Nach der Entmachtung ihres Präsidenten durch die Armee haben Ägyptens Islamisten zum Gegenschlag ausgeholt. Zu Zehntausenden gehen sie auf die Strasse und wollen dort bleiben, bis die Folgen des Putsches rückgängig gemacht sind.
Genau vor solchen Szenen hatten sich die Einwohner von Kairo seit Tagen gefürchtet: Strassenkämpfe zwischen Anhängern und Gegnern des gestürzten Präsidenten Mohammed Morsi mitten im belebten Stadtzentrum. Am Freitagabend war es soweit. Tausende Islamisten zogen in einem friedlichen Marsch von ihrem Protestplatz vor der Kairoer Universität Richtung staatliches Fernsehen, das nur einige Steinwürfe entfernt vom Tahrir-Platz liegt, eine provozierende Demonstration der Stärke. Auf der 6.-Oktober-Nilbrücke und ihren Zu- und Abfahrten kam es dann zu heftigen Strassenkämpfen mit Rebellen. Niemand kann sagen, wie die Gewalt ausgebrochen ist. Mit Steinen, Flaschen, Stöcken und Brandbomben gingen die rivalisierenden Gruppen aufeinander los. Es waren auch Schüsse zu hören.
Viele Tote
Erst als die Schlägereien abflauten und sich die Islamisten geordnet zurückzogen, liess sich die Armee blicken, die zuvor das ganze Geschehen nur mit ihren Helikoptern aus der Luft verfolgt hatte. In einer Art Triumphzug rollten mehrere Armeefahrzeuge über die Brücke, umringt und bejubelt von Rebellen. In Alexandria der zweitgrössten Stadt waren die Scharmützel ebenso blutig. An beiden Orten starben etwa ein Dutzend Menschen. Im ganzen Land wurden in dieser Nacht mindestens 30 Tote und mehrere Hundert Verletzte gezählt.
Als Reaktion haben am Samstag beide Seiten ihre Anhänger aufgerufen, sich wieder in grosser Zahl an Demonstrationen zu beteiligen. Friedlich, wie betont wird. Die Begründung ist identisch, es gehe darum, die Revolution zu verteidigen. Das sei noch lange nicht ausgestanden, hatte nach dem Eingreifen der Armee ein bekannter Aktivist getwittert.
Nach dem ersten Schock scheinen sich die Muslimbrüder wieder gefangen zu haben, auch wenn von Morsi in den letzten Tagen nichts mehr zu hören war. Er befindet sich wahrscheinlich unter Hausarrest in einem Club der Republikanischen Garden im Kairoer Stadtteil Nasr City. Ihm soll – wie einst seinem anlässlich der Revolution von 2011 gestürzten Vorgängers Hosni Mubarak – der Prozess gemacht werden. Die Anklagepunkte könnten ähnliche sein, zum Beispiel tödliche Schüsse auf Demonstranten, Korruption oder Beleidigung der Justiz. Gegen rund 300 Kadermitglieder der Muslimbruderschaft soll es Haftbefehle geben. Die Lage ist aber unübersichtlich. Am Freitag trat überraschend ihr oberster Führer Mohammed Badie in Nasr City vor Zehntausenden Anhängern auf und forderte sie mit feurigen Parolen zum Durchhalten auf. Wieder auf freiem Fuss sein soll auch der Vorsitzende der Partei der Muslimbrüder.
Anzeichen von Hexenjagd
Die Armee hat bereits mehrfach betont, dass es keine Hexenjagd und keine Racheakte geben dürfe. Dass diese Warnung berechtigt ist, zeigt zum Beispiel die Sprache von Zeitungskommentaren, wo etwa von Muslimbrüder-Kohorten die Rede ist. Jene Institutionen, die für die Unterdrückung der Islamisten im Mubarak-System zuständig waren, nämlich Innenministerium und Justiz, sind zudem unverändert intakt. Die Organisation der Muslimbrüder ist aber so strukturiert, dass sie auch ohne die oberste Führungsebene mobilisieren kann. 80 Jahre hatten sie weitgehend im Verborgenen gewirkt, sich eingraben müssen und dieser «Tunnelblick» zeigt sich auch heute oft in ihrer Unflexibilität.
