Der Jagdtrieb ist Teil der Bündner Identität

Graubündens «freie Volksjagd» besiegelt tiefe Freundschaften – oder beendet diese abrupt. Sie wird sogar als Scheidungsgrund genannt.

Der Schreiner und Bergbauer Gion Giusep Candinas 1957 mit kapitaler Beute. Nach der Wiedereinwanderung des Rotwilds hatte er bereits 1942 den ersten Hirsch in der Val Sumvitg erlegt. (Bild: zVg)

Graubündens «freie Volksjagd» besiegelt tiefe Freundschaften – oder beendet diese abrupt. Sie wird sogar als Scheidungsgrund genannt.

Graubünden ist der grösste und manche sagen auch der beliebteste Schweizer Kanton. Seine kulturelle Vielfalt ist ein Wort in aller Munde, und man sieht sich hier oft und gern als Sonderfall. Zumindest in einer Hinsicht ist man es auch: Die Jagd ist ein öffentliches Thema wie nirgendwo sonst.

Von den über 30 000 Schweizer ­Jägern und Jägerinnen ist rund ein Fünftel in den Bündner Bergen unterwegs. Alljährlich im September verwaisen Schreibtische, Schalter und Werkplätze in grosser Zahl – ein beträchtlicher Teil des bündnerischen Wirtschafts- und Verwaltungslebens funktioniert nur noch im Sparmodus. Radio Rumantsch sendet drei Wochen lang täglich ein Spezial-Wunschkonzert für Jäger.

Tiefgreifender Kulturwandel

Die Bündner Jagd stiftet langjäh­rige Freundschaften und beendet sie mitunter abrupt. Sie wird gelegentlich als Scheidungsgrund genannt. Und nicht wenige ­Politiker verdanken ihr die Wahl oder Abwahl.

Gejagt wird in Graubünden wie in den anderen Gebirgskantonen nach dem Patentsystem. Will heissen: Wer die entsprechende Prüfung bestanden hat, seine Steuern bezahlt, nicht im Strafvollzug steht oder die öffentliche Sicherheit gefährdet hat, darf ein Jagdpatent lösen, damit im ganzen Kanton auf die Jagd gehen und sich die vorschriftsgemäss erlegte Beute aneignen.

Ganz anders die «Herrenjagd» der Deutschschweizer Mittellandkantone, wo präzis umgrenzte Reviere an Jagdgesellschaften verpachtet und von diesen exklusiv bejagt werden.
Noch bis vor 50, 60 Jahren war die Bündner Patentjagd ein Teil des bäuer­lichen Jahreslaufs, eine Art herbstliche Ernte und zusätzliche Möglichkeit, sich mit Fleisch zu versorgen. Gepirscht wurde in alten Militär­hosen, geschossen mit ausgemusterten Armeegewehren.

Heute liegen die Akzente völlig anders. Der Wandel hin zur Ferien- und Freizeitgesellschaft hat die Bündner Jagd umgekrempelt. Sie ist Teil der Hobby- und Freizeitindustrie geworden. Bündner Jäger sind fleissige Käufer von teuren Waffen und exklusiver Jagdoptik. Das freut die entsprechenden Branchen bis hin zu deutschen Munitionsfabriken, die spezielle Patronen im anderswo unüblichen Bündner ­Kaliber produzieren. Ein zeitgemäss hochgerüsteter Jäger kann ohne Weiteres Gerät im Wert von 20 000 und mehr Franken über Stock und Stein schleppen. Immer mehr Bündner betreiben auch Jagdtourismus im Ausland, also reine Trophäenjagd.

Die «Volksjagd» hat dem Bündner Wildbestand den Garaus gemacht.

Parallel dazu sind im Kanton Jagdhornbläsergruppen und Hubertusmessen aus dem Boden geschossen wie Pilze nach einem warmen Sommerregen. Etwas naiv haben Bündens moderne Nimrode ein Brauchtum ­höfisch-feudalen Ursprungs adoptiert, das mit der eigenen Geschichte eigentlich nichts am Hut hat.

Das Jagdprivileg des Adels verschwand im ­benachbarten Ausland erst Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Untergang des Ancien Régime. In «alt fry Rä­tien» aber war es schon 1526 ziemlich handgreiflich abgeschafft und durch die noch «freie Volksjagd» ersetzt worden. Diese Volksjagd, kombiniert mit der steten Perfektionierung der Schusswaffen, war dem Bündner Wild nicht zuträglich. Der Steinbock wurde schon in der zweiten Hälfte des 17. Jahr­hunderts ausgerottet. Um 1850 hatte man auch Hirsch und Reh aus der rätischen Wildbahn vertilgt, Gemse und Murmeltier zu küm­­mer­lichen Rest­beständen zusammengeschossen.

Gesetze, die die Jagd einschränken sollten, wurden zwar immer wieder erlassen, aber kaum vollzogen. Der ­Disentiser Benediktiner und Früh­alpinist Placidus a Spescha klagte 1805: «Es ist eine obrigkeitliche Verordnung ausgegangen und zu wiederholten Malen erneuert worden, dass von Martini an (11. November), wo die Brunstzeit gemeiniglich anfängt, bis Jacobi (25. Juli) keine Gemsen dürfen geschossen werden. Allein man achtet diese Verordnung nicht und die Polizey schläft dabei. Man schiesst, fängt und schlägt die wilden Thiere so viel und wo man kann.»
Propheten gelten bekanntlich nichts im eigenen Land. Der faunistische Vernichtungskrieg der Bündner wurde erst gestoppt, als Bundesbern ein Machtwort sprach. Grundlage waren die Bundesverfassung von 1874 und das 1875 erlassene erste Bundes­gesetz über die Jagd.

