Die Neat ist ein spektakuläres Bauwerk. Doch was geschieht nach der Eröffnung des neuen Gottharddurchstichs mit der alten Bergstrecke?
Wunder vom Gotthard – damit ist nicht gemeint, dass es für einmal über die Ostertage keinen Stau vor dem Strassentunnel gehabt hätte. Mit dem Wunder vom Gotthard ist auch weder die sagenhafte Teufelsbrücke und noch die wirklich sensationelle Neat-Röhre gemeint. Sondern jenes Bauwerk, das wegen dieser Röhre je nach Betrachtung als überflüssig oder mindestens vernachlässigbar eingestuft wird: die alte, 1882 eingeweihte Bergstrecke.
Auch bei der bestehenden Gotthardbahn denkt man zuerst an den mit seinen 15 Kilometern vorübergehend längsten Tunnel der Welt. Sicherlich ein beachtliches Werk, übersehen wird dabei aber gerne, dass die Zufahrten mit ihren vielen Kehrtunnels und Brücken ebenfalls allergrösste Anerkennung verdienen – etwa indem man sie ins Unesco-Weltkulturerbe aufnähme. Dieser Vorschlag wurde schon 2007 lanciert, als man 125 Jahre Gotthardstrecke feierte. Dieser Tag ging der Bundesrat allerdings auf Distanz – er fürchtet die Verbindlichkeiten, die der Status als Weltkulturerbe am Gotthard nach sich ziehen würden.
Der Gotthard beginnt in Basel
In der Primarschule haben wir gelernt, dass der Gotthardpass gewissermassen in Basel beginne – mit der um 1225 erbauten Rheinbrücke. Inzwischen ist das umstritten, weil der Passverkehr am Gotthard schon vor dem Brückenbau in Basel wichtig war. Die Überwindung der Schöllenen mit dem Brückenbau in Uri um 1230 könnte man als «Basler Fortsetzung» verstehen.
Wie auch immer, Basel gehört seit bald 150 Jahren zum Club der Gotthard-Kantone, der die Förderung der Nord-Süd-Eisenbahnverbindung bezweckt. Darum hatte Regierungsrat Hans-Peter Wessels im vergangenen Herbst in Altdorf einen staatsmännischen Auftritt, als er eine Expertentagung über das Schicksal der alten Gotthardlinie besuchte.
Die Neat durchquert die Zentralschweiz, doch sie ist ein Werk der ganzen und für die ganze Schweiz. Und sie ist ein Projekt, auf das die ganze Schweiz stolz sein könnte. Das Jahrhundertwerk verwirklicht mit seinen 57 Kilometern den – im Moment – weltlängsten Tunnel. Die 25 Millionen Tonnen Gesteine, die aus dem Berg herausgeholt worden sind, könnten einen Güterzug in der Länge von Zürich bis nach New York füllen. Was das Werk tatsächlich kosten wird, weiss man erst, wenn es einmal fertiggestellt ist, die Rekordzahlen bewegen sich zwischen 14 und 24 Milliarden Franken, was so oder so unvorstellbar viel ist.
Ein Werk der ganzen Schweiz
Nie zuvor in der Geschichte des Bundesstaates hatte der Souverän über einen so hohen Ausgabenposten abgestimmt. Das wurde schon 1991 im Hinblick auf des erwartet Referendum und die Abstimmung vom September 1992 bemerkt. Darum darf neben der Ingenieurleistung im Berg auch die politische Leistung gewürdigt werden, die das Gemeinschaftswerk durch alle Untiefen der (an sich legitimen) Regionalansprüche pilotiert hat. Die Kosten für die den Lötschberg und den Gotthard kombinierende Lösung wurden damals auf rund 10 Milliarden Franken veranschlagt und mit gegen 64 Prozent Ja-Stimmen im September 1992 abgesegnet.
Auch zur alten Eisenbahnlinie gab es seinerzeit, weil eine Nachfinanzierung von 6,5 Millionen Franken nötig war, 1878/79 eine Abstimmung, allerdings nur in den eidgenössischen Räten. In beiden Fällen blieb die öffentliche Beachtung hinter der Bedeutung der Werke zurück.
Alt kann mehrfaches bedeuten: nicht mehr brauchbar und darum auszurangieren oder antik, historisch und deshalb besonders wertvoll.
Anders als im Falle der alten Gotthard-Eisenbahn wird die Neat nicht von benachbarten Staaten mitfinanziert. Wer meinte, dass diese Linie vor allem für «andere» gebaut würde, bedauert dies und würde gerne die EU zur Kasse bitten. Die Schweiz wählte aber den autonomen Weg. Obwohl die Arbeitskräfte und das Know How nicht ausschliesslich aus der Schweiz stammen, darf das Projekt doch als schweizerisch gelten.
Die Bergstrecke – ausrangieren oder erhalten?
