Der Hauptmann und der grosse Krieg

Das Völkermorden in Europa, die Grabenkämpfe in der Schweiz: der Basler 1.-Weltkriegs-Hauptmann Victor Haller bekam alles mit. Ein Blick in seine Alben.

«Die Not war gross, die Wut auch»: Teuerungsdemonstration auf dem Basler Marktplatz im August 1917. (Bild: Universitätsbibliothek Basel)

Der 1. Weltkrieg riss auch in der Schweiz Gräben auf: zwischen Romandie und Deutschschweiz, zwischen Bürgertum und Arbeitern sowie Armee und Volk. Mittendrin stand der Basler Hauptmann Victor Haller, der in vier grossen Alben die Folgen des Krieges für die Region dokumentierte.

Dieser Krieg scheint vor allem für die Deutschen eine lustige Sache zu werden: Zuerst den Franzosen den Hintern versohlen, dann den Russen den Gewehrkolben über den Schädel ziehen, Motto: «Jeder Stoss ein Franzos, jeder Schuss ein Russ», immer weiter, bis ans Ziel. «Hurra, hurra, wie wird das fein! Wir gehen jetzt nach Frankreich rein und wenn wir in Paris erst liegen, wir mit Marianne Tango schieben!», reimt das deutsche Heer auf den Postkarten, die der Basler Artillerie-Hauptmann Victor Haller in seinem ersten Album gesammelt hat.

Hauptmann Victor Haller, ein Chronist des Krieges.

Hauptmann Victor Haller, ein Chronist des Krieges. (Bild: Universitätsbibliothek Basel)

Bis am Ende des Krieges werden es vier gewaltige Bücher, die Haller mit Fotos, Bekanntmachungen, Zeichnungen, Zeitungsartikeln und sonstigen Zeugnissen vollklebt (mehr dazu im Text nebenan). Von Haller selbst gibt es in den bisher noch unausgewerteten Alben nur ein einziges Foto, kaum grösser als eine Postmarke. Der Artilleriehauptmann war offensichtlich kein Selbstdarsteller, sondern ein feiner Beobachter, der sich zurücknahm und dafür umso mehr an den Vorgängen um ihn herum interessiert war. Das macht ihn zu einem grossartigen Chronisten, der, offen für alles, sammelt und sammelt, ohne Wertungen vorzunehmen.

Blick für die Nöte des einfachen Volkes

Der Weinhändler bekam so auch die Nöte des einfaches Volkes mit, obwohl er selbst in den besten Kreisen verkehrte und offensichtlich ganz gerne gut lebte; sonst hätte er in seinen Alben neben den Berichten über Lebensmittelknappheit und Rationierungsmassnahmen kaum die Speise- und Getränkekarten aus den vornehmen Restaurants eingeklebt, in denen er unter anderem mit General Ulrich Wille und anderen Grössen der Armee diniert hatte.

Überhaupt das Zusammensein mit den Kameraden und ganz generell das Militärische, scheinen Haller vor allem zu Beginn des Krieges fasziniert zu haben. Von den hohen Schweizer Militärs sammelte er jedenfalls Bilder, auf denen die Altherrenriege erhaben dargestellt ist, in dunklen Tönen und mit leicht entrücktem Blick. Es sind Darstellungen irgendwo zwischen alten Heldengemälden und den heutigen Panini-Bildern der Fussballheroen.

Selbstverständlich hat Haller auch eine ganze Reihe von Bildern und Berichten über ihn gesammelt: Ulrich Wille, den grenzsenilen General und grossen Deutschlandfreud, der den Fortgang des Krieges 1914 ähnlich einschätzte wie die Zeichner der kuriosen Karikaturen, auf denen der Deutsche seinen Feinden mal kurz eine Abreibung verpasst und Schluss ist. In der Romandie wurde Wille für seine Deutschtümelei gehasst. Anders in der Deutschschweiz, wo die vernehmbaren Stimmen in der Öffentlichkeit ebenfalls auf einen raschen Sieg Deutschlands setzten. Hier wurde Willes Berufung zum General vom 3. August 1914 bejubelt.

