Der Bunker von Brüglingen

Über 70 Asylsuchende sind derzeit in der Zivilschutzanlage Brüglingen bei der Grün 80 untergebracht. Ihr Alltag ist geprägt von endlosem Warten. Ein Tag im Durchgangszentrum.

(Bild: Danish Siddiqui)

Über 70 Asylsuchende sind derzeit in der Zivilschutzanlage Brüglingen bei der Grün 80 untergebracht. Ihr Alltag ist geprägt von endlosem Warten. Ein Tag im Durchgangszentrum.

Eine Tasse dampfenden Tee in der einen Hand, eine Zigarette in der anderen sitzt Nabib auf der Bank vor der Zivilschutzanlage. Der 19-jährige Pakistani ist zurück von seiner Runde. Seit dem Frühstück um ­7.30 Uhr läuft er durch die Anlage, setzt sich auf eines der Kajüten-Betten, spricht mit Landsleuten, manchmal mit anderen, wenn sie Englisch können. Geht am Töggelikasten vorbei, macht ein paar Sprüche, geht raus, rauchen. Es ist kurz vor Mittag, er raucht die siebte Zigarette. Es wird nicht die letzte sein. Nabib schlägt Zeit tot. Viel Zeit.

Zivilschutzanlagen sind deprimierende Orte. Gebaut für den Kriegsfall, ausgestattet fürs Überleben. Fensterlos, kahl, funktional. Brüglingen ist da keine Ausnahme. Schön gelegen zwischen Grün 80 und der Sportanlage St. Jakob, mag sein. Der Gemeinschaftsraum ausgestattet mit einem TV-Apparat, die Farben etwas wärmer als das typische Grün, aber immer noch ein unwirtlicher Ort. Es ist das Zuhause von Nabib und 71 weiteren Asylsuchenden.

Nabib heisst nicht wirklich so, den richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, wie alle anderen Bewohner. Aber hier im «Bunker» – wie viele Bewohner die Zivilschutzanlage nennen – zählen Namen sowieso nicht viel. Die Belegung ändert dauernd. Die Bewohner rufen sich meistens nur nach ihrer Herkunft. «Hey, Nigeria!», «Hey, Ghana!», «Algier, Algier!»

Cannelloni und Fladenbrot

Nabib ist vor den Taliban im Swat-Tal geflüchtet. 40 Tage und Nächte war er unterwegs von Pakistan über Griechenland in die Schweiz, sein Ziel. «Die Schweiz hat einen guten Ruf, es geht ihr gut», sagt Nabib und hofft, dass es ihm auch bald so geht. Die Chance hat er, sein Asylentscheid war positiv. Er wartet nun auf den Transfer in eine andere Unterkunft in Basel, eine dauerhafte, «in einem richtigen Haus». Er will selber kochen können. Das Essen hier schmeckt ihm nicht, und mit ihm einem grossen Teil der Bewohner. An diesem Mittag gibt es Cannelloni­ gefüllt mit Spinat und Ricotta, zum Abendessen Hörnli mit Gehacktem. Reis und Poulet wäre den meisten lieber, am besten fünf Mal die Woche. Beim Brot ist ihnen die Zentrumsführung entgegengekommen: Es gibt Fladenbrot, selbstgebackenes. Einer der Bewohner verdient sich einen Zustupf mit dem Backen.

Nabib will nicht nur selbst bestimmen, was er isst. Er möchte auch kommen und gehen, wann er will. «Das hier ist kein Gefängnis, aber es fühlt sich so an», sagt er. Um 24 Uhr wird die Panzertüre geschlossen, wer nicht drin ist, muss selbst schauen. «Zu seinem Zuhause hat man aber doch einen Schlüssel», sagt Nabib und lacht. Er kann darüber lachen, er weiss, der Bunker ist für ihn nur ein Übergang. Er muss nur geduldig warten.

Warten haben die Bewohner des Durchgangszentrums gelernt. Die einen warten auf den Entscheid, die anderen auf den Transfer in eine Wohnung. Wer einen negativen Entscheid erhält, harrt aus, bis die Abschiebung ansteht – wenn ihn sein Land überhaupt zurücknimmt. Der Austausch zwischen der Schweiz und Nigeria funktioniert schlecht. Die Nigerianer leben darum teilweise monatelang in der Unterkunft, zurzeit sind es 14. Steve ist einer von ihnen. Ein sympathischer Typ. Offen, redselig, ein breites Grinsen im Gesicht. Zunächst. Je länger der Tag aber dauert, umso ­nervöser wird Steve. Er muss an diesem Mittwochnachmittag zu einem Gespräch über die Modalitäten seiner Rückkehr.

