Der Flüchtlingsstrom schwillt an

Seit Beginn des Jahres sind bereits mehr als 100’000 Migranten über das Mittelmeer gekommen, fast die Hälfte davon nach Griechenland. Die Behörden und Bewohner der Inseln in der Ägäis sind mit dem Ansturm völlig überfordert.

In Griechenland kommen sechsmal mehr Flüchtlinge in solchen Booten an als noch im Vorjahr.

(Bild: REUTERS/Yannis Behrakis)

Seit Beginn des Jahres sind bereits mehr als 100’000 Migranten über das Mittelmeer gekommen, fast die Hälfte davon nach Griechenland. Die Behörden und Bewohner der Inseln in der Ägäis sind mit dem Ansturm völlig überfordert.

Sie kommen zu Hunderten, an manchen Tagen sind es gar Tausend und mehr. Auf der Flucht vor den Kriegen im Nahen Osten oder der Armut in Asien und Afrika überqueren die verzweifelten Menschen in maroden Schlauchbooten und morschen Fischerbooten das Mittelmeer, um in der Europäischen Union Sicherheit und Arbeit zu suchen.

Nach Angaben des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kamen seit Beginn dieses Jahres über 100’000 Kriegs- und Armutsflüchtlinge über das Meer. 54’000 gingen in Italien an Land, 48’000 erreichten Griechenland. Wie viele die riskante Flucht nicht überlebten, weil die von den Schleppern gestellten Boote während der Überfahrt untergingen, weiss niemand. Schätzungen gehen von mehreren Tausend Opfern aus.

600 Neuankömmlinge pro Tag

Eine der Hauptrouten der Schleuser führt von der türkischen Küste zu den griechischen Inseln der Ostägäis, die nur wenige Kilometer vor dem anatolischen Festland liegen. Auf einigen dieser Inseln herrschen wegen des ständig wachsenden Ansturms der Flüchtlinge inzwischen chaotische Zustände. Allein in der ersten Juni-Woche wurden von der griechischen Küstenwache innerhalb von drei Tagen 4046 Migranten ohne gültige Reisedokumente aufgegriffen. Auf der Insel Lesbos kamen seit Jahresbeginn fast 19’000 Flüchtlinge an, je 5000 in Samos und Kos, fast 8000 auf der Insel Chios, davon über 3500 allein im Monat Mai.

Aktuell in Griechenland unterwegs ist unser Blogger Simon Krieger. Auf den Spuren des jungen Afghanen Javed, reist er seinen Fluchtweg zurück bis in den Iran. Die Eindrücke seiner Reise und Zeugnisse der Migration dokumentiert Simon Krieger im Blog «Fluchtweg».

Gegenüber dem Vorjahr hat sich die Zahl der Flüchtlinge, die von der griechischen Küstenwache vor den Inseln geborgen wurden oder die es mit ihren Booten selbst bis an die Strände schaffen, mehr als versechsfacht. «Die Zahlen sind besonders in Griechenland dramatisch angestiegen. Es kommen im Schnitt 600 Menschen pro Tag, und wir erwarten, dass sich der Zustrom in diesem Masse fortsetzt oder sogar noch verstärkt», sagte die UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming in Genf.

Nach Angaben der griechischen Polizei kam im ersten Quartal 2015 fast jeder zweite Flüchtling aus Syrien. Weitere Nationalitäten sind Afghanen, Pakistaner, Iraker und Somali. Die Behörden auf den ostägäischen Inseln sind mit dem Ansturm überfordert, die Auffanglager überfüllt. Das Lager Moria auf der Insel Lesbos ist für 700 Menschen ausgelegt, beherbergt aber mehr als 1500. Weitere 1500 Flüchtlinge leben in Zelten und selbstgezimmerten Verschlägen auf dem Verkehrsübungsplatz der Inselhauptstadt Mytilini. Auf der Insel Kos haben etwa 200 Migranten, darunter Frauen und Kinder, Zuflucht in dem seit fünf Jahren leer stehenden Hotel Captain Elias gefunden. Hunderte weitere campieren im Freien. Örtliche Bürgerinitiativen und die Organisation Ärzte ohne Grenzen versuchen, die Menschen so gut es geht zu betreuen.

Wenig Empathie 

Örtliche Hoteliers und Ladenbesitzer fürchten um ihre Geschäfte. Für Aufsehen – und Empörung – sorgte kürzlich die Reportage einer britischen Boulevardzeitung von der Insel Kos. Das Ferieneiland gleiche «einem einzigen Flüchtlingslager», der Urlaub dort sei «die Hölle», zitierte die Zeitung britische Touristen. Die Story liess wenig Empathie für das Schicksal der Flüchtlinge erkennen.

Nachdem die Migranten auf den Inseln erkennungsdienstlich erfasst und ihnen Fingerabdrücke abgenommen werden, erhalten sie in der Regel Papiere, die ihnen die Weiterreise auf das Festland ermöglichen. An Bord der Fährschiffe, die von den ostägäischen Inseln nach Piräus fahren, kommen täglich Hunderte Flüchtlinge in den Grossraum Athen. Hier verliert sich ihre Spur. Die meisten wollen nicht in Griechenland bleiben. Chancen auf Arbeit gibt es in dem Krisenland so gut wie gar nicht. Viele Flüchtlinge schlagen sich deshalb in die westgriechischen Hafenstädte Patras und Igoumenitsa durch – in der Hoffnung, mithilfe von Schleppern als blinde Passagiere mit einem Fährschiff nach Italien zu gelangen.

Nach einem Plan der EU-Kommission könnten bis zu 20’000 Flüchtlinge, die sich jetzt in Griechenland aufhalten, von EU-Nordstaaten aufgenommen werden. Das wäre eine Erleichterung – aber keine Lösung, gemessen an der Zahl von täglich bis zu 600 Neuankömmlingen.

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