Basel im Ausnahmezustand

Gross war die Aufregung in den Tagen danach, vor allem in Basel, der Stadt, die so exponiert war wie keine andere im Land. Stellungspflichtige Deutsche marschierten singend und musizierend durch die Stadt und im Bahnhof stiegen Tausende von Ausländern in den Zug, der sie zurück ins Vaterland bringen sollte. Die einen nach einem abrupt abgebrochenen Urlaub, die anderen nach vielen Jahren in der Schweiz. Dann marschierte Anfang August auch noch die Schweizer Armee auf, die zwar nicht vorhatte, Basel im Ernstfall zu verteidigen, dafür umso mehr Präsenz markierte mit regelmässigen Aufmärschen an der Grenze und später auch in der Stadt. Von den Gefechten im Elsass war bald einmal ein Donnern und Blitzen zu vernehmen, das aus der Ferne fast wie ein 1.-August-Feuerwerk wirkte.

Schon diese ersten Tage vermittelten den Baslern aber auch eine erste Ahnung, welches Elend auf die Menschen in Europa noch zukommen könnte. Zu den ersten Kriegsopfern gehörten 20’000 Italiener, die aus Deutschland ausgewiesen wurden und – via Basel – in ihre alte Heimat reisten, die nicht mehr wirklich ihre Heimat war. Ihr Hab und Gut mussten sie grösstenteils in Deutschland zurücklassen, ihrer neuen Heimat, die sie nun ebenfalls verloren hatten.

In Basel harrten sie in grossen Gruppen oft tagelang ihrer Weiterreise, auf der Schützenwiese errichtete die Stadt ein provisorisches Lager für die Wartenden.

Die Italiener boten ein trauriges Bild – wie die Tausenden von weiteren Flüchtlingen, die in den Jahren danach die Schweiz erreichten. Mit jedem Kriegsjahr wurden es mehr. Bis Kriegsende waren fast 30’000 Flüchtlinge im Land. Unter den Deserteuren, Kriegsverweigerern und Pazifisten befanden sich auch zahlreiche russische Soldaten, die meisten von ihnen geflohene Kriegsgefangene der Zentralmächte Deutschland und Österreich-Ungarn. Rund 3000 suchten während des Krieges in der Schweiz Zuflucht. Davon zeugen auch in den Alben Hallers zahlreiche Fotografien und Berichte von aufgegriffenen Flüchtlingen.

«Zurück in die Heimat, die keine mehr war»: In den ersten Kriegstagen wurden Tausende von Italienern aus Deutschland ausgewiesen.

«Zurück in die Heimat, die keine mehr war»: In den ersten Kriegstagen wurden Tausende von Italienern aus Deutschland ausgewiesen. (Bild: Universitätsbibliothek Basel)

Alleine oder in Gruppen entkamen sie aus ihrer Gefangenschaft, häufig mussten sie für deutsche Landwirte arbeiten und legten weite Strecken zurück, orientierten sich an Bahngeleisen und überquerten Flüsse und Pässe. In der Schweiz angekommen, trafen die Geflohenen zu Beginn auf grosses Entgegenkommen. Die Behörden liessen ihnen die Wahl, ob sie unter Vermittlung der Botschaft zurückkehren oder in der Schweiz ihr Glück versuchen wollten.

Die Grenze bis in die Köpfe

Auch das hat Haller dokumentiert – genau gleich wie die Schliessung der Grenzen, die unseren Chronisten offensichtlich beeindruckt hat. Grenzübergang Lysbüchel, Grenzübergang Otterbach, Grenzübergang Riehen, Grenzübergang Weilstrasse, Grenzübergang Hegenheimerstrasse, Grenzübergang Grenzacherstrasse – alle geschlossen. Und alle verewigt in Hallers Album.

