Der brutale Abstieg einer Partei – und die Lehren daraus

Sie war die einflussreichste Partei der Schweiz – und ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst: die FDP. Jetzt, im Jahr der ersten Erfolge seit Langem, erscheint ein Buch, das die leidvolle Geschichte der Partei aufzeigt. Warum Sie das lesen sollten.

Die Autoren zum Wahljahr-Auftakt 2015 der FDP: «Die opulente Inszenierung übertüncht die erschreckende Inhaltsleere dieses Wahlkampfauftakts. Es ist ein Tag der Wurst und keiner der Ideen.» (Bild: Hans-Jörg Walter)

Sie war die einflussreichste Partei der Schweiz – und ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst: Die FDP. Jetzt, im Jahr der ersten Erfolge seit Langem, erscheint ein Buch, das die leidvolle Geschichte der Partei aufzeigt. Warum Sie das lesen sollten.

Politbeobachter – besonders Journalisten – sind ein eigenartiger Schlag. Sie scharen sich mit fast schon kindlicher Freude um die Zentren der Macht, beobachten das Räderwerk der Gesellschaft, mal mit dem nötigen Abstand fürs Gesamtbild, mal beim kleinsten Knirschen aufgeregt im Kreis rennend. Sie entwickeln eine Faszination für die Dynamik der Demokratie wie andere für eine Sportart. 

So ist es eigentlich verwunderlich, dass die Geschichte des einst glänzendsten Vereins der Nation in den vergangenen 30 Jahren noch nicht in durchgehender Form beschrieben wurde: die tragischen Jahre der FDP, jener Partei, die die Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates nicht nur geprägt, sondern regiert, geformt und verwaltet hatte. Die Journalisten Alan Cassidy und Philipp Loser legen mit ihrem Buch «Der Fall FDP» nun erstmals eine umfassende Dokumentation der letzten Jahrzehnte der Partei vor. 

1. Darum geht es: Um den Niedergang der einst wichtigsten Schweizer Partei, die nach dem Urteil der Autoren «normal geworden» ist.

2. Darum geht es wirklich: Um die fehlende Idee des Freisinns für die Schweiz. Und um die drängende Frage: Wer sonst kann das Gegennarrativ liefern zur Schweiz der SVP, die sich selbst genug und auf niemanden angewiesen ist.

3. Kritik: Die Kritiker loben das Werk als fakten- und kenntnisreich. Sie heben das hohe sprachliche Niveau hervor. Besonders aber die im Buch erwähnte NZZ kritisiert die Analyse als teilweise unsorgfältig.

4. Deshalb geht es uns etwas an: Es ist die Geschichte der ehemals einflussreichsten Schweizer Partei. Und weit darüber hinaus geht es um die Frage: Welche Schweiz für unsere Zeit?

1. Darum geht es

Wie brach der FDP der Boden unter den Füssen weg? Warum entfremdete sich der Freisinn von der Wirtschaft? Und wie konnte es zum beispiellosen Aufstieg von Christoph Blochers SVP kommen, die die FDP im Bürgerblock erst brüskierte, dann verhöhnte und zuletzt den ehemals überstarken grossen Bruder als Juniorpartner einspannte? Die Analyse setzt 1979 ein, als die FDP den Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» postulierte; ein Slogan, der die Abkehr von einem Staat einläutete, den die Partei macht- und kompromissbewusst geprägt hatte.

Das Buch beschreibt die Krise einer alten Schweizer Politik, in der sich Wirtschaft und Staat gleichermassen mit einer Partei verflochten hatten. Einer Politik, die mit dem Mauerfall 1989 ein jähes Ende fand. Es war ohnehin das schwärzeste Jahr in der Geschichte der FDP: Elisabeth Kopp, die erste Bundesrätin der Schweiz, musste bereits wegen einer Affäre zurücktreten, in der es um eine Verflechtung mit der Firma ihres Mannes ging. 

Schmerzhaft ging es weiter: Der Riss in der Partei im Vorfeld der Abstimmung zum Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), schliesslich die Niederlage an der Urne und der Aufstieg von Blochers SVP. Die freisinnige Sinnsuche in den 2000er-Jahren, die Wirtschaftsskandale, die auf die FDP zurückfielen, das Swissair-Grounding. Und schliesslich die Phase der Neuorientierung, in der sich die Partei heute, nach massiven Verlusten an Wähleranteilen und der «Entfremdung von der Wirtschaft» befindet. Das Urteil der Autoren: «Die FDP ist nicht mehr die FDP von früher. Kann es nicht mehr sein. Sie ist heute eine Partei unter vielen. Die FDP ist: normal geworden.»