Befehl aus Bern

Graubünden musste 1877 mit einem kantonalen Jagdgesetz und der Einführung des Patentsystems nach­ziehen. Die Jagdzeiten wurden radikal eingeschränkt, der Abschuss von Mutter- und Jungtieren wurde verboten, die Wildhut straffer organisiert und gros­se Wildschutzgebiete wurden ausgeschieden.

Dabei zielte man allerdings nur auf die Hebung der Bestände der vier jagdlich interessanten Arten – Hirsch, Reh, Gemse und Steinbock. Bär, Wolf, Luchs, Fischotter, Adler und Bart­geier dagegen wurden weiter verfolgt und ausgerottet. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Erhaltung der Artenvielfalt in die eid­genössische und kantonale Jagd­gesetzgebung aufgenommen.

Mit dem Schutz von Luchs, Wolf und Bär haben nicht wenige Jäger aber nach wie vor ein Problem. Eine radikale, wenn auch schrumpfende Fraktion ist bis heute der Meinung, dass Homo sapiens L. der einzige Gross-Prädator in Graubündens Wildbahn bleiben sollte. Aus solch beschränkter Sicht hat es nur im Bündner Naturmuseum in Chur Platz für die Beutekonkurrenten. Dort linst Braunbär JJ3 seit 2009 mit Glasaugen ins Publikum und büsst dafür, dass er die Gefährlichkeit des Menschen unterschätzt hat.

Trotziger Konservativismus

Nur ein paar Gehminuten vom ­Naturmuseum entfernt amtet Bündens Jagdinspektor Doktor Georg Brosi mit einem kleinen Team von «Schreibtischjägern und Bürobio­logen». Deren ganzes Sinnen und Trachten zielt angeblich darauf, dem urigen Bündner Weidmann mit einem ständig dichteren Dschungel von Vorschriften die Pirsch zu vergällen.

Mehr noch als ihr Wild hegt und pflegt ein nicht unbedeutender Teil der Bündner Jägerschaft eine Art trotzigen Konservativismus. Man tut sich schwer mit neuen Erkenntnissen, besonders wenn sie in Form von ge­änderten Gesetzen und Verordnungen daherkommen. Poltern über «diese Herren in Chur» ist eine beliebte Stammtischdisziplin.

Dabei wird souverän ignoriert, dass Graubünden heute als moderne, nach wildbiologischen Erkenntnissen organisierte Patentjagd europaweit einen exzellenten Ruf geniesst – bei einmalig reichen Wildbeständen und Jahr für Jahr hohen Jagdstrecken. Als wichtige anatomische Voraussetzung für das Amt des Bündner Jagdinspektors muss also bei näherer Betrachtung weniger ein breiter Bürohintern gelten als vielmehr eine dicke Haut.

Poltern über die «Herren in Chur» ist ein beliebtes Stammtischritual.

Unter den vielen schreibenden Jägern sind die treffsicheren Belle­tri­sten rar. Die meisten Pirschgänge zwischen Buchdeckeln sind unter dem Aspekt ­literarischer Qualität unbedeutend bis ungeniessbar. Sie haben als Publikum die Weidgenossen und dürfen vom Rest der Welt getrost ignoriert werden.

Woran liegts? Bedeutsame Literatur sucht nach dem Hintersinn, nimmt sich die Dinge neu, überraschend, genauer vor. Im Schreiben von Jägern aber dominiert die Konvention, wird viel geprahlt, verkitscht, geschönt, verwedelt. Alle Jagd hat auch leidvolle und trübe Seiten, neigt zu atavi­stischen Männerritualen, Geltungsdrang und Schussneid sind treue Pirschkameraden.

Über all dies schweigen sich die meisten schreibenden Jäger aus. Das bekommt ihren Büchern nicht. Umso erfreulicher, dass mit Leo Tuors «Settembrini» vor Kurzem die kleine rätoromanische ­Literatur einen bemerkenswerten ­Roman zum Thema beigesteuert hat.

Wärmende Prosa

Tuors Protagonist hat viele kauzig-skurrile Züge. Ganz Konformist ist er aber, wenn er wie so viele Bündner ­Jäger, mit «Chur» seine liebe Mühe hat. An einem bitterkalten Jagdtag rezitiert dieser Settembrini im Schneetreiben hoch oben am Berg ein ­Gedicht, «um sich aufzuwärmen»: «Wer sind sie, die in Büros sitzen, den Bündner quälen mit Gesetzen, den Jäger mit Vorschriften plagen und ihren Bäuchen Sorge tragen? Wer ist da aus­ser Rand und Band? Es ist der Churer Herrenstand!»

So weit Leo Tuors Hauptfigur. An späterer Stelle im Buch knöpft sich der Autor dann einige der schon fast mythischen Gestalten aus der Geschichte der «freien Bündner Volksjagd» vor, samt ihren in die Hunderte, ja Tausende gehenden Abschüssen. Am berühmtesten wurde, dank literarischem Support durch den Zürcher Bestsellerautor J. C. Heer, der Enga­diner Gian Marchet Colani (1772–1837), der «König der Bernina». Er soll in seinem Jägerleben 2700 Gemsen erledigt haben. Angesichts solcher Massenerschies­sungen findet Autor Tuor, der sonst wie sein Settembrini eher zur Auf­müpfigkeit neigt, zu einer erstaunlich gouvernementalen Position und meint: «Dankt es, Jäger, dem Kanton, dass er diese Kanaille ausgerottet hat.»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13

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