Die abgebildeten Kontrollstellen wirken dabei recht improvisiert mit ihren rasch zusammengezimmerten Bretterbuden und den teilweise noch handgeschriebenen Informationstafeln. Es ist erst der Anfang eines Kontrollsystems, das die Bürokratie in der Schweiz und im benachbarten Ausland in der Folge noch so weit perfektionieren sollte, bis die Grenze auch in den Köpfen der Menschen drin war.

Bis zum 1. Weltkrieg war das noch ganz anders. Damals wurde die gemeinsame Region Basel noch gelebt. Passkontrollen gab es keine, wer wollte, kam auch ohne Papiere in die Schweiz. Und das wollten einige, und sie waren damals noch willkommen als Arbeitskraft wie als neue Bürger. Mit einer Reihe von Massnahmen förderte die Basler Politik darum die sogenannte Assimilation, zu der auch eine erleichterte Einbürgerung gehörte.

Mit dieser Offenheit war im August 1914 auf einen Schlag Schluss. Auf der anderen Seite der Grenze lagen nun die Franzosen und Deutschen in ihren Stellungen, «zur Hälfte begraben und schon wie tot und dennoch weiterlebend», wie ein Schweizer Soldat in seinem Tagebuch festhielt.

«Bis die Grenze in den Köpfen drin war»: Anfangs waren die Zollkontrollen 1914 noch etwas improvisiert – anfangs.

«Bis die Grenze in den Köpfen drin war»: Anfangs waren die Zollkontrollen 1914 noch etwas improvisiert – anfangs. (Bild: Universitätsbibliothek Basel)

Gräben auch in der Schweiz

In Basel und der Schweiz wurde zwar nicht geschossen, doch auch hier zogen sich tiefe Gräben durchs Land. Frankophile gegen Deutsch-Fanatiker, Westschweiz gegen Deutschschweiz, das war nur einer der Gegensätze, der die Gesellschaft auseinandertrieb. Innerhalb des Militärs bekämpften sich oben und unten, mit klaren Vorteilen für Erstere, das Gleiche galt für Wirtschaft und Politik. Und im ganzen Land warfen die Städter den Bauern auf dem Land vor, an den Nachschubproblemen mitschuldig zu sein: Sie würden die Lebensmittel lieber dem eigenen Vieh verfuttern, als den hungernden Menschen in die Zentren zu liefern, solange sie auf diese Weise die Preise hochtreiben konnten.

Haller hatte ein feines Sensorium für all diese Gegensätze und er erfasste sie alle in seinen Alben. So klebte er nicht nur die offizielle Propaganda ein wie den Comic über «Soldat Stoffel», den Helden, der mit «mit frohem Sinn (…) zum Sammelplatze hin» geht, tagsüber im Dienst ein bisschen Wache schiebt, abends mit dem holden Weibe tanzt und sich dabei wie «Hans im Glück» fühlt. Nein, Haller klebte daneben auch Soldatenzeitungen ein, in denen die Vorgesetzten mit bitterbösem Spott ins Visier genommen wurden. Und die Zeitungsberichte des pointiert linken «Basler Vorwärts» über militärische Befehlshaber, die sich vorwerfen lassen mussten, ihre Soldaten systematisch zu schikanieren. Und selbstverständlich auch die Kritik an General Wille, der nach dem für ihn schier unvorstellbar langen Krieg einräumen musste, dass die Schweizer Armee im Ernstfall auf verlorenem Posten gestanden hätte, weil sie nur «behelfsmässig» vorbereitet war.

Die Not der Soldaten

Eigentlich ein dramatischer Befund für ein Heer – nicht aber für Wille. Ihm ging es weniger um die Ausrüstung als um die richtige Einstellung und die entsprechende «Erziehung» des Wehrmanns. Will heissen: straffes Exerzieren nach preussischem Vorbild. Das Ziel: unbedingter Gehorsam. Im Militär, in der Gesellschaft. Wille, das war der Anti-Modernist, der Anti-Individualist und damit auch der Anti-Demokrat. Die Soldaten hatten von seinen Methoden schon bald genug – nur nützte ihnen das nichts, weil Wille auch für die in der Truppe um sich greifende Kriegsmüdigkeit seine eigene Erklärung hatte: Den Männern fehle die richtige Einstellung. Sie brauchten noch mehr Erziehung.