7000 Franken erhält er als Startkapital, weil er einer freiwilligen Rückkehr zugestimmt hat. «Das ist gut», sagt er, «aber was mich erwartet, weiss ich trotzdem nicht.» Vielleicht kommt er ohne Schwierigkeiten durch den Flughafen, vielleicht auch in sein Dorf, was dann kommt, steht in den Sternen. Was seine Probleme sind, ist schwierig zu verstehen. «Sagen wir so: Es war nötig, wegzugehen, mich in Sicherheit zu bringen.» Steve ist schon länger im Durchgangszentrum, wie alle mit einem abgelehnten Asylentscheid erhält er nur Nothilfe: drei Mahlzeiten, medizinische Versorgung und ein Bett. Er sei deshalb meistens in der Unterkunft. «Alles andere kostet Geld.»

Manche Bewohner haben ein Netzwerk von Landsleuten, mit denen sie sich treffen. Man hilft sich mit etwas Geld, einem Essen, ganz sicher ist es Gesellschaft. Steve weiss, dass manche Nigerianer als Kügelidealer unterwegs sind. Für ihn ein Grund mehr, im Zentrum zu bleiben. Polizeikontrollen machen ihm keinen Spass, alle anderen wollen nichts mit ihm zu tun haben. «Nicht mal die Nutten flirten mit einem», ergänzt sein Kumpel.

Positiv heisst Zukunft, negativ bedeutet zurück ins Nichts.

Normalerweise würden Nigerianer aus dem Süden nicht mit Nigerianern aus dem Norden reden, geschweige denn zusammenleben, sagt Steve. «Hier sind wir alle Brüder.» Sie teilen nicht nur das Zimmer, sondern auch ihr Problem mit dem Verfahren. Sie fühlen, dass sie als Nigerianer kaum Chancen auf Asyl haben. «Der Staat sollte nicht nach Nationalitäten entscheiden, sondern aufgrund der individuellen Schicksale.»

Unter Steves Landsleuten hat es welche, die vor Boko Haram geflüchtet sind. Die Terror­organisation kämpft für die Einführung der Scharia und gegen westliche Schulbildung. Keine Gruppe, die man gegen sich haben möchte. Dass die vor ihr Geflüchteten um ihr Leben fürchten müssen, klingt plausibel. Aber stimmt es auch? Und wie soll man es beweisen?

Samed kennt das Problem. Er möchte weder sein Bild in der Zeitung sehen noch seine Geschichte lesen – einerseits. Andererseits ist seine Geschichte der Prototyp einer jeden Flucht ins Ausland: Probleme des kleinen Bruders, er das Familienoberhaupt, der seiner Verpflichtung nachkommt, ein paar undurchsichtige Gefallen für die falschen Leute, Korruption, eine lähmende Bürokratie. Seine Geschichte ist so klassisch, dass sie wohl unglaubwürdig wirkt. Samed sitzt jedenfalls fest. Kein Asyl, kein Pass für die Rückkehr in die Heimat, keine Aussicht auf ein gutes Ende. Samed ist an seiner Lage nicht verzweifelt, er ist daran zerbrochen. Er hat aufgegeben. «Gebt mir kein Asyl», sagt er, «aber glaubt mir.»

Allen zu glauben fällt schwer. Eine Zivil­schutzanlage voller junger Männer, geflüchtet vor Verfolgung und Tod? Wie viele von ihnen wohl «Wirtschaftsflüchtlinge» oder «Abenteuermigranten» sind? Würde ich mir nicht eine Legende ausdenken, für die Aussicht auf ein besseres Leben? Gewiss.

James zum Beispiel hat in Spanien­ ein Leben gehabt. Der Ghanaer­ flüchtete über Italien nach Spanien, fand einen Job, arbeitete vier Jahre lang hart, dann die Krise und der Schnitt: «Keine Arbeit, kein Einkommen, nur die Aussicht auf die Gosse.» Eine traurige Geschichte, aber bestimmt nicht die offizielle Version. So oder so: James mag nicht vor dem Tod geflohen sein, aber ist er vor einem Leben geflüchtet?

