Der Auserwählte

6500 Exil-Tibeter leben heute in der Schweiz, Migmar Raith war einer der ersten. Damals freute sich die Schweiz über die Neuankömmlinge, heute erschwert ein neues Gesetz ihre Aufnahme.

Der 57-jährige Migmar Raith kam als 4-jähriger nach Basel. Noch heute besucht er regelmässig seine Tante in Indien. (Bild: Samanta Siegfried)

6500 Exil-Tibeter leben heute in der Schweiz, Migmar Raith war einer der ersten. Damals freute sich die Schweiz über die Neuankömmlinge, heute erschwert ein neues Gesetz ihre Aufnahme.

Es war das Jahr 1957, als Migmar Raith in Tibet zur Welt kam. Der genaue Tag bleibt unbekannt. Zwei Jahre später floh er mit seiner Familie und zehntausend anderen Landsleuten vor der chinesischen Besatzungsmacht, dem Dalai Lama hinterher.

Migmar Raith wird sich später nur noch an Taschenlampen erinnern, die den Weg über den Himalaya beleuchteten. Mit seinem Vater und seinen Grosseltern erreichte er schliesslich Indien. Mutter und Geschwister verloren sie auf der Flucht. Wie viele andere Flüchtlinge, fand sein Vater Arbeit im Strassenbau.

Migmar Raith wird es später Glück nennen, dass er unter den vielen Flüchtlingskinder ausgewählt und in einem Pflegeheim in Dharamsala untergebracht wurde. Denn sein Vater hatte nur wenig Zeit, sich um ihn zu kümmern.

Kurz darauf wurde Raith nochmals ausgewählt. Ganz zufällig, wie er sagt. Doch diesmal sollte die Reise weit weg führen von seiner Heimat: In die Schweiz, genauer nach Basel. Es war das Jahr 1961, Migmar Raith war vier Jahre alt.

Oltner holte 158 tibetische Kinder

Grund war ein ein Abkommen zwischen Charles Aeschimann, einem reichen Industriellen aus Olten, und dem 14. Dalai Lama: Aeschimann bot dem geistlichen Oberhaupt an, tibetische Waisenkinder in die Schweiz zu holen und bei ausgesuchten Pflegefamilien unterzubringen.

Die Kinder sollten hier eine gute Ausbildung geniessen und später wieder nach Indien zurückkehren. Mit dieser Privataktion kamen insgesamt 158 tibetische Kinder in die Schweiz. Es waren die ersten aussereuropäischen Flüchtlinge, die das Land aufnahm. Migmar Raith war einer davon.

Fünfzig Jahre später wird diese Aktion kritisiert, als ans Licht kommt, dass nur 19 der 158 Flüchtlingskinder tatsächlich Vollwaisen waren. Viele seien folglich einem Elternteil «entrissen» worden, so der Vorwurf der Öffentlichkeit an die Aktion. Es gab auch einige Suizid-Fälle unter den Pflegekindern.

Auch Migmar Raith war nicht Vollwaise. Doch sein Vater habe einwilligen müssen, ihn wegzugeben, versichert Raith heute. Andere ehemalige Pflegekinder wehrten sich in einem offenen Brief gegen die Vorwürfe. Sie hätten Glück gehabt, in die Schweiz kommen zu dürfen, steht geschrieben. Dennoch ist bis heute ungeklärt, nach welchen Kriterien die Kinder damals ausgewählt wurden und inwiefern ihre Eltern informiert waren.

Herzlicher Empfang für das «exotische Bergvolk»

Kurz nach der «Aktion Aeschimann» reagierten auch die Schweizer Behörden auf die Flüchtlingswelle der Tibeter. Im März 1963 bewilligte der Bundesrat ein Kontingent von tausend Flüchtlingen. Anders als bei Aeschimann, handelte es sich dabei nicht um einzelne Kinder, sondern um vollständige Familien.

Die Bevölkerung der Dörfer, in denen die Familien in Siedlungen untergebracht wurden, zeigte sich den Neuankömmlingen gegenüber solidarisch. Viele Gruppen wurden gar feierlich am Flughafen empfangen. Als Gründe nennt Raith heute Neugierde und Mitgefühl für das «exotische Bergvolk», das vor dem gemeinsamen Feind, dem Kommunismus, geflüchtet ist.



Tibetischer Fluechtlinge treffen 1966 im Flughafen Kloten bei Zuerich ein, von wo sie nach Ebnat, Buchen und Waldstatt weiterreisen werden.

Tibetischer Fluechtlinge treffen 1966 im Flughafen Kloten bei Zuerich ein, von wo sie nach Ebnat, Buchen und Waldstatt weiterreisen werden. (Bild: STR/KEYSTONE)

Neben den Tibetern wurden auch die Ungaren und die Tschechen mit viel Sympathie von der Schweiz aufgenommen. Es ist Zufall, dass Migmar Raith heute in einem Haus wohnt, das früher einem ungarischen Flüchtling gehörte – in einer schönen Dachwohnung. Raith tischt Schwarztee mit Milch auf und richtet sorgfältig Christstollen auf blau-weissen Keramiktellern an.

Es war der 13. August 1961, als Migmar Raith zusammen mit einer Gruppe von 16 anderen Flüchtlingskindern erstmals Schweizer Boden betrat. Er wählte diesen Tag zu seinem Geburtstag.

Raith wuchs bei seiner Pflegemutter und deren Eltern im Kleinbasel auf. Anfangs war alles sehr ungewohnt. So schlief Raith zum Beispiel auf dem Boden, wie er es sich vom Pflegeheim gewohnt war. Ein Bett war ihm fremd und er fürchtete sich davor, so hoch oben zu schlafen.