Zur Schinderei hinzu kam die finanzielle Not. Die Soldaten bekamen damals noch keinen Lohnersatz, und wenn sie nach einem Dienst endlich wieder mal ein bisschen Geld hätten verdienen können, hatten sie häufig Mühe, eine Stelle zu finden. Die Arbeitgeber bevorzugten Angestellte, die nicht schon bald wieder weg waren, im nächsten Dienst. So gehörten viele Soldaten mit ihren Familie zur wachsenden Gruppe von Schweizern, die sich die immer teurer werdenden Lebensmittel und Wohnungen kaum mehr leisten konnten. In Basel schöpften die Volksküchen den Bedürftigen Tag für Tag Tausende von Suppen aus. Auch das hat Haller dokumentiert.

Gleichzeitig schrieben einige Unternehmen fette Gewinne – in der Basler chemischen Industrie zum Beispiel. Auf der Strasse weckte das die Wut, das einfache Volk fühlte sich benachteiligt und wandte sich mehr und mehr der Linken zu, die sich gegen Willes Armee stellte und eine gerechtere Gesellschaft versprach, vielleicht sogar eine Revolution. Bei den Basler Wahlen 1917 legen die Sozialdemokraten, ohnehin schon stärkste Partei, noch einmal zu – auf 42 Prozent der Stimmen. Der Protest wurde immer lauter und auch militanter, in der Politik, auf der Strasse. 1918 kam es zum Landesstreik, der bisher grössten innenpolitischen Krise im Schweizer Bundesstaat, auch das ist alles dokumentiert bei Haller.

General Wille schickt die Armee nach Basel

Wille passte diese Entwicklung gar nicht. Er drängt bereits 1916 auf den Einsatz der Armee gegen die ersten Demonstrationen. Im Hinblick auf den 3. September zum Beispiel, als Sozialdemokraten und Gewerkschaften in Basel und weiteren Städten Kundgebungen gegen Krieg und Militarismus durchführen wollten. Nachdem es kurz zuvor bereits in Zürich zu Demonstrationen gekommen war, wollte die Armeeleitung die geplanten Demonstrationszüge verhindern. General Wille reiste nach Basel, um den Regierungsrat von einem militärischen Eingreifen zu überzeugen. Dieser reagierte auf die Pläne des Generals aber mit Ablehnung und wollte den geplanten Umzug «geschehen lassen».

Einige Tage darauf erliess der Bundesrat ein Demonstrationsverbot und Wille drängte erneut auf einen Einsatz der Armee. Doch Basel-Stadt blieb hartnäckig und wollte nur die Polizei aufbieten. Davon zeugen als geheim klassifizierte Briefe zwischen Hauptmann Haller und dem Basler Platzkommandanten Arnold Büel. Haller schrieb in einem Telegramm vom 31. August 1916 an den in Engelberg weilenden Büel, der Regierungsrat wünsche, «dass so wenig wie möglich sich Militär in der Stadt zeige, jedoch solle dasselbe im Notfalle die Polizei unterstützen können».

Doch es kam anders. Aus der geplanten Kundgebung gegen Militarismus wurde eine Machtdemonstration der Armee. Zu Dutzenden marschierten die Truppen durch die Stadt und blockierten den öffentlichen Verkehr. Die damals sozialdemokratische Zeitung «Vorwärts» schrieb von einer «Ungeheuerlichkeit». Die Armeeleitung hatte sich gegen den Willen des Regierungsrates durchgesetzt. Dieser nahm in der ganzen Kriegszeit eine eher vorsichtige Haltung ein. Die Regierung gab sich alle Mühe, nicht zur Partei zu werden in all den Konflikten, sondern zu vermitteln, möglichst offen für alle Anliegen – ein bisschen so wie unser Chronist Victor Haller.

