Der Baselbieter, der mit einem IBM-Computer Tausenden Afghanen das Leben rettete

Paul Bucherer kennt Afghanistan wie kaum jemand in Mitteleuropa. Mit seinem Wissen und zahlreichen Kontakten konnte er in den 1980er-Jahren über 100’000 Menschen das Leben retten.

Paul Bucherer kennt Afghanistan wie kaum jemand in Mitteleuropa. Mit seinem Wissen und zahlreichen Kontakten konnte er in den 1980er-Jahren über 100’000 Menschen das Leben retten.

Seine Liebe zu Afghanistan entdeckte Paul Bucherer Ende der 1960er-Jahre. Er studierte Architektur und wollte sich politisch engagieren. Er reiste nach Afghanistan – nicht wie andere Europäer, um Drogen zu probieren, sondern um einer Forschungsfrage nachzugehen.

Paul Bucherer: «Ich wollte das Land kennenlernen, weil es nie kolonialisiert wurde und somit seine Ursprünglichkeit behalten konnte. Ich beschäftigte mich mit dem Vergleich der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in ehemals kolonisierten und nicht-kolonisierten Ländern. Die positiven und negativen Auswirkungen von westlicher Okkupation wollte ich nicht aufgrund von vorgekauten Studien nachvollziehen, sondern ganz konkret am praktischen Beispiel von Afghanistan und Britisch-Indien erleben.»

Paul Bucherer auf einem Passbild von 1974.

Paul Bucherer auf einem Passbild von 1974.

Also zog Bucherer 1971 zusammen mit seiner Frau los. Sie reisten mit einer ausgebauten Armee-Ambulanz über Südosteuropa und den Iran nach Afghanistan. Reisezeit: acht Wochen. In Afghanistan waren sie vier Monate lang unterwegs – oft zu Fuss und mit Eseln.

1974/1975 folgte ein weiterer Forschungsaufenthalt von einem Jahr. Bucherer lernte den persischen Dialekt Dari und fand so den Kontakt zur lokalen Bevölkerung.

Ehrenamtliche Arbeit für Stiftung

Anderen Europäern sei er aus dem Weg gegangen und dank der Freundschaft zu Afghanen habe er sehr viel über das Land erfahren, sagt Bucherer. Er knüpfte Kontakte und freundschaftliche Beziehungen zu Wissenschaftlern und Persönlichkeiten, die bis heute halten.

1975 gründete er dann zusammen mit seiner Frau die Bibliotheca Afghanica, die 1983 in eine Stiftung umgewandelt wurde. Die Häufigkeit seiner Reisen an den Hindukusch nahm zu – zeitweise war er bis zu sechs Mal pro Jahr in Afghanistan. Die Kosten übernahm er selbst und auch für die Bibliotheca arbeitete er ehrenamtlich.



<p>Rücktransport des 'Afghanistan-Museums im Exil' durch die deutsche Bundeswehr. Übergabe des versiegelten Schlüssels für den Container durch den Begleitoffizier an P. Bucherer. März 2007.</p>

Rücktransport des ‚Afghanistan-Museums im Exil‘ durch die deutsche Bundeswehr. Übergabe des versiegelten Schlüssels für den Container durch den Begleitoffizier an Paul Bucherer im März 2007.

Auf seine Beziehungen konnte Bucherer zurückgreifen, als er im Sommer 1985 um Informationen für einen UNO-Menschenrechtsbericht angefragt wurde. Die Sowjetunion hatte Afghanistan 1979 besetzt und führte dort einen Krieg gegen Rebellengruppen. Ein Sonderberichterstatter der UNO, Felix Ermacora, sollte mögliche Menschenrechtsverletzungen untersuchen. Weil er das Land jedoch nicht bereisen durfte, gelangte er über die britische Botschaft in Bern an den Afghanistan-Kenner im Baselbiet.

Paul Bucherer: «Als Ermacora nach Liestal kam, willigten wir sofort ein, ihm Hilfe zu leisten. Dafür benötigten wir jedoch finanzielle Mittel, um Leute anzustellen. Ermacora sagte zu uns: ‹Hören Sie, meine Reise von Genf nach Liestal musste ich aus der eigenen Tasche bezahlen, die UNO zahlt nichts für zusätzlichen Aufwand.› Der Einfluss der Sowjetunion war derart gross, dass die UNO-Mittel für solche Untersuchungen radikal gekürzt wurden. Ermacora sagte jedoch, er sei entschlossen, seinen Bericht zu schreiben. Mit einem Aufruf an die Gönner unserer Stiftung gelang es uns, genügend Geld von Privaten zu erhalten. Und innerhalb von wenigen Tagen fand ich einige Schweizer Studenten, die auch Erfahrung im Nachrichtendienst hatten und bereit waren, zu helfen.»

Bucherer trug Fakten zusammen, die ihm seine Kontakte in Afghanistan zusandten. Sie schickten ihm Briefe, Fax-Schreiben oder riefen an. Sie meldeten, wie viele zivile Opfer der Krieg kostete. Die Studenten notierten zum Beispiel «Ort: Behrud. Datum: 8.4.85. Massaker durch sowjetische Truppen. 23 Zivilisten getötet.» Diese Daten speisten weitere Helfer in einen Computer ein – einen der ersten IBM-Computer: zwei Floppy-Laufwerke, 128 Kilobyte Arbeitsspeicher, 7000 Franken.

