Der Exodus geht an der Schweiz vorbei

Praktisch täglich greift die italienische Marine Flüchtlingsboote auf. In fast allen europäischen Ländern steigen die Flüchtlingszahlen. In der Schweiz jedoch gehen sie zurück. Doch statt sich für eine solidarische Flüchtlingspolitik einzusetzen, gefällt sich die Schweiz in der Rolle der Profiteurin.

Szenen wie diese spielen sich vor der italienischen Küste zur Zeit täglich ab. Seit Jahresbeginn kamen laut UNHCR rund 18'000 Flüchtlinge in Süditalien an. (Bild: Reuters)

Praktisch täglich greift die italienische Marine Flüchtlingsboote auf. In fast allen europäischen Ländern steigen die Flüchtlingszahlen. In der Schweiz jedoch gehen sie zurück. Doch statt sich für eine solidarische Flüchtlingspolitik einzusetzen, gefällt sich die Schweiz in der Rolle der Profiteurin.

Ein rauer Wind bläst über das Meer, die «San Giusto» ist auf der Suche nach Flüchtlingsbooten. Crew-Mitglieder entdecken ein kleines Holzboot. An Bord sind 219 Menschen aus Syrien, Mali, Äthiopien und anderen Ländern.

Die «San Giusto» steuert darauf zu und nimmt die Insassen auf. Ihre Kleider sind nass, viele tragen keine Schuhe. Es ist die Geschichte, die ein Beobachter des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) erzählt und wie sie sich fast täglich vor der italienischen Küste abspielt.

Je waghalsiger, desto erfolgreicher

Seit acht Monaten patrouillieren italienische Marine-Schiffe vor Lampedusa und retten schiffbrüchige Flüchtlinge vor den tödlichen Wogen. Über 10 000 Menschen haben sie bereits aufgegriffen. Die Aktion heisst «Mare Nostrum» («Unser Meer») und wurde nach dem tragischen Unglück im Oktober 2013 gestartet, als annähernd 400 Flüchtlinge vor der Küste Lampedusas ertranken. Damit sich ein solches Unglück nicht wiederholt, ist die Marine angewiesen, alle Schiffbrüchigen aus dem Wasser zu fischen.

Das Groteske daran: Schlepper nutzen die Situation zu ihren Gunsten und pferchen Flüchtlinge in Schlauchboote, die alles andere als See tauglich sind – die italienische Marine muss sie dann zwangsläufig vor dem Ertrinken retten. Je waghalsiger, desto erfolgreicher, ist das Motto.

Auf diese Weise finden deutlich mehr Flüchtlinge den Weg über das Mittelmeer – laut UNHCR-Angaben waren es zirka 18’000 seit Jahresbeginn. Normalerweise zählen die Experten etwa 10 000 in dieser Periode. Der italienische Innenminister Angelino Alfano spricht von 300 000 bis 600 000 Menschen, die allein in Libyen auf eine Überfahrt warten.

Asylgesuche sind rückläufig

Angesichts dieser Zahlen könnte man von einem wahren Exodus sprechen. Nur in der Schweiz ist davon nichts zu spüren. Im Gegenteil.

In der Schweiz ging die Zahl der Asylgesuche – verglichen mit dem Quartal zuvor – in den Monaten Januar, Februar und März sogar um 12 Prozent zurück. Dies belegt eine gerade erschienene Asylstatistik des Bundesamts für Migration (BfM). Zum Vergleich: In Deutschland stieg die Zahl der Asylanträge im selben Zeitabschnitt um über 70 Prozent. Andere EU-Länder verzeichneten keinen so starken Anstieg, jedoch eine klar zunehmende Tendenz.

Warum geht der Exodus unbemerkt an der Schweiz vorbei? Darüber lasse sich nur spekulieren, meint Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Er sagt, dass durch die Rettungsaktionen viele Flüchtlinge sofort in Italien registriert werden. «Flüchtlinge, die in Italien registriert sind, können in der Schweiz keinen Asylantrag stellen und werden gemäss Dublin-Verordnung nach Italien zurückgeschafft.»

Viele Flüchtlinge, die von der italienischen Marine aufgegriffen werden, kommen nicht in der Schweiz an.

Unter dem Strich bedeutet das: Viele der Flüchtlinge, die von der italienischen Marine aufgegriffen werden, kommen gar nicht erst in der Schweiz an. Und falls sie doch ankommen, werden sie sofort an Italien zurückgewiesen. «Die Schweiz schafft von allen Dublin-Staaten mit Abstand die meisten Flüchtlinge nach Italien zurück», sagt Frey.

