Der Aufstieg von Erdogan führt sein Land an einen Scheideweg

Tyyip Erdogan ist zum neuen türkischen Staatspräsidenten vereidigt worden. Wohin steuert er die Türkei? Gibt es für das Land noch eine europäische Perspektive? Eine Analyse von unserem Korrespondenten.

Turkey's Prime Minister Tayyip Erdogan greets his supporters upon arriving at the Extraordinary Congress of the ruling AK Party (AKP) to choose a new leader of the party, ahead of Erdogan's inauguration as president, in Ankara August 27, 2014. Turkish pre (Bild: POOL)

Am Donnerstag istTyyip Erdogan zum neuen türkischen Staatspräsidenten vereidigt worden. Wohin steuert er die Türkei? Gibt es für das Land noch eine europäische Perspektive? Eine Analyse von unserem Korrespondenten.

Seine erste Auslandsreise als türkischer Staatspräsident unternimmt Recep Tayyip Erdogan am kommenden Montag ins türkisch besetzte Nordzypern. Zwei Tage darauf fliegt er nach Aserbaidschan. Danach nimmt er am Nato-Gipfel in Wales teil – immerhin. Brüssel steht aber vorerst nicht auf dem Reiseplan des neuen Präsidenten. Das ist eine deutliche Ansage. Schon als Premierminister liess sich Erdogan in den vergangenen fünf Jahren nur ein einziges Mal bei der EU blicken, obwohl sein Land ein Beitrittskandidat ist. Doch Erdogan führt sein Land weg vom Westen.

Viele sahen in der Türkei ein Modell für die gelungene Synthese von Islam und parlamentarischer Demokratie. Man traute Ankara sogar die Rolle einer regionalen Führungsmacht zu, die als Makler bei der Lösung von Konflikten helfen könnte. Aber Erdogan hat diese Chance verspielt. Durch den einseitigen Schulterschluss mit der radikal-islamischen Hamas und den Muslimbrüdern bei gleichzeitigem Bruch mit Israel machte er sein Land vom Vermittler zur Konfliktpartei.

Erdogan hat die Chance verspielt, die Türkei zu einer Führungsmacht zu machen.

Mit Erdogans Aufstieg ins Amt des Staatspräsidenten steht die Türkei an einem Scheideweg. In seinen ersten Jahren als Premierminister galt Erdogan als ein Vorkämpfer demokratischer Reformen. Sie öffneten dem Land die Tür zu Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Jetzt zeigt sich Erdogan als ein zunehmend autoritärer Herrscher, der die Justiz an die Kette zu legen und jede Kritik im Keim zu ersticken versucht. Mit einer europäischen Perspektive ist dieser Weg unvereinbar. Dabei braucht Europa, braucht der Westen jetzt angesichts der chaotischen Entwicklungen im Nahen Osten mehr denn je eine Türkei, die ein zuverlässiger Verbündeter und ein Stabilitätsanker in der Region ist.

Doch die Türkei wird durch ihre inneren Konflikte geschwächt. Erdogan wird Präsident eines gespaltenen Landes. Jeder zweite hat ihn gewählt, die andere Hälfte aber eben nicht. Erdogan polarisiert. Anhänger und Gegner des neuen Präsidenten stehen sich unversöhnlicher denn je gegenüber. Die islamische Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP versucht, den Bürgern ihre religiös geprägten Normen und Werte aufzuzwingen – mit Alkoholverboten, verschärften Abtreibungsgesetzen, Kussverboten in der Öffentlichkeit und Geschlechtertrennung an den Stränden. Und Moralpredigten wie denen des Regierungssprechers Bülent Arinc, der es «unkeusch» findet, wenn türkische Frauen in der Öffentlichkeit lachen oder lange Handy-Telefonate führen.

Erdogan vertiefte die Spaltung der Gesellschaft, als er während der Massenproteste die Demonstranten als Terroristen dämonisierte. Auf die Korruptionsvorwürfe reagierte er mit Säuberungen im Polizeiapparat, um die Ermittlungen abzuwürgen, und mit einer Hexenjagd auf die Gefolgsleute des Reform-Predigers Fetullah Gülen, den er als Drahtzieher hinter der Affäre vermutet.

Erdogan zeigt sich zunehmend autoritärer Herrscher, er versucht die Justiz an die Kette zu legen und jede Kritik im Keim zu ersticken.

Der scheidende Präsident Abdullah Gül verabschiedete sich mit mahnenden Worten. Er habe sich stets bemüht, eine Polarisierung der Gesellschaft zu vermeiden, habe für den Rechtsstaat sowie die Unabhängigkeit der Justiz gearbeitet und die Bedeutung der Gewaltenteilung für die Demokratie betont, sagte Gül in seiner Abschiedsrede.

Kein Wunder, dass Erdogan seinen einstigen politischen Weggenossen jetzt politisch kaltstellte. Für unabhängige Geister wie Gül ist in der «Neuen Türkei», von der Erdogan jetzt immerzu redet, offenbar kein Platz.

Für unabhängige Geister wie Gül ist in der «Neuen Türkei» kein Platz.

Die Rede seines Vorgängers Gül kann sich der neue Präsident hinter den Spiegel stecken. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Konsens: Genau dies sind die Themen, auf die es nun ankommt. Ihre Behandlung wird darüber entscheiden, ob sich die Türkei unter Erdogan zu einem autoritären Staat entwickelt oder auf den Weg der demokratischen Reformen zurückkehrt.

Wer weiss, vielleicht wächst Erdogan ja im neuen Amt über sich selbst hinaus. Vielleicht besinnt er sich als Staatschef doch noch auf die demokratische Tugend der Toleranz und die europäische Perspektive seines Landes. Sehr wahrscheinlich ist es nicht, aber zu wünschen – der Türkei und ihren westlichen Partnern.

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