Der keltische Kater

Noch bis Ende Juni hat Irland die Ratspräsidentschaft der EU inne. Der ehemalige «keltische Tiger» hat die Wirtschafts- und Finanzkrise noch längst nicht überwunden – trotz des EU-Rettungsschirms.

Docklands Dublin: Rund um die glänzende Google-Fassade herrscht oft gähnende Leere – und Tristesse. (Bild: Getty Images)

Noch bis Ende Juni hat Irland die Ratspräsidentschaft der EU inne. Der ehemalige «keltische Tiger» hat die Wirtschafts- und Finanzkrise noch längst nicht überwunden – trotz des EU-Rettungsschirms.

Die Sonne spiegelt sich in den Glasfassaden der Bürogebäude, Baukräne verladen Stahlgerüste, Anzugträger huschen mit einem Coffee to go zur Arbeit. In den Dubliner Docklands brummt die Wirtschaft.

Taxifahrer Mark Uzell kennt die Gegend wie seine Westentasche. Der Mann mit dem Hafenarbeitertattoo auf dem Unterarm hat am Hanover Quay eine zweigeschossige Wohnung gemietet. «Vor sechs Jahren wurde das alles neu gemacht», erzählt Mark. Mit staatlichen Geldern wurde das einstige Arbeiterviertel am Hafen zu einem modernen Geschäftsviertel ausstaffiert.

Die Lage am Canal-Ufer hat ihren Preis. «Die Mieten steigen stetig an», sagt Mark. Für seine zweigeschossige Wohnung zahlt er 1400 Euro im Monat Miete. Dafür muss der Taxifahrer sieben Tage die Woche arbeiten. Mark hat das Gesicht eines Malochers. «Man bekommt nichts geschenkt», sagt der Familienvater und lehnt sich über das Eingangstor seiner acht Quadratmeter grossen Terrasse. «Die Salad Creation gegenüber hat nach nur zwei Tagen wieder dicht gemacht», sagt Mark und schüttelt den Kopf. Jetzt steht das Gebäude leer. Ein Nachfolger ist nicht in Sicht.

Immobilienkrise schwelt weiter

Ein paar Häuserblöcke weiter offenbart sich die Problematik drastisch: zerborstene Scheiben, heruntergekommene Fassaden, Bauruinen. An dem maroden Mauerwerk hängen Schilder mit der Aufschrift «to let», zu vermieten. Die Immobilienkrise ist noch nicht überwunden.

Der Häusermarkt befindet sich im fünften Jahr in Folge in der Rezession. Das Platzen der Immobilienblase stürzte Irland 2008 in eine schwere Wirtschafts- und Finanzkrise. Der Staat musste notleidende Banken mit 60 Milliarden Euro retten – und geriet selbst in arge Finanznöte. Irland musste das Rettungspaket der EU und des Internationalen Währungsfonds (IMF) mit harten Spar­auflagen akzeptieren.

Premierminister Enda Kenny verordnete dem Land eine Rosskur. Ab Juli wird die Regierung eine neue Grundbesitzsteuer einführen – ein äus­serst umstrittenes Projekt. Über 1,5 Millionen Eigentümer mussten sich beim Fiskus melden. Die Steuer soll rund 250 Millionen Euro in die Staatskasse spülen.

Finanzminister Michael Noonan benötigt jeden Cent. Die Staatsschulden sind auf über 120 Prozent des Bruttoinlandprodukts angeschwollen. Ende des Jahres laufen die Hilfskredite der internationalen Gläubiger aus, dann muss sich das Land wieder selbst auf den Kapitalmärkten refinanzieren. Seit 2011 wächst die Wirtschaft wieder, wenn auch in bescheidenem Masse. Die Start-ups, die in der New Economy wie Pilze aus dem Boden schossen, erholen sich langsam.

Angst vor Brüssel

Niall, ein Mittdreissiger mit Hornbrille und Rollkragenpulli, geht wie jeden Morgen um neun Uhr mit dem Laptop unterm Arm zur Arbeit. Er ist bei einer kleinen Softwarefirma in den Docklands angestellt. «Das Geschäft ist ­besser geworden», konstatiert der Informatiker. «Die Leute haben die Hilfs­programme der EU akzeptiert. Sie wollen aber ihre Identität bewahren und sind besorgt wegen der Kompetenzverlagerungen nach Brüssel.»

Bis Ende Juni hat Irland noch die Ratspräsidentschaft der EU inne. Die eigentliche Agenda – Stabilität und Wachstum – steht aber längst nicht mehr im Mittelpunkt. Im Zuge des G-8-Gipfels, der am 17. und 18. Juni im nordirischen Luxus-Golfresort Lough Erne stattfand, galt die Aufmerksamkeit den Offshore-Geschäften. Irland spielt dabei eine zwielichtige Rolle.

Irland ist «keine Steueroase», hat aber äusserst niedrige Steuern.

Hinter georgianischen Backsteinhäusern thront das Google-Headquarter in der Barrow Street, ein imposanter Glaskomplex auf schwarzen Pfeilern. Von hier aus lenkt der Konzern sein Europa- und Asiengeschäft. Auf der Homepage teilt der Konzern mit, man habe Dublin als Standort gewählt, weil es die «richtige Kombination hat aus Infrastruktur, zu entwickelndem Land und verfügbaren Arbeitskräften für das Datenzentrum.»