Der Streit um das Dublin-Abkommen ist alt. Die Schweiz profitiert davon, da sie über keine EU-Aussengrenze verfügt. Auch andere Länder sind froh um dieses Verfahren. Frey meint, das Abkommen sei «gegenüber den südlichen EU-Küstenländern nicht gerecht». EU-Politiker, allen voran der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, kämpfen für eine gerechtere Lösung – vermutlich aber ohne Erfolg. «Eine EU-weite Änderung ist meiner Meinung nach nicht in Sicht», ist Frey überzeugt.

Streit um Flüchtlinge verschärft sich

Italiens Rettungsprojekt «Mare Nostrum» ist ein Schritt hin zu einer humaneren Flüchtlingspolitik. Gleichzeitig verschärft sie jedoch den Streit um die Flüchtlinge.

Mit fünf Schiffen und 850 Angestellten sucht die italienische Marine nach Flüchtlingsbooten. Oft sind es die Flüchtlinge selbst, die mit einem Satellitentelefon die Küstenwache benachrichtigen. Sie senden einen Notruf, nennen ihre Koordinaten und werfen das Telefon anschliessend ins Wasser. Nur so ist gewährleistet, dass die Marineschiffe sie aufnehmen und eine Chance auf Asyl besteht.

Wo Menschenleben gerettet werden, steigt die Zahl der Flüchtlinge.

Es ist pure Ironie, dass diese lebensgefährliche Taktik mehr Erfolg verspricht als die Überfahrt auf einem sicheren Kahn. Dort, wo Menschenleben gerettet werden, steigt die Zahl der Flüchtlinge. Abschrecken oder aufnehmen? Das ist das Dilemma, in dem die europäische Politik steckt. Und die Schweiz schaut unbeteiligt zu.

Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty International Schweiz, meint, die Eidgenossenschaft könne sich durchaus in Europa einbringen und mehr Solidarität mit den europäischen Südstaaten fordern, schliesslich habe die Schweiz in Asylfragen einmal eine Vorreiterrolle gespielt.

Weniger Asylanträge

Das ändert sich nun aber nach und nach. Seit einiger Zeit werden in der Schweiz weniger Asylanträge gestellt. 19 440 waren es im Jahr 2013. Deutschland liegt mit 109 580 Anträgen auf dem ersten Platz. Schaut man auf die Asylanträge im Verhältnis zur Wohnbevölkerung, so liegt die Schweiz immerhin auf Platz vier

«Die Schweiz hat 2013 als Zielland von Asylsuchenden an Bedeutung verloren», schreibt das BfM im aktuellen Bericht. Der Anteil der Eidgenossenschaft an allen in Europa gestellten Asylgesuchen betrug 2012 rund 8 Prozent. Im letzten Jahr waren es noch 5 Prozent. Das entspricht dem Wert, den die Schweiz vor zehn Jahren hatte. 2012 erreichte der Anteil der Schweiz einen Höhepunkt, bedingt durch die Flüchtlinge aus dem arabischen Raum. Nun zeigt der Trend nach unten. Heisst das, es kommen in Zukunft weniger Flüchtlinge in die Schweiz?

Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe meint, die Flüchtlingsbewegungen seien «sehr volatil – das heisst, die Ströme können sich sehr schnell verändern». Die Schweiz sei aber für Flüchtlinge nicht mehr so attraktiv. Dafür sieht er mehrere Gründe: Schnellverfahren für einige Herkunftsländer, Abschaffung des Botschaftsasyls, eine restriktive Aufnahmepraxis für syrische Flüchtlinge sowie höhere Sozialleistungen in Nachbarländern wie Deutschland.

Der BfM-Sprecher Martin Reichlin meint ergänzend dazu: Die Asylgesuche seien rückläufig, weil Personen – etwa aus Eritrea – hierzulande länger auf einen Entscheid warten müssten als etwa in Norwegen.

Santino und Giustino

Hat die Politik des «Mare Nostrum» Auswirkungen auf die Schweiz? Reichlin winkt ab. Es sei nicht nur die neue Aufnahmepraxis, die dafür sorge, dass mehr Flüchtlinge übers Mittelmeer kämen. Eine Zunahme sei auch aufgrund besserer Witterungsverhältnisse absehbar gewesen. Ob der Flüchtlingsstrom direkte Folgen für die Schweiz habe, sei derzeit noch unklar. Die Asylgesuche könnten «mit einer gewissen Verzögerung» auch in der Schweiz ansteigen.

Die «San Giusto» wird jedenfalls weiter in See stechen und nach schiffbrüchigen Passagieren suchen. Einmal, erzählt die Bordärztin, habe sie eine Frau aus einem Boot gerettet, die gerade Zwillinge geboren hatte. Aus Dankbarkeit für die Rettung habe die Mutter ihre beiden Kinder Santino und Giustino genannt.

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