Die Bemühungen um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei stehen an einem kritischen Punkt. Der Konflikt um Kobane und der zunehmend aggressive Kurs der PKK stellen den Friedensprozess auf eine schwere Probe. Ein Bericht aus der Südosttürkei von unserem Korrespondenten.
Eine Gebirgsstrasse in der Provinz Hakkari, wo die Türkei an den Iran und den Irak grenzt. Hinter einer Kurve stehen plötzlich sechs Männer auf der Fahrbahn. Sie tragen grüne Militärkleidung, sind maskiert und mit Kalaschnikow-Gewehren bewaffnet.
Einer der Männer, offenbar der Anführer, verlangt die Ausweise der drei Journalisten, die in einem Taxi unterwegs sind. Zwei andere Männer bauen sich mit ihren Gewehren vor dem Fahrzeug auf. Nach kurzer Prüfung der ausländischen Pässe und Presseausweise reicht der Kontrolleur die Papiere zurück, salutiert lässig und sagt: «Willkommen in Kurdistan!»
Die sechs Männer sind keine Strassenräuber. Sie gehören auch nicht zur türkischen Polizei, zur Armee oder zur Jandarma, der paramilitärischen Gendarmerie. Es sind Guerillakämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in nicht nur von der Türkei, sondern auch von der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird.
Die PKK übernimmt die Macht
Während die Regierung in Ankara auf inoffiziellen Kanälen mit der PKK über eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts verhandelt, demonstriert die Guerilla im überwiegend kurdisch besiedelten Südostanatolien ihre Stärke. Sie nutzt die seit März 2013 geltende Waffenruhe in vielen Regionen zu einer schleichenden Machtübernahme.
Diese manifestiert sich in Strassenkontrollen sowie der Schaffung «befreiter Zonen» und «autonomer Regionen», in denen die PKK eigene «Sicherheitskräfte» hat, «Volksgerichte» einsetzt und «Steuern» erhebt – ein anderes Wort für Schutzgelderpressung. Manche Beobachter sprechen bereits von «Strukturen eines Parallelstaates». Polizei und Jandarma halten sich auf Weisung aus Ankara offenbar zurück, um eine Eskalation zu vermeiden. Die PKK nutzt dieses Machtvakuum.
Polizei und Jandarma halten sich auf Weisung aus Ankara offenbar zurück, um eine Eskalation zu vermeiden. Die PKK nutzt dieses Machtvakuum.
Was bedeutet das für den Friedensprozess? Der heutige Präsident Recep Tayyip Erdogan hat ihn vor drei Jahren als Premier angestossen – gegen erhebliche Widerstände nationalistischer Kreise. Erdogan ging sogar so weit, über den Geheimdienst MIT den PKK-Führer Abdullah Öcalan, bis dahin in der Türkei «Staatsfeind Nummer 1», in die Verhandlungen einzubeziehen.
Öcalan verbüsst zwar seit 1999 eine lebenslange Haftstrafe, hat aber in der PKK immer noch grossen Einfluss und wird von der Mehrheit der Kurden als Idol verehrt. Öcalan ist eine Schlüsselfigur des Kurdenkonflikts. Das zeigte sich, als er im März 2013 die PKK zu einer Waffenruhe bewegte.
Konkrete Ergebnisse des Friedensprozesses fehlen bisher
Davon abgesehen hat der Friedensprozess aber bisher keine konkreten Ergebnisse erbracht. Jetzt scheint er sogar vor dem Scheitern zu stehen: Viele Kurden werfen Erdogan vor, er sehe dem Verteidigungskampf der syrischen Kurden in der vom «Islamischen Staat» belagerten Stadt Kobane untätig zu, er hoffe sogar auf eine Eroberung Kobanes durch die Islamisten, um so die Selbstverwaltungsbestrebungen der syrischen Kurden zu durchkreuzen. Der Kampf um Kobane führte vergangenen Monat in der türkischen Kurdenregion zu Unruhen, bei denen mehr als 40 Menschen starben.
Trotz der Spannungen wollen beide Seiten am Friedensprozess festhalten, so das Ergebnis eines Treffens von Politikern der pro-kurdischen Partei HDP mit dem türkischen Vizepremier Yalcin Akdogan, der für die Kurdenfrage zuständig ist, am Montag. Eine HDP-Delegation will in den nächsten Tagen PKK-Chef Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali besuchen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Öcalan mahnte in jüngster Zeit mehrfach, die Verhandlungen voranzutreiben – womit der mittlerweile 65-Jährige zweifellos auch die Hoffnung auf eine Begnadigung verbindet.
Die PKK hat ihre ursprüngliche Forderung nach einem eigenen Kurdenstaat schon vor Jahren fallengelassen.
Der verzweifelte Kampf der syrischen Kurden gegen den IS bringt die türkische Regierung in Zugzwang. Die PKK hat ihre ursprüngliche Forderung nach einem eigenen Kurdenstaat schon vor Jahren fallengelassen. Sie will eine Form der regionalen Selbstverwaltung, «wie sie beispielsweise die Basken und die Katalanen in Spanien haben», erläutert der HDP-Politiker Ertugrul Kürkcü im Gespräch. Der Friedensprozess kranke aber bisher daran, dass die türkische Regierung nie klar gesagt habe, wie sie sich eine politische Lösung vorstellt, kritisiert Kürkcü.
Tatsächlich belässt es Erdogan bisher bei vagen Ankündigungen und unverbindlichen Versprechen. Regionale Selbstverwaltung ist ein politisches Tabu in der streng zentralistischen Türkei. Nicht einmal die Forderung der Kurden, ihre Muttersprache an den staatlichen Schulen zuzulassen, hat Erdogan bisher erfüllt. Immer mehr Kurden haben das Gefühl, die Regierung halte sie mit den Verhandlungen lediglich hin. Das schürt die Wut der Menschen auf Ankara – und stärkt die PKK.
40 000 Menschen starben bisher im Kampf
Vizepremier Bülent Arinc musste bereits einräumen, die Guerilla beginne, «Städte unter ihre Kontrolle zu bringen». Innenminister Efkan Ala erklärte laut einem Bericht der Zeitung «Cumhuriyet» am Rande einer Tagung der Regierungspartei AKP, in Teilen des Südostens habe die Regierung die Hoheitsgewalt bereits an die PKK verloren.
Gefährlich ist diese Entwicklung, weil es in der PKK einen starken Flügel gibt, der ohnehin nichts von Verhandlungen hält, sondern auf den bewaffneten Kampf setzt. Das könnte den Kurdenkrieg, in dem seit 1984 bereits über 40 000 Menschen ihr Leben verloren, wieder aufflammen lassen. Der HDP-Politiker Ertugrul Kürkcü hofft dennoch, dass der Friedensprozess nicht auf der Strecke bleibt. Der Kurdenkonflikt habe eines gezeigt, so Kürkcü: «Krieg ist keine Lösung, denn in diesem Krieg gibt es nur Verlierer.»