Die Schweiz darf stolz sein auf die Neat. Wünschenswert und nötig wäre es, wenn der diesem Projekt zugrunde liegende Pioniergeist auch auf andere Politikbereiche ausstrahlen würde und dem ganzen Land zu etwas mehr Ambition, Realisationswillen und Zuversicht verhelfen würde. Etwa bei der Raumplanung, beim Stipendienwesen, der Endlagerproblematik oder bei einer nächsten Expo in den 2020er Jahren.
Mit der Schaffung einer neuen Bahn wird die bestehende, so wichtig sie war, zu einer alten Bahn. Alt kann mehrfaches bedeuten: nicht mehr brauchbar und darum auszurangieren oder antik, historisch und deshalb besonders wertvoll.
Als die alte Bahn noch neu war, hat der Baselbieter Schriftsteller und spätere Literatur-Nobelpreis-Träger Carl Spitteler 1897 (vielleicht sogar in einem bezahlten Auftragswerk) einen Hymnus verfasst, nicht auf den Gotthard-Olymp, sondern auf das neue Bauwerk – publiziert in einem beinahe trivialen Eisenbahnbuch mit eingelegter Karte zur Linienführung. Er sinnierte in gotischer Schrift, dass hier der Reisende nicht eine bestimmte Destination, sondern «die Gesamtsstrecke» zum Ziel nehme. Der Gotthard bleibe vor allem ein Weg. Hauptsächlich zum Gütertransport gebaut, wurde die Bahn (und mit ihr die Schweiz) in jener Zeit dem grossen internationalen Publikum zusätzlich als touristische Attraktion näher gebracht.
Wassen: ein neuer Wallfahrtsort
Die so genannte Bergstrecke der Gotthardbahn behält ihren Wert in dreifacher Hinsicht: einmal als unverzichtbare Ausweichroute, wenn unten eine Blockade eintritt; dann als Route für den Regionalverkehr zwischen Flüelen und Biasca mit den Anschlussmöglichkeiten zu den grossen Zentren im Norden und im Süden (die Bahn schätzt die Nachfrage auf 600 Passagiere pro Tag); und schliesslich als historisches Werk (Stichwort: Kulturerbe), das in Kombination mit der landschaftlichen Attraktivität ein wichtiges Kapital für den Tourismus ist. Der dritte Aspekt ist auch für das aufgewertete Hochtal von Andermatt und die schon jetzt wichtige Ost-West-Achse (Glacier-Express) von Bedeutung.
Wenn man von Wassen (Stichwort: «Kirchli») aus, das einen neuen Wallfahrtsort bilden kann, die vorbeifahrenden Züge beinahe wie in einer Spielzeuganlage beobachten kann, dann entsteht ein Eindruck, den der internationale Tessiner Kulturwissenschaftler Pietro Bellasi 1995 so beschrieben hat: «Die sich schlängelnde, weite Kurven beschreibende und sanft den Berg emporsteigende Eisenbahn bricht die Dramatik der Landschaft, verleiht ihr eine gewisse Gelassenheit, eine Art helvetische Normalität. Die überbordende Natur wird geglättet, der uns eigenen Mentalität angepasst.»
Wer gibt die Richtung vor am Gotthard?
Kürzlich sind in Altdorf Vertreter von interessierten Institutionen und Behörden zum ICOMOS-Tag des Denkmals zusammengekommen, um die Zukunftsvorstellungen zur Verkehrslandschaft am Gotthard zu präsentieren und zu diskutieren. Dabei waren für den Beobachter neben dem grossen Interesse, das dieser Frage entgegengebracht wurde vor allem zwei Phänomene bemerkenswert:
Aus der Befürchtung, (noch mehr) eine abgehängte Region zu werden, meint man am Gotthard, nicht genug tun zu können, um möglichst viele Touristen zu bekommen (sicher auch aus der Ostschweiz). Obwohl man natürlich beteuert, wie das heute Pflicht ist, dass alles nachhaltig sein müsse, könnte beim Einsatz für eine möglichst goldene Zukunft, plötzlich des Guten zuviel zusammenkommen – wie es etwa Zermatt geschah.
Die Vielzahl der Interessierten und entsprechend auch der Interessen führt nicht automatisch zu einer aufsummierten Stärke. Dies nicht darum, weil die Interessen in verschiedene Richtungen ziehen würden, das nicht, aber trotzdem wächst damit das Problem der Koordination und Synchronisation. Und es ist vor allem unklar, wer vorangehen soll. Konsens ist immerhin, das der so genannte Lead bei den Kantonen Uri und Tessin liegt und diese sich mit dem Bund und den SBB zusammensetzen müssen. Und das ohne Zeitverzug. Denn die geplante Fertigstellung der NEAT erfolgt im Dezember 2016 – sozusagen bereits übermorgen.