Die wahren Gründe liegen jedoch woanders. Google zahlt in Irland kaum Steuern. Von 2006 bis 2011 wies der Internetgigant in Grossbritannien nach einem Bericht der «Irish Times» einen Gewinn von 18 Milliarden Pfund aus, führte aber nur 12 Millionen Pfund an den Fiskus ab. Das entspräche einem Steuersatz von gerade mal 0,07 Prozent.

Mittels ausgefeilter Firmen- und Finanzkonstruktionen wie dem «Double Irish» soll der Grosskonzern seine Gewinne an nationalen Finanzämtern vorbeischleusen und nach Irland schaffen. Premierminister Enda Kenny betonte zwar, das Land sei «keine Steueroase». Doch mit 12,5 Prozent hat Irland nach wie vor den niedrigsten Unternehmenssteuersatz aller OECD-Staaten. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mahnte das Land, seine Steuerbasis zu verbreitern.

Agrarland am EU-Tropf

Die irische Fiskalpolitik ist ambivalent: Einerseits nutzen Konzerne wie Apple oder Google ­Steuerschlupflöcher. Andererseits schaffen die multinationalen Unternehmen Arbeitsplätze. Irland ist in hohem Masse von ausländischen ­Kapitalzuflüssen abhängig. Die Grüne Insel hat kaum Produktionskapazitäten, das Gros des Landes ist agrarisch geprägt.

Wenn man die Hauptstadt verlässt, sieht man endlose Rapsfelder und Wiesen, auf denen Schafe weiden. Die ländlichen Regionen werden mit einem Kohäsionsfonds von 100 Millionen Euro unterstützt. Die EU-Subventionen haben es erst möglich gemacht, dass Irland vom Armenhaus Europas zum «keltischen Tiger» aufstieg.

Gleichwohl: Die Krise macht auch vor der Provinz nicht halt. In Wexford, einem Küstenstädtchen an der Irischen See, hängt der Regen an diesem Tag wie ein nass-klammer Handschuh über den Dächern, das lieblose Ensemble ­alter Backsteinhäuser kauert einsam am Meerufer.

Fischer Raymond Shannon sortiert im «Meylers Fish Merchants» den Fang des Tages. Dorade, Forelle, Seebarsch. «Der Ertrag ist rückläufig», sagt der Mann mit der blau-weiss gestreiften Schürze. «Es wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Die Franzosen fischen uns die Meere leer.»

Streit wegen Überfischung

Die Fangnationen Frankreich und Irland tragen einen knallharten Streit um die gemeinsame Fischereipolitik der EU aus. Es geht um Quoten und Rechte, aber vor allem um viel Geld. Die Gewässer der Irischen See gehören zu den fischreichsten Europas. Die irische Fischereiflotte fuhr letztes Jahr einen Umsatz von 50 Millionen Euro ein. Obwohl die Fischerei 6,3 Prozent des irischen Bruttoinlandprodukts ausmacht, ist die Anzahl der Jobs seit 2008 um 18 Prozent gesunken.

Die Überfischung ist ein grosses Problem. Immerhin, sagt Fischer Raymond, könne man im Ort ein Vier-Sterne-Hotel beliefern. Wexford ist eine verwaiste Stadt. Läden sind verrammelt, Pubs haben geschlossen. An einer Bar prangt ein Aufkleber vom St. Patrick’s Day 2007. Es ist eine Weile her, dass hier der Tag gefeiert wurde.

Auch in Waterford, der ältesten Siedlung Irlands, ist der «Celtic Hangover» («Economist») spürbar. Das Kultur­budget der Stadt wurde zusammengestrichen. «Ich habe ein Drittel meines Gehalts eingebüsst», sagt Eamonn McEneaney, Kurator des Waterford Museum of Treasures. McEneaney – randlose Brille, grauer Anzug – ist ein hervorragend ausgebildeter Kulturschaffender. Er studierte am Trinity College und promovierte in mittelalterlicher Geschichte. Heute muss er mit ansehen, wie die Stadt allmählich ausstirbt. «Hier in Wexford haben wir eine Arbeitslosenquote zwischen 15 und 16 Prozent», sagt der Museumsdirektor. «Die jungen Leute ziehen weg.»

14 Prozent Arbeitslose

Landesweit liegt die Arbeitslosigkeit bei 14 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 35 Prozent. Im Mai dieses Jahres waren in Irland 426 900 Menschen arbeitslos gemeldet. Allein im Bausektor gibt es 100’000 Arbeitslose.

Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, hat die Regierung jetzt ein 6,4 Milliarden Euro teures Investi­tionsprogramm auf den Weg gebracht. Das Geld soll in Schulen, Kranken­häuser und Strassen fliessen. Der Ireland Strategic Investment Fund speist sich aus Sparreserven eines Pensionsfonds, sozusagen dem letzten Groschen.

Als eine «Alles-oder-nichts-Wette» bezeichnete die Tageszeitung «Irish Independent» die Massnahme. Offen ist, ob die Rechnung aufgeht. Ein altes irisches Sprichwort sagt: «If you do not sow in the spring you will not reap in the autumn.» Wenn du nicht im Frühjahr säst, wirst du im Herbst nicht ernten.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.06.13

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