Julian Mettler ist Arzt, einmal die Woche kommt er zur Visite in die Zivilschutzanlage. Er untersucht die Bewohner, bei Bedarf leitet er sie an einen Spezialisten weiter. In der Regel haben die Männer seit Jahren keinen Arzt gesehen – wenn überhaupt je. «Viele haben schwere Leiden, manche auch Folterspuren.» Rund ein Viertel von Mettlers Patienten leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Symptome sind vielfältig: Schlafstörungen, Albträume bis hin zu Depressionen. Die grösste Hürde für den Arzt ist dabei die Sprachbarriere. «Manchmal unterhalte ich mich in einem Gemisch aus drei, vier Sprachen, aber irgendwie klappt es letztlich immer.»

«Ist das gut? Darf ich bleiben?»

Schwieriger ist es für die Bewohner, die amtlichen Briefe zu verstehen. «Ist das gut? Darf ich bleiben?» Ein junger Syrer hält einen Brief des Bundes­amtes für Migration in der Hand. Er ist kurz, ohne Erklärungen und auf Deutsch. «Beendigung des Dublin­verfahrens», heisst es knapp darüber. Der Syrer tritt nervös von einem Bein aufs andere. Er hält uns den Brief hin. «Das ist gut», sagen wir, «du musst nicht zurück nach Griechenland. Dein Asylantrag wird hier bearbeitet.» Aber er versteht nicht, was das bedeutet.

Viele Asylsuchende wissen über das Verfahren genau so viel: Positiv heisst Zukunft, negativ bedeutet zurück ins Nichts. Da hilft auch der Deutschkurs zweimal die Woche nicht. Oft genug hat Zentrumsleiterin Doris Bugmann erlebt, dass Bewohner sich bei ihr über einen negativen Entscheid beklagen, als ob sie ihn gefällt hätte. Manchmal kippt die Stimmung in solchen Situationen. Verzweiflung wird zu Wut, Klagen und Geschrei werden zu Aggression. Bugmann ist keine Frau, die Angst hat. Sie weiss, mit wem sie wie umgehen muss. Das sagt nicht sie, sondern die Bewohner. «Mama» oder «Big Mama», wie viele der Bewohner sie nennen, geniesst den Respekt der Männer.

Bugmann führt die Anlage seit der Eröffnung vor knapp eineinhalb Jahren. Wer ihr im Umgang mit den Bewohnern zusieht, entdeckt ehrliches Interesse. Sie scherzt, lacht, gesellt sich für eine Zigarette zu ihnen unter den grünen Pavillon vor dem Eingang. Die Anliegen der Bewohner sind unterschiedlich, manche wollen ihre Geschichte erzählen, andere plagt Heimweh, die Einsamkeit. «Es sind Menschen mit ganz normalen Bedürfnissen», sagt Bugmann.

Manchmal kippt die Stimmung. Verzweiflung wird zu Wut, Klagen und Geschrei werden zu Aggression.

Leben in Brüglingen bedeutet aber strenge Regeln befolgen zu müssen, nichts zu tun zu haben und mit bis zu 15 anderen Männern einen Raum zu teilen. Frauen gibt es nicht, Familien genauso wenig. Basel-Stadt will keine Familien unterirdisch unterbringen. 72 Bewohner, fast so viele Nationalitäten und mit Ausnahme eines 60-jährigen Serben lauter junge Männer: keine guten Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben, das weiss auch Bugmann.

Was sie damit meint, erklärt uns Mates, ein junger Syrer. Es gehe nicht darum, dass es kalt sei in der Unterkunft, die Privatsphäre fehle und dass sie sich drei Duschen teilen müssten. «Das Problem ist, dass man unendlich viel Zeit zum Nachdenken hat.» Mates hat zwei Brüder im syrischen Bürgerkrieg verloren, seine Familie wartet auf seine Unterstützung. Er aber sitzt hier im Bunker und kann nichts machen. «Ich überlege mir, ob ich einfach zurück soll.»

Die Gedanken kreisen ums Ungewisse: Gibt es eine Zukunft hier oder muss ich zurück? Was mache ich dort? Wann gehe ich zurück? Es sind viele Fragen, die einen den ganzen Tag quälen, wenn man keine Ablenkung hat. Zerstreuung bieten nur der Töggelikasten und der Fernseher. Die Zentrumsleitung organisiert manchmal TV-Abende mit Popcorn, mal einen Pizzaabend. Jeden Mittwoch dürfen die Bewohner zum Fussballspielen auf einen der Plätze vor der Anlage. Mates geniesst es sichtlich, er lacht, rennt, dribbelt. ­60 Minuten Pause im nicht enden wollenden Warten. Müde und zufrieden geht es am Ende zurück. Aber die Gedanken kreisen schon bald wieder

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 02.11.12

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