Die Angst vor dem inneren Feind

Es ist eine Haltung, die sich bewährte. 1917 und 1918 schauen Haller und seine Quellen zwar gebannt auf Europa, wo nach dem russischen Zarenreich, das deutsche Kaiserreich, die österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, das Osmanische Reich zusammenbrechen, wo in Russland (Oktober 1917) und Deutschland (November 1917) Revolutionen ausbrechen. Es sind gewaltige Erschütterungen, die in ihren Ausläufern auch in der neutralen Schweiz noch zu spüren sind. Das macht Angst und löst Abscheu aus – zumindest auf der einen Seite. Auf der anderen aber auch Hoffnung und Faszination.

Trotz diesem Hin und Her und den früheren Kontroversen um Militäreinsätze bei Demonstrationen können Haller und seine Quellen in der Schweiz und ganz speziell in Basel noch immer auf einen Ausgleich der Interessen und damit einen friedlichen Ausgang all der Grabenkämpfe hoffen. «Auf dem Wege des Räsonnements sollte es uns nicht schwerfallen, uns selbst zu überzeugen, dass für die Schweiz eine bolschewistische Gefahr nicht besteht», heisst es in einem Leitartikel der «National Zeitung», den Haller in seinem Album ablegte. Und weiter: «Der Bolschewismus ist ein Geschöpf Russlands, eine Reaktionsbewegung gegen den Zarismus und die Bürokratie. Er hat sich erhoben aus der Verzweiflung jenes sozialen Elends, das uns Gorki und Dostojewski mit erschütternden Worten schildern, er trägt in sich … den Hass früherer unterdrückter Revolutionen.»

Etwas anders wurde die Situation offenbar in der nationalen Politik eingeschätzt. Die Russen wurden zu einem «véritable danger nationale». Die Angst vor den russischen Flüchtlingen im eigenen Land und von der Überfremdung nahm zu, die Hilfsbereitschaft der ersten Kriegsjahre schlägt in Ablehnung um. Die Schweiz fasste die russischen Flüchtlinge in Arbeitsbrigaden zusammen und setzte sie beim Bau von Entwässerungsanlagen ein.

«Die Not war gross, die Wut auch»: Teuerungsdemonstration auf dem Basler Marktplatz im August 1917.

«Die Not war gross, die Wut auch»: Teuerungsdemonstration auf dem Basler Marktplatz im August 1917. (Bild: Universitätsbibliothek Basel)

Entschlossen wollten Landesregierung und Armeespitze auch gegen den Feind im Innern vorgehen, was dazu führte, dass das Schweizer Militär kurz vor der Demobilisierung doch noch wirklich aktiv wurde – in den Städten, im Einsatz gegen die aufgebrachten Arbeiter. Diese fühlten sich provoziert, die Massenproteste eskalierten. Resultat des Landesstreiks 1918: drei Tote Arbeiter, eine ganze Reihe abgeurteilter Arbeitervertreter und noch tiefere Gräben in der Schweizer Gesellschaft. Eher glimpflich ging die Auseinandersetzung dagegen in Basel aus, wo es der Regierung noch einmal gelang, die Armee und die immer stärker werdenden Scharfmacher im Lager der Bürgerlichen in die Schranken zu weisen.

Abenteurliche Thesen und eine interessante Feststellung

So endet die Zeit des 1. Weltkrieges zumindest für Haller doch noch gut. Auf den letzten Seiten seines vierten Bandes konnte er noch einmal eine letzte grosse Fotografie von Wille einkleben, hoch zu Ross, diesmal beim Abtritt als General.