Seine Pflegemutter nannte er bald «Mama». Aber erst als er 13 war, durfte sie ihn auch rechtmässig adoptieren. «Der ursprüngliche Plan, dass wir wieder nach Indien zurückkehren würden, wurde bald sehr unrealistisch», erzählt Raith. Denn die tibetischen Flüchtlingskinder verloren schnell ihre Wurzeln und viele konnten die Sprache nicht mehr sprechen.

Es wäre absurd gewesen, sie in eine ihnen mittlerweile fremde Kultur zurückzuschicken. Schlussendlich seien nur zwei der 158 Kinder nach Indien zurückgekehrt, erzählt Raith.

Begegnung mit dem Vater

Migmar Raith ging erstmals 1975 wieder nach Indien. Am Flughafen von Orissa, einem Bundesstaat im Nordosten Indiens, sah er einen Mann mit traditionell geflochtenen Zöpfen und einem Hut. Daneben stand ein jüngerer Mann und sagte zu Raith: «Das ist dein Vater.» Raith streckte ihm die Hand entgegen, doch sein Vater kam mit der Stirn auf ihn zu.

Der Stirngruss – so begrüssen sich in Tibet die nahen Verwandten. «Tashi Delek», sagte Raith. Es heisst «Guten Tag» und war das Einzige, was er in seiner Muttersprache noch konnte. Raith war 18 Jahre alt.

Er verbrachte sechs Wochen in der tibetischen Siedlung von Orissa, in der sein Vater und seine Tante lebten. «Es war ein Kulturschock, alles war sehr rustikal», erzählt Raith. Sein Vater war für ihn ein Fremder geworden, aber er genoss es, ihn wieder kennenzulernen.

Bei der Rückkehr realisierte er: Ich sehe zwar aus wie ein Tibeter, meine Kultur ist jedoch eine europäische. Ein Jahr später trat er dem tibetischen Jugendverein bei und begann, sich politisch zu engagieren. Mittlerweile ist er seit zwölf Jahren im Vorstand der «Gesellschaft schweizerisch-tibetische Freundschaft» (GSTF).

Besuch beim Dalai Lama ist selbstverständlich

Heute arbeitet Migmar Raith als Lehrer und in einer Tagesstätte für psychisch erkrankte Menschen. Auch etwas Tibetisch hat er inzwischen gelernt und reist regelmässig nach Indien, wo noch immer seine Tante lebt. Dass der Dalai Lama die Schweiz besucht, freut ihn zwar, doch zählt er sich nicht zu den stark gläubigen Buddhisten.

«Ich bin getauft und wurde christlich erzogen», sagt Raith. Dabei habe ihn sein Grossvater auch motiviert, sich mit dem buddhistischen Glauben auseinanderzusetzen. Vielleicht fühlt sich Raith deswegen heute zwar religiös, aber nicht einer bestimmten Religion zugehörig.

Er deutet auf seinen Altar im Wohnzimmer: Neben Figuren von Buddha und Bildern des Dalai Lama, haben auch Symbole aus anderen Glaubensrichtungen ihren Platz. Dennoch ist der Besuch beim Dalai Lama für ihn – wie für die grosse Mehrheit der Exil-Tibeter – eine Selbstverständlichkeit.




Vom Christentum bis zum Buddhismus: Raith ist an verschiedenen Religionen interessiert. (Bild: Samanta Siegfried)

Heute leben etwa 6500 tibetische Flüchtlinge in der Schweiz. Lange kamen immer mehr, doch seit kurzem sind die Anträge massiv zurückgegangen. Der Grund: Ein neues Bundesgesetz. Seit Sommer 2014 müssen Neuankömmlinge beweisen, dass sie direkt aus Tibet geflohen sind und nicht dazwischen in Indien oder Nepal lebten.

Lobsang Gangshontsang, Präsident der «Tibetergemeinschaft Schweiz und Liechtenstein», sieht dieser Entwicklung besorgt entgegen: «Die meisten Tibeter machen bei ihrer Flucht noch Halt in Indien oder Nepal, da ein Grossteil dort Verwandte hat», sagt er.

Tibeter heute weniger willkommen

Das Bundesamt für Migration (BFM) hingegen ist der Ansicht: Wer in einem sicheren Drittland wie zum Beispiel Indien leben kann, gilt hier als Wirtschaftsflüchtling. Bei Tibetern, die ihre wahre Herkunft verschleiern, gehen die Behörden daher künftig davon aus, dass sie an ihren bisherigen Aufenthaltsort zurückkehren können. Das bringe die Asylsuchende in eine verzwickte Lage und treibe sie nicht selten in die Illegalität, meint Gangshontsang. Der Tagesanzeiger berichtete über einen solchen Fall.

«Wenn die Erschwerung, in die Schweiz zu kommen, zunimmt», fährt Gangshontsang fort, «müssen wir uns vielleicht auf die Integration in Indien fokussieren, anstatt in den Westen zu blicken.» Denn zurück nach Tibet zu gehen, das sei bis heute für keinen Flüchtling möglich.

«Wer weiss», sagt auch Migmar Raith und macht eine lange Pause. Vielleicht wird die tibetische Kultur nur noch im Exil überleben und sich dort weiterentwickeln. Aber die Hoffnung auf ein freies Tibet, die hat er dennoch noch nicht ganz aufgegeben.

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Kundgebung für Tibet: Samstag 7. 2., 18 Uhr, Barfüsserplatz. Kino-Vorpremiere «Tibetan Warrior»: Samstag, 19 Uhr, Kult Kino Atelier.

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