Franziskus fordert Barmherzigkeit, fällt aber selbst scharfe Urteile. Anspruch und Wirklichkeit driften nicht nur beim Papst selber auseinander, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung.
Es passiert immer im Himmel, ausgerechnet dort. Jedesmal, wenn Papst Franziskus eine Auslandreise beendet, hält er auf dem Rückflug eine Pressekonferenz für die mitreisenden Journalisten ab. Diese Termine sind der eigentliche Höhepunkt der Visiten des Papstes. Seine undiplomatischen Antworten stellen die Fahrt selbst, in diesem Fall die Mexikoreise, regelmässig in den Schatten.
Der berühmteste Satz, den der 79 Jahre alte Papst aus Argentinien in schwindelerregenden Höhen äusserte, war auf Homosexuelle bezogen und lautete: «Wer bin ich, dass ich urteile?» Die Aussage gilt seither als das eigentliche Programm von Franziskus. Die Öffentlichkeit erkennt in ihm einen milden, aufgeschlossenen und auf überfällige Reformen drängenden Religionsführer.
Doch selten klafften öffentliche Wahrnehmung und Essenz eines Pontifikats so weit auseinander wie bei Franziskus. Dieser Papst, der die Barmherzigkeit ins Zentrum seiner Mission gestellt hat, fällt schärfste Urteile – nicht selten auch Fehlurteile.
«Dieser Mann ist kein Christ»
Denkwürdig ist in diesem Zusammenhang seine Einmischung in den US-Wahlkampf. Er mische sich nicht ein, sagte Franziskus auf dem Heimflug von Mexiko wörtlich, um sich selbst im nächsten Halbsatz Lügen zu strafen und über Donald Trump, den populistischen Rechtsaussen-Kandidaten der Republikaner den Stab zu brechen: «Ich sage nur, dass dieser Mann kein Christ ist.» Der in milde klingende Verklausulierungen verpackte Satz war von seltener Aggressivität, egal, was man von Trump halten mag.
Franziskus beeindruckt die Welt mit seiner Leutseligkeit. Seine Aussagen können hingegen von schneidender Gewalt sein. Zum echten Problem wird diese Haltung, wenn sich der urteilende Papst dabei auch noch krasse Fehlurteile erlaubt.
«Abtreibung bedeutet, jemanden umzubringen, um einen anderen zu retten. Das ist dasselbe, was die Mafia macht.»
Das in Südamerika verbreitete Zika-Virus gilt bekanntlich für Föten im Mutterleib als besonders gefährlich, weil es Missbildungen zur Folge haben kann. Als Franziskus gefragt wurde, ob Abtreibung oder Verhütung nicht ein «kleineres Übel» sein könnte, gab er zur Antwort, Abtreibung sei kein kleineres Übel, sondern ein Verbrechen: «Das bedeutet, jemanden umzubringen, um einen anderen zu retten. Das ist dasselbe, was die Mafia macht.»
Die Mafia unterhält bekanntlich ein System von Angst und Unterdrückung, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu befriedigen und greift dabei auch zur Gewalt. Mit Abtreibung in Notsituationen, auf die sich der Papst offensichtlich bezieht, hat dieses System nichts zu tun.
Scheinbare Öffnung
So unglaublich dieser Vergleich anmutet, so beeindruckend ist auch die Bereitschaft der Öffentlichkeit, derartige Äusserungen von Franziskus mit einem Schulterzucken hinzunehmen. Nicht der Mafia-Vergleich wird hervorgehoben, sondern eine scheinbare Öffnung des Papstes im Hinblick auf das Leib- und Magenthema westlicher Gesellschaften in Auseinandersetzung mit dem Vatikan. Nämlich die Frage, unter welchen Bedingungen Verhütung erlaubt sei oder nicht.
Dabei zeigt sich die selektive Wahrnehmung des Pontifikats. Entgleisungen wie der Mafia-Vergleich passen nicht in das verzerrte Bild, das von Franziskus gezeichnet wird. Man sieht diesem unkonventionellen Kirchenmann, der den Stempel des Reformpapstes hat, auch die Verteidigung von Klapsen für Kinder nach. Offenkundig sind auch seine Opposition gegen die Homo-Ehe oder seine Verurteilung der Gender-Theorie. Dennoch bleibt Franziskus in der öffentlichen Wahrnehmung der Papst des Wandels.
Massgeblich für seinen Erfolg oder Misserfolg wird sein, ob Franziskus mit der Reform der katholischen Kirche vorankommt. Auch dabei stehen dem Papst längst die von ihm selbst geweckten Erwartungen im Weg. Ob die römische Kurie ein wenig umstrukturiert wird, ist unerheblich. Auch in der zur Schicksalsfrage mutierten Debatte um die Zulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion wird es keine rasche Öffnung geben.
Barmherzigkeit ist das Schlagwort, mit dem Franziskus sein Pontifikat versehen hat. Seine jüngsten Entgleisungen erwecken vielmehr den Anschein realitätsferner Selbstgerechtigkeit.