Anhand der Datenbank konnten Quervergleiche gezogen und die Fakten abgeglichen werden. Am Ende kamen 4608 Einzel-Fakten zusammen, die systematische Menschenrechtsverletzungen durch das sowjetische Militär nachwiesen.

Paul Bucherer: «Am Tag bevor der Bericht der UNO-Vollversammlung vorgelegt werden sollte, traf sich Ermacora mit der russischen UNO-Delegation. Er präsentierte ihnen die Tabellen mit Menschenrechtsverletzungen und erklärte: ‹Morgen lege ich dieses Dokument der Generalversammlung vor.› Danach sagten sich die Herren Gute Nacht, Ermacora ging auf sein Hotelzimmer. Doch nur wenige Stunden später klingelten ihn die Russen aus dem Bett und schlugen ihm ein Gentlemen’s-Agreement vor. Nämlich: Russland sei bereit, massiv gegen die Menschenrechtsverletzungen vorzugehen, im Gegenzug solle Ermacora den Bericht nicht vorlegen. Offenbar hatten die russischen Vertreter von ihrer Regierung den Auftrag erhalten, die Veröffentlichung des Berichts zu stoppen. Ermacora rief mich also an – zu diesem Zeitpunkt war es in Liestal sechs Uhr morgens. Er fragte: ‹Sollen wir den Bericht fallenlassen? So wäre Ihre Arbeit umsonst.› Ich antwortete: ‹Genau das wollten wir doch mit dem Bericht erreichen. Nämlich, dass die Menschenrechtsverletzungen aufhören.› Ermacora willigte ein und behielt den Bericht für sich.»

Das Treffen zwischen Ermacora und den Russen in New York änderte einiges. Bucherer und seine Stiftung setzten die Untersuchungen fort – und stellten fest, dass jetzt deutlich weniger Todesopfer gemeldet wurden. Von etwa 6000 zivilen Opfern pro Monat vor dem Agreement sank die Zahl auf zirka 1000 danach. Die Russen hielten also ihr Versprechen. Auf die nächsten zwei Jahre hochgerechnet rettete der Bericht etwa 120’000 Menschenleben – und das nur in dem Teil des Landes, in dem Bucherer seine Informanten hatte.



Präsident Najibullah begrüsst Paul Bucherer in Kabul, 2. Juli 1991.

Präsident Najibullah begrüsst Paul Bucherer in Kabul, 2. Juli 1991.

Er habe stets versucht, sich für die Mehrheit der Bevölkerung einzusetzen, sagt Bucherer. Für den ländlichen Teil der Bevölkerung also, nicht für diejenigen, die sich als intellektuelle Elite betrachteten. Dabei geriet er manchmal auch zwischen die Fronten.

Paul Bucherer: «Ich habe mir gesagt, wenn ich mit den Leuten in Kontakt bin, die auch für viele Todesopfer verantwortlich sind, so habe ich wenigstens eine Chance, sie zu beeinflussen und ihre Beweggründe kennenzulernen. Es bereitete mir insbesondere Schwierigkeiten, den kommunistischen Präsidenten Mohammad Najibullah zu treffen. Nach dem ersten Treffen mit ihm habe ich eine halbe Stunde lang meine Hände und Arme mit Seife gewaschen. Im Verlauf der Untersuchungen für die UNO hatte ich sehr viel über seine persönliche Brutalität erfahren, die er als Chef des Geheimdienstes ausübte. Nach und nach habe ich jedoch erkennen müssen, dass er von den Sowjets gegen seinen Willen missbraucht wurde, dass er mit gutem Willen nach einer politischen Lösung suchte und dass seine Bereitschaft, zurückzutreten, echt war. Man darf dabei nicht vergessen, dass die afghanische und unsere Gesellschaft völlig verschieden sind, dass wir andere Massstäbe haben, mit denen wir hier verkehren. Ich habe mich bei den Beziehungen immer an afghanische Massstäbe zu halten versucht. Es war nicht immer einfach, das mit meinem Gewissen zu vereinbaren.»

Bucherer hält inne. Die Entwicklung des Landes beobachtet er seit einiger Zeit nur noch aus der Ferne. Seit 2009 war er nicht mehr in Afghanistan. Damals übergab er dem afghanischen Erziehungsministerium unter Präsident Hamid Karzai eine Wanderausstellung, die anschliessend in 68 Exemplaren durch alle Schulen Afghanistans zirkulierte. Die Bilder und Schriftstücke der Ausstellung stammten aus dem Archiv der Bibliotheca Afghanica.

Er könne heute viel mehr von ausserhalb Afghanistans bewegen, sagt Bucherer. Seine Kontakte pflegt er noch immer. Ein Besuch in Kabul würde jedoch erst dann sinnvoll, wenn dort wegen einer konkreten Entwicklung seine Anwesenheit wünschenswert sei.

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Lesen Sie eine weitere Episode von Paul Bucherer: Geheimkonferenz in Bad Schauenburg

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