set fire to government buildings and fought with riot police on Friday a (Bild: Dado Ruvic)

Seit Tagen gehen die Bosnier auf die Strasse. Jahrelanger Frust über niedrige Gehälter, Arbeitslosigkeit und Korruption entlädt sich. Viele Demonstranten sind aber auch unzufrieden mit den politischen Dauer-Blockaden im multi-ethnischen Bosnien.

Ein junger Mann in der bosnischen Stadt Tuzla trägt einen Pullover mit der Aufschrift: «Wir sind keine Hooligans». Er will sich damit von den gewalttätigen Demonstranten distanzieren, die in den vergangenen Tagen Autos und Verwaltungsgebäude angezündet haben. «Ich bin gegen die Randalierer, aber es ist wichtig, dass die Menschen auf der Strasse sind. Sie nennen Tuzla eine Arbeiterstadt, aber wer bitte hat denn hier Arbeit?».

Seit Tagen gehen die Menschen in Bosnien-Herzegowina auf die Strasse. Jahrelang hat sich ihr Zorn gegen Korruption und Vetternwirtschaft aufgestaut. Als nach der Privatisierung eines Staatsunternehmens in Tuzla etwa 1000 Bosnier arbeitslos wurden, lief das Fass über. Die Proteste, die vor einer Woche in der drittgrössten Stadt Bosniens begannen, haben sich im ganzen Land ausgebreitet. In mehreren Städten wurden Regierungsgebäude und Parteizentralen angegriffen und in Brand gesteckt.

Innenminister zeigt Verständnis

Innenminister Fahrudin Radoncic reagierte überraschend verständnisvoll. «Das sind die Kinder der Eltern, die kein Geld für Brot haben», sagte er nach den Ausschreitungen. Bosnien ist eines der ärmsten Länder Europas. Offiziellen Daten zufolge liegt das Durchschnittsgehalt bei 420 Euro im Monat. «Die meisten Menschen verdienen aber tatsächlich 250, vielleicht 300 Euro im Monat», sagt Vuk Bacanovic aus Sarajevo. Der 31-jährige Journalist geht in der Hauptstadt Sarajevo jeden Tag auf die Strasse.

Fast jeder zweite Bosnier ist arbeitslos, viele arbeiten Monate oder jahrelang, ohne überhaupt ein Gehalt zu bekommen. «Die Menschen sind auf der Strasse, weil es unmöglich geworden ist, in Würde zu leben», sagt Bacanovic.

Von Europa im Stich gelassen

Viele Bosnier fühlen sich aber nicht nur von der eigenen Regierung, sondern auch von Europa im Stich gelassen. Während das Nachbarland Kroatien Mitte vergangenen Jahres der EU beitrat und auch Serbien nun mit Brüssel über den Beitritt verhandelt, ist die EU für Bosnien in weite Ferne gerückt. Ende Dezember strich die EU-Kommission Hilfsgelder in Höhe von 45 Millionen Euro, um die mangelnde Reformbereitschaft der nationalistischen Parteien in Bosnien zu sanktionieren.

Der Volkszorn richtet sich auch gegen die lähmenden bürokratischen Strukturen im Land. Die Republik Bosnien-Herzegowina ist in den autonomen Distrikt Brcko und in zwei Entitäten, die serbische Republik und die kroatisch-bosniakische Föderation, geteilt. Die kroatisch-bosniakische Föderation wiederum besteht aus zehn Kantonen.

Bürokratische Hürden

Im vergangenen Sommer starb ein schwerkrankes neugeborenes Mädchen, weil es aufgrund der bürokratischen Hürden keinen Pass erhielt und nicht rechtzeitig zur Behandlung ins Ausland gebracht werden konnte. Bereits damals gingen die Menschen auf die Strasse.

Eine Organisation, die sich an den Protesten beteiligt, ist «Udar». Im Zentrum ihrer Forderungen stehen die Abschaffung der Vergabe von politischen Positionen nach ethnischem Proporz, sowie die Abschaffung der Kantone und der beiden Entitäten.

«Viele stellen Forderungen, aber es gibt keine geschlossene Protestbewegung», sagt der Demonstrant Vuk Bacanovic. Das Land ist gespalten: In den bosniakischen Kantonen kommt es täglich zu grossen Protesten. Im Zentrum stehen Städte wie Sarajevo, Tuzla und Zenica. In den kroatisch- und serbisch dominierten Landesteilen kommen dagegen nur wenige Demonstranten zusammen. Insbesondere die serbischen Nationalisten verweigern eine stärkere Integration in den bosnischen Gesamtstaat.

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