Der andere Freisinn

Claudine Esseiva, Generalsekretärin der freisinnigen Frauen, gibt der progressiven FDP alter Schule eine Stimme.

«Man muss mich nicht gerne haben. Aber man muss mich respektieren.» Claudine Esseiva, Generalsekretärin der FDP-Frauen. (Bild: Ruben Wyttenbach)

Claudine Esseiva, Generalsekretärin der freisinnigen Frauen, gibt der progressiven FDP alter Schule eine Stimme.

Ausgerechnet. Ausgerechnet die mit ihren Brüsten. Was meint die denn? Zuerst blank ziehen und danach andere belehren?

Claudine Esseiva (34), Gene­ralsek­re­tärin der FDP-Frauen, wird die Geister nicht mehr los. Genauer: Sie wird den Balken nicht mehr los, mit dem sie vor zwei Jahren auf einem Plakat ihr Décolleté verhüllte.

Nach der ersten Episode, der Kritik der Präsidentin der FDP-Frauen Carmen Walker Späh an den nackten Brüsten in einer Werbung für die Flumserberge, schrieb die NZZ: «Haben die FDP-Frauen bessere Argumente? Claudine Esseiva, die sich mit nackten Tatsachen für den Nationalrat empfahl, wurde jedenfalls nicht gewählt.» Esseiva schrieb in der «Weltwoche» zurück: «Der Unterschied zwischen Sexismus und selbstbestimmter Koketterie mit der eigenen weiblichen Sexualität scheint nicht überall geläufig zu sein.»

Die mit dem Balken

Nach der zweiten Episode, der Verortung der deutschen Aufschrei-Debatte in der Schweiz (auch hier war Esseiva massgeblich beteiligt), war die Reak­tion noch giftiger. Ausgerechnet. Ausgerechnet die.

«Nicht mehr oben ohne» stand vor zwei Jahren über dem Balken auf dem Plakat und sollte auf den Mangel an weiblichen Führungskräften in der Wirtschaft aufmerksam machen. An diesem Mangel hat sich seither nichts geändert, geblieben ist die Themenführerschaft der FDP-Frauen für mehr Frauen auf der Chefetage und ein Bild: Claudine Esseiva mit verschränkten Armen über der Brust. An diesem Bild wird sie immer noch gemessen.

Darum die Frage: «Warum müssen ausgerechnet Sie sich über Sexismus im Bundeshaus und in Fernsehwerbung beklagen? Und das nach diesem Plakat?»

«Haben Sie denn meinen Text in der ‹Weltwoche› nicht gelesen?», fragt Esseiva leicht genervt. Sie sitzt im Café der Buchhandlung Stauffacher in Bern und hat das Büro nicht ganz hinter sich gelassen. Ihr iPhone klingelt oft, verschiedene Töne künden eingehende Nachrichten an. Es war ein langer Tag, die Abstimmungen sind ja bald, viele wollen etwas von ihr.

Und das ist der entscheidende Punkt an der Balken-Geschichte – heute interessiert die Öffentlichkeit nicht mehr nur der von Esseiva betonte­ Unterschied zwischen selbstbestimmter Sexualität (dem Oben-ohne-Bild) und dem Sexismus alter Männer. Heute interessiert Esseiva selbst. Sie hat die Aufmerksamkeit, die ihr (und den FDP-Frauen) das ­Balken-Bild seit zwei Jahren beschert, dazu genutzt, eine Stimme der FDP zu werden.

Es ist jene Stimme des progressiven Freisinns alter Schule, die beim aktuellen Rechtskurs der Partei und ihrem Präsidenten Philipp Müller immer öfter unterzugehen droht. «Verschiedene Meinungen gab es schon immer in der FDP», sagt Esseiva, «die Meinungsvielfalt gehört zur liberalen Streitkultur. Christian Wanner hat mir einmal gesagt, damit eine Partei fliegen könne, brauche sie einen linken und einen rechten Flügel.» Sie empfinde Respekt für beide Seiten.

Ob dieser Respekt beidseitig ist, darf bezweifelt werden. Präsident Müller will mit dem Hinweis, Esseiva sei eine Angestellte des Generalsek­retariats, keine Stellung zu ­ihren po­litischen Ideen nehmen.

An einem Traum gekratzt

Ja, Esseiva hat sich mit ihrem Beitrag zur ­Sexis­mus-Debatte und ihrem Enga­gement für ein Ja bei der Ab­stimmung über den Familienartikel in der eigenen Partei keine Freunde ­gemacht. Die Reaktionen seien heftig ­gewesen – auf beiden Seiten, sagt sie, «aber damit muss man rechnen, wenn man sich traut, ein heikles Thema zu benennen».

Heikel ist das Thema, weil Esseiva wagt, an einem kleinbürgerlichen Traum zu kratzen. Dem Traum von der glücklichen Kleinfamilie und dem ­damit (nicht laut ausgesprochenen) verbundenen Rollenmuster. Die Frau zu Hause bei Herd und Kind, der Mann im Büro. Erschreckend sei, wie viele junge Männer diese Vorstellung eines guten Lebens unter alten Vor­zeichen immer noch in sich trügen. «Darum braucht es Feministinnen wie mich.» Um «Awareness» zu schaffen, wie sie sagt. Um darauf hinzuweisen, dass auch ein Mann wie Bastien Girod vor nicht allzu langer Zeit nackt für ein Wahlplakat posierte, was aber heute niemanden mehr zu stören scheint. Dass Frauen mit viel Energie (Feu sacré!) gerne als hysterisch hingestellt würden. Dass die Verein­barkeit von Beruf und Kindern – eine alte Forderung der FDP-Frauen – heute noch ein unerfüllter Wunsch sei. Dass wir immer noch alte Bilder und alte Argumente pflegen. «Bei der Einführung der AHV und der Einführung des Frauenstimmrechts haben die Gegner genau gleich getönt wie heute bei der Einführung des ­Familienartikels.»

Claudine Esseiva schaut jetzt nicht mehr auf ihr Telefon, sie hat sich ins Feuer geredet. «Man muss mich nicht gerne haben. Aber man muss mich ­respektieren», sagt sie, und im nächsten Moment, «aber natürlich ist das nicht immer einfach.» Der Vorwurf der Karrieregeilheit, die Flüstereien wegen des Balken-Bilds, die abschätzigen Blicke. «Das geht nicht spurlos vorbei.»

Es gibt aber auch andere Stimmen. Vor einem Jahr hat sie sich im «Sonntagsblick» dazu bekannt, abgetrieben zu haben. Sie hat daraufhin berührende Briefe von älteren Damen er­halten, auch aus dem tiefkatholischen Freiburg. «So etwas gibt mir Kraft für ein ganzes Jahr.»

Und auch innerhalb der Partei ­erhält sie Unterstützung. Beispielsweise vom Solothurner Regierungsrat Christian Wanner. Er sagt: «Ich finde die Frau super. Solche Leute tun der FDP gut.»

Quellen

Website von Claudine Esseiva.

Carmen Walker Späh, Präsidentin der FDP-Frauen, kritisiert auf «20 Minuten Online» den Werbespot der Flumserberge.

Artikel der NZZ zur Kritik der FDP-Frauen am Werbespot der Flumserberge.

Artikel von Claudine Esseiva in der «Weltwoche» zum Thema Sexismus.

Die «Nordwestschweiz» über die Einschweizerung der deutschen «Aufschrei-Debatte».

Die «Balken-Kampagne» im «Tages-Anzeiger».

Porträt von Esseiva in der Schweizer Ausgabe der «Zeit».

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 22.02.13

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