2. Darum geht es wirklich

Die Autoren beschreiben nicht nur den Fall einer Partei, sie beschreiben darüber hinaus auch eine helvetische Sinnkrise. Und was könnte als Manifestation dieser Krise besser dienen, als die einst dominierende Schweizer Partei, die leidvoll an der Europa-Frage zerbrach, von der SVP rechts überholt wurde und am Boden liegen blieb.  

Das Buch ist mehr als ein Abgesang auf eine gescheiterte Partei; dieser Schluss würde weder der dokumentarischen Leistung noch der eigentlichen Hauptdarstellerin, der FDP, gerecht. Das zeigt allein die Frage, welche Prägung dieser Freisinn denn haben soll. Soll es der Freisinn blocherscher Prägung sein, den «Weltwoche»-Chefredaktor und SVP-Nationalratskandidat Roger Köppel beschwört? Oder doch lieber der pragmatische Freisinn, der sich nach den Gegebenheiten richtet, und wie ihn Parteipräsident Philipp Müller praktiziert, der das Bankgeheimnis nach inbrünstiger Verteidigung doch plötzlich fallen liess? 

Eine Antwort darauf liefern die Autoren nicht. Sie müssen es auch nicht: Ihr Verdienst besteht darin, am Fall FDP aufgezeigt zu haben, wie der Freisinn seine Idee einer Schweiz verloren hat. Und wie sehr die Schweiz eine solche Idee gebrauchen könnte: Denn wer sonst ausser der FDP, fragen die Autoren, könne ein Gegennarrativ liefern zur Vorstellung der SVP von einer unabhängigen Schweiz, die auf niemanden angewiesen ist? Denn: «Die SP ist in einem bürgerlichen Land der falsche Absender.»

3. Kritik

 «Eine Abdankungsrede auf hohem sprachlichem Niveau, präzis formuliert, prägnant geschrieben – und schonungslos im Urteil», schreibt Martin Furrer in der «Basler Zeitung». «Die beiden Autoren analysieren das Schicksal dieser Partei fakten- und kenntnisreich», urteilt Roger Blum in der «Aargauer Zeitung»

Kritischer ist die NZZ, der im Buch ebenfalls ein Kapitel gewidmet ist: Inlandchef René Zeller will festgehalten haben, dass die FDP nach wie vor staatstragend sei und betont die stabilisierende Wirkung von Fulvio Pelli, Parteipräsident von 2005 bis 2012. Dazu Zeller: «Das wird marginalisiert. Stattdessen wird die These verfochten, die FDP agiere im Wettstreit um die richtige Schweiz nur noch als unbeteiligte Zuschauerin.»  

Die Rezensenten machen auch auf die Ironie des Erscheinungsdatums aufmerksam: Just zu dem Zeitpunkt, an dem die FDP an kantonalen Wahlen wieder Auftrieb erhält, erscheine ein Buch zum Niedergang der FDP. Schaden wird der Zeitpunkt  allerdings nicht: Gerade vor dem Hintergrund des neuerlichen Erstarkens wirkt diese Geschichte des Freisinns umso aktueller.

Das Buch liest sich flüssig. Die Episoden des Niedergangs und des Aufraffens der FDP unterfüttern die Autoren mit vielen Zitaten ehemaliger und aktiver Parteikader. Und bildhaft wird auch der ehemalige Parteipräsident Franz Steinegger eingeführt, in Altdorf, von wo aus der Urner die Partei durch ihre schwierigste Zeit führte. Das Anekdotenhafte ist eine der Stärken des Buches und gleichzeitig eine der Schwächen: Das Gesamtbild rückt angesichts des Knirschens in der Maschine manchmal zu sehr in den Hintergrund.  

4. Deshalb geht es uns etwas an

Das Buch fasst die Lage des Schweizer Freisinns treffend zusammen – selbst wenn etwa die NZZ Schwächen in der Analyse ortet. Die Autoren stellen anhand der Parteigeschichte die brandaktuelle Frage: Welche Idee braucht die Schweiz, besonders der Freisinn, angesichts einer zentralen Herausforderung – nämlich Europa? Das ist die Schlüsselfrage, an der die FDP einst grandios gescheitert ist – und auf die sie die Antwort noch schuldig ist. Denn klar ist: Die Schweiz als am Konsens orientiertes Land braucht in der Polarisierung zwischen SVP und SP gerade in dieser Frage eine FDP als starke Kraft.

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Alan Cassidy / Philipp Loser: «Der Fall FDP». Rotpunktverlag Zürich, 2015. Weitere Informationen: http://fallfdp.ch.

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