Ihnen hat die Revolution zum ersten Mal die Freiheit gebracht, offen politisieren zu können. Diese Freiheit werden sie ebenso entschlossen und ausdauernd verteidigen, wie sie dafür gekämpft haben. Die Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten ist für die Muslimbrüder deshalb ein Militärputsch, die klare Missachtung des Wählerwillens.
Morsi sei zwar legal, aber nicht legitim gewesen, weil Legitimität vom Volk ausgehe, argumentiert die Gegenseite, die 30.-Juni-Front, die mir ihrer Initiative «Tamarod» – Rebellion – 22 Millionen Unterschriften für den Rücktritt Morsis gesammelt hatte. Das Volk habe ihn abgesetzt, weil das Land kurz vor dem Zusammenbruch gestanden sei, lautet deshalb die Definition von Amr Moussa, einem der Oppositionsführer. Als die Armee die Dynamik der Tamarod-Protestwelle erkannte, hatte sie sich auf ihre Seite geschlagen. Der politische Fahrplan, den sie am vergangen Mittwoch verkündet hat, ist eine Blaupause der Vorschläge, die die Opposition schon vor zwei Monaten gemacht hatte.
Putsch oder Volksaufstand?
Das Lehrbuch hilft in diesem Fall nicht weiter. Ägypten ist ein Land mitten im Umbruch. Das Eingreifen der Armee ist ohne Zweifel ein Rückschlag für die demokratische Entwicklung, ist aber letztlich die logische Folge eines Übergangsprozesses, der von Anfang an fehlerhaft und chaotisch war und schliesslich völlig aus dem Ruder gelaufen ist, weil es nie einen Grundkonsens gab. Schuld ist die starrköpfige Regierungsmehrheit der Islamisten genauso wie eine arrogante, zersplitterte Opposition, von der sich grosse Teile gewünscht hatten, dass die Muslimbrüder scheitern. Das Resultat ist ein Land, das mit jedem Tag näher an den Abgrund rutscht und unregierbarer wird.
Alle Augen sind jetzt auf den Armeechef, General Abdelfattah al-Sisi, gerichtet. Die Armee habe sich selbst in eine Ecke gedrängt, meinte schon nach ihrem Ultimatum ein Demonstrant auf dem Tahrir mit einem guten Gespür. Sisi hatte diese Rolle als starker Mann im Rampenlicht nicht gesucht. Er will die Rolle der Armee auf ihre eigentlichen Funktionen beschränken und sich nicht in die Politik einmischen. Die Armee hatte unter seiner Führung im vergangenen Jahr ihre ideale Position erreicht. Die Verfassung sah keine demokratische Kontrolle vor und liess ihren gigantischen Industriesektor unangetastet.
Weitere Imageschaden für die Armee
Image und Glaubwürdigkeit der Armee hatten nach der Revolution, als die Generäle in der Regierungsverantwortung waren, schwer gelitten und sie angreifbar gemacht. Deshalb sollen nach diesem Eingriff gleich von Anfang an zivile Institutionen die Verantwortung übernehmen. Mit dem Vorsitzenden des Verfassungsgerichtes Adli Mansur ist bereits ein Übergangspräsident vereidigt.
In wenigen Tagen soll eine Regierung von Technokraten ihre Arbeit aufnehmen und in etwa sechs Monaten ein neuer Präsident gewählt werden. Tatsache bleibt aber, dass die Armee ihre Neutralität aufgegeben und eindeutig Partei für eine Seite in dieser polarisierten Gesellschaft Stellung bezogen hat. Damit hat sie ihr Image ein zweites Mal beschädigt und sich etwa einen Drittel des Volkes zum Gegner gemacht. Ihr Eingreifen hat das Land nicht beruhigt, sondern die Spannungen weiter angeheizt. Die Szenen vom Freitag lassen darauf schliessen, dass Sisi nochmals über die Bücher muss, um eine Lösung zu suchen, die auf Konsens und nicht Konfrontation baut.