Danach wurde gefeiert. Soldatenweihnacht. Ein Anlass, der einen «äusserst guten und schönen Verlauf» genommen habe und «stets in bester Erinnerung» bleiben werde, wie es im Brief des Basler Platzkommandos an Haller und seine Frau heisst (mit speziellem Dank an die  «Frau Hauptmann für die reichen Gabenspenden» und «die tatkräftige Mithilfe»). Mit diesem netten Schreiben beendet Haller seine Sammlung.

96 Jahre sind seither vergangen, 100 seit Kriegsbeginn. Und noch immer streiten die Forscher, wie es zum 1. Weltkrieg kommen konnte, wer schuld ist. Und noch immer gibt es immer wieder Versuche, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts neu zu deuten. In der «Weltwoche» durfte der niederländische Historiker und EU-Feind Thierry Baudet vor Kurzem schreiben, der 1. Weltkrieg sei genau gleich wie später auch der 2. Weltkrieg nicht auf Nationalismus zurückzuführen, sondern auf den Ehrgeiz, ein europäisches Reich zu gründen. Womit Hitler zum Vorkämpfer der EU wird. Und das «pannationale Pulverfass Österreich-Ungarn», das im Sommer 1914 hochging, eine «europäische Union avant la lettre».

In Basel ist man auch heute noch etwas vorsichtiger. Hier versucht man, die Geschichte erst einmal zu verstehen, nicht, sie umzudeuten, bis sie ins eigene Weltbild passt. Daraus ergeben sich möglicherweise nicht so abenteuerliche Aussagen wie bei Baudet, aber immerhin ein paar interessante Feststellungen wie beim Basler Lokalhistoriker Robert Labhardt, der sagt, gewisse Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg würden bis heute nachwirken. Das Schliessen der Grenzen zum Beispiel. Und damit das Ende des Austausches in den ursprünglich grenzüberschreitenden Regionen wie jene rund um Basel. Werten will er das nicht als Historiker, sondern nur als Privatmann. Er hoffe auf den Erfolg des europäischen Projektes, glaube aber nur an sein Gelingen, falls die «kleinräumigeren Systeme wie die Regionen» wieder eine «eigene Lebensfähigkeit» erhalten – wie damals, vor 1914 (mehr dazu im Interview Seite 12).

So kommt der zurückhaltende Labhardt trotz seiner Basler Bescheidenheit dann doch noch auf einen grossen Gedanken über den Verlust, den der 1. Weltkrieg heute noch bedeutet. Auch in der Schweiz und ganz speziell in Basel.

Exklusive Führung für TagesWoche-Leserinnen und Leser
Die vier Alben des Basler Hauptmanns Victor Haller sind in der Universitätsbibliothek (UB) archiviert. Vermutlich sind die Bücher nach seinem Tod dorthin gelangt, wann und wie genau, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Feststeht dagegen, dass Hallers Alben ein Teil der Ausstellung «Der 1. Weltkrieg in der Region Basel» in der UB sein werden, die vom 21. Juni bis zum 6. September dauert (Öffnungszeiten: Mo bis Sa 8.30 bis 20 Uhr, Eintritt frei). Vernissage ist am Freitag, 20. Juni, um 18.15 Uhr. Der TagesWoche hat die UB schon vorher einen interessanten Einblick in ihre Bestände gewährt. Danke! Unsere Leserinnen und Leser erhalten zudem die exklusive Gelegenheit einer rund einstündigen Führung: Historiker David Tréfás wird am Donnerstag, 3. Juli, und am Donnerstag, 28. August, die interessantesten Ausstellungsstücke jeweils ab 17.30 Uhr präsentieren und erklären. Danach gibt es einen Apéro. Die Teilnehmerzahl ist beschränkt. Anmeldungen können Sie an community@tageswoche.ch oder an TagesWoche, Gerbergasse 30, 4001 Basel, schicken.  In einer Serie werden wir den 1. Weltkrieg in der kommenden Woche weiter thematisieren. Schauen Sie rein – tageswoche.ch/1WK